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EIN KURZER FILM ZUM THEMA ARROGANZ
Also gut, ich sollte Sie warnen. Als Teenager war ich ganz bestimmt kein Engel.
Tut mir leid, ich konnte nichts dafür. Aber Sie wissen schon, was ich meine.
Ich war nicht älter als dreizehn, da reduzierte sich meine Welt auf eine kleine Tüte Klebstoff. Ich fand heraus, dass ich mit dem Zeug nicht nur Poster von Donny Osmond an die Wände kleistern, sondern mich auch von der schwermütigen Trauer, die sich seit Mamas Tod im Cottage breitgemacht hatte, befreien konnte. Ich ging noch nicht sehr lange zur örtlichen Schule, da wollte man mich auch schon wieder rausschmeißen. Papa kämpfte dagegen an. Und weil ich in englischer Literatur Klassenbeste war, ließen sie sich breitschlagen – unter der Voraussetzung, dass ich nicht mehr unentschuldigt fehlte und aufhörte, andere Kinder zum Schnüffeln anzustiften.
Einige Jahre schlich ich umher wie ein einsamer Wolf, schrieb nachts todtraurige Gedichte, um die Stille zu übertönen, hatte den falschen Umgang, sah Papa dabei zu, wie er den lieben langen Tag auf die Uhr am Kaminsims glotzte, die schon seit Ewigkeiten nicht mehr tickte. Dann, endlich, hatte er einen neuen Roman fertig. Ich las sein Manuskript und gab ihm ausführliches Feedback. Er amüsierte sich über meine etwas frühreife Art, Lücken in der Handlung und schwach gezeichnete Figuren aufzuspüren.
Er riss die alte Schreibmaschine von seinem Schreibtisch und knallte sie auf meine Frisierkommode. »Schreib«, sagte er. Und ich schrieb.
Zunächst jede Menge Blödsinn. Dann ein paar richtige Kurzgeschichten. Dann Liebesbriefe. An einen schlaksigen Typen namens Seth Boehmer. Der weder stehen noch still sitzen konnte. Er schmierte so viel Gel in seine schwarzen Haare, bis sie ihm halb über dem Gesicht klebten wie der Flügel einer toten Krähe. Er sah nur selten mal jemandem in die Augen und hatte die Hände immer viel zu tief in den Taschen vergraben. Aber ich war sechzehn, und er war zwanzig. Er war stets mürrisch und fuhr viel zu schnell. Wie hätte ich mich nicht in ihn verlieben sollen?
Ich sah Margot dabei zu, wie sie sich selbst eine Grube aushob und dann auch prompt hineinfiel, nein, sprang. Ich verdrehte alle naselang die Augen und führte Selbstgespräche. Ja, ich war zynisch. Aber ich hatte das alles ja bereits erlebt, und jetzt hätte ich am liebsten in einer Tour gekotzt. Seth war eine Art Meilenstein: Ich erkannte langsam, wie weit ich mich von Margots Sturzflug in die Selbstzerstörung entfernt hatte.
Jetzt war ich allerdings erst mal alles andere als entzückt. Ich kam mir vor, als würde ich eine richtig schlechte romantische Komödie sehen – so eine, bei der die gesamte Handlung von Anfang an vorhersehbar ist und man nur auf die entsprechenden Einsätze des Streichorchesters wartet. So gesehen war es sterbenslangweilig. Aber ich hatte Angst. Ich sah Dinge, die ich vorher nie wahrgenommen hatte. Ich meine keine spirituellen Dinge. Ich meine: Die Folgen meiner Erlebnisse im Kinderheim St.Anthonys. Obwohl wir getan hatten, was wir konnten, um zu verhindern, dass jene Folgen das Leben der St.-Anthony-Kinder zerstörten, stellten sich einige eben doch ein. Seth war eine davon.
Margot begegnete Seth zum ersten Mal bei ihrer besten Freundin Sophie. Seth war Sophies Cousin. Er hatte bereits früh seine Eltern verloren und darum viele Jahre im Haus von Sophies Eltern gelebt, sodass er heute – trotz des großen Hofes, den er von seinen Eltern geerbt hatte – seine Abende viel lieber im vor Katzen wimmelnden Bungalow seiner Tante und seines Onkels verbrachte als bei sich zu Hause. Und seit bei Sophie hin und wieder Freundinnen übernachteten, brachte Seth auch gleich sein Bettzeug mit.
Ein kurzer Film zum Thema Arroganz:
Eine Küche. Dämmerung. Es herrscht eine gruselig angehauchte Atmosphäre. Ein sechzehnjähriges Mädchen kommt die Treppe herunter. Sie durchsucht die Schränke nach Paracetamol – sie hat Menstruationsschmerzen und kann deswegen nicht schlafen. Die dunkle Gestalt, die am Küchentisch sitzt und liest und raucht, sieht sie gar nicht. Die Gestalt beobachtet sie eine Weile. Das Mädchen war ihr – ihm – vorher bereits aufgefallen, als Sophie und die anderen Gören sich schminkten und aufbrezelten. Sie war groß (ungefähr eins fünfundsiebzig) und sechzehnjährig-schlank (Kugelbäuchlein, schmale Schenkel), hatte dickes, strohblondes, hüftlanges Haar, volle rosa Lippen, einen koketten Blick. Und eine ziemlich anzügliche Lache. Er sieht ihr dabei zu, wie sie die Schränke durchsucht, bevor er auf sich aufmerksam macht.
»Bist du’n Einbrecher oder so was?«
Margot wirbelt herum und lässt dabei einige Schachteln Schmerztabletten fallen. Die Gestalt am Tisch lehnt sich nach vorn und winkt wie die Queen. Im Mondlicht kann sie erkennen, dass es Sophies Cousin ist. »Hey«, sagt er nur. Sie kichert.
»Hey«, erwidert sie verlegen. Viel zu verlegen für meinen Geschmack. »Was machst du denn hier unten?«
Statt zu antworten, klopft er mit der flachen Hand vor sich auf den Tisch. Gehorsam setzt sie sich ihm gegenüber. Er zieht sehr ausgiebig an seiner Kippe, um herauszufinden, wie viel Zeit sie ihm lässt. Wie kriegt er sie mit dem geringstmöglichen Aufwand in die Kiste? Sie macht es ihm wirklich leicht.
»Tja«, sagt er und kratzt sich mit dem Daumennagel die Koteletten. »Ich bin auf. Du bist auf. Meinst du nicht, wir könnten die Zeit sinnvoller verbringen, als hier rumzusitzen und den Mond anzuglotzen?«
Sie kichert wieder. Und dann, als er lächelt, höre ich mein eigenes Lachen in Teenagerausgabe. »Du meinst, wir sollen vielleicht einen Kuchen backen?«
Er schnickt die Kippe in die Küchenspüle, legt die Hände flach auf den Tisch, stützt das Kinn darauf ab und sieht mit lächelndem Hundeblick zu ihr auf. »Du bist doch ein kluges Mädchen, du weißt genau, was ich meine.«
Sie verdreht die Augen. »Hm, also, ich glaube nicht, dass Sophie es so toll fände, wenn ich mit ihrem Cousin schlafe.«
Er richtet sich auf und holt von hinter seinem Ohr eine weitere Zigarette hervor. Tut, als sei er beleidigt. »Wer hat denn davon geredet?«
»Ich bin ein kluges Mädchen, ich weiß schon, was du meintest.«
Kein Lächeln. Sie durchbohrt ihn mit ihrem Blick. Er reißt die Augen ganz weit auf. Sie ist noch ’ne ganze Ecke klüger, als er gedacht hatte.
»Kippe?«
»Gern.«
»Du, Margot?«
»Hm?«
Ich spreche die folgenden Worte stimmlos mit: »Was hältst du davon, wenn wir beide einen langen Spaziergang durch den Park machen?«
Margot inhaliert den Rauch und tut alles, um nicht zu husten. »Hier gibt es keine Parks.«
»Du bist doch ein kluges Mädchen, du weißt schon, was ich meine.«
Ich neige mich ihr zu und sage klar und deutlich: »Tu’s nicht.« Aber ich weiß, dass es vergeblich ist. Ich habe mir noch nie von irgendjemandem etwas sagen lassen – mit vierzig nicht und mit sechzehn ganz bestimmt auch nicht. Und Hindernisse haben mich auch noch nie von etwas abgebracht – sie forderten mich nur noch mehr heraus. Ich überlegte, was die beste Taktik sei. Das Einzige, was ich in dieser Situation tun konnte, war, Margot machen zu lassen, und wenn alles vorbei war, wenn sie all die schrecklichen Fehler begangen hatte, würde ich mein Bestes tun, um den Trümmerhaufen in etwas Schönes zu verwandeln. Wie zum Beispiel Weisheit.
Gut, ich habe nie Psychologie studiert. Habe nie Freud gelesen. Aber trotzdem wurde mir bei diesem zweiten Durchlauf meines Lebens eines ganz erstaunlich klar. Plötzlich fiel Licht in das Dunkel jener Entscheidung, die ich nie ganz verstehen konnte, die so weitreichende Konsequenzen für mich hatte und von der ich mich nie ganz erholen sollte.
Margot stand nämlich auf Gewalt.
So war es tatsächlich. Sie ertrug die Ohrfeigen und die Tritte, die Beleidigungen und die Lügen, weil sie wusste, dass die Küsse hinterher nur noch süßer schmeckten, dass seine Versprechungen und romantischen Gesten viel aufregender waren, wenn er sie vorher geschlagen hatte.
Einmal, als Seth mitten in der Nacht am Regenrohr zu Margots Zimmer hinaufgeklettert war und darauf bestand, dass sie ihm zu seinem Auto folgte, heftete ich mich ihnen nur ungern an die Fersen. Sie fuhren zu einer Bar in der nächstgrößeren Stadt, fünfzehn Kilometer entfernt. Aus dem Radio tönte lautstark Johnny Cash, und Seth brüllte:
»Ich liebe dich, Baby.«
»Ich liebe dich noch mehr, Seth.«
Seth drehte die Musik leiser. »Sicher?«
Margot nickt. »Jeps.«
»Würdest du für mich sterben, Margot?«
»Ja, natürlich!«
Pause.
»Würdest du für mich sterben, Seth?«
Er sieht sie an, ohne zu blinzeln. Seine Augen sind bleigrau. Er lächelt das Lächeln eines Brandstifters.
»Ich würde für dich töten, Margot.«
Ihr wird schwindelig. Ich rutsche nervös auf meinem Stuhl herum.
Weniger als eine Stunde später zerrt Seth sie aus der Bar und schleudert sie gegen eine Mauer. Er bohrt ihr fast den Zeigefinger ins Gesicht.
»Ich hab’s gesehen!«
Margot ringt nach Luft. »Was hast du gesehen?«
»Den Typen. Und wie du ihn angeguckt hast.«
»Stimmt doch gar nicht!«
»Lüg mich nicht an!«
Sie hält die Hände vors Gesicht. »Seth … Ich liebe doch nur dich.«
Er scheuert ihr eine. Ziemlich heftig. Dann küsst er sie. Ganz sanft.
Und sie? Sie genießt jeden Augenblick dieser miesen Seifenoper. Bizarr.
Ich beriet mich mit Grahams Schutzengel, als Margot unruhig in ihrem Zimmer auf und ab ging, die Finger verknotete, Selbstgespräche führte und überlegte, wie sie es Graham sagen sollte. Grahams Engel Bonnie – seine kleine Schwester – nickte und verschwand. Ich wollte gerade ihre fragwürdige Taktik (einfach verschwinden?) monieren, als sie wieder auftauchte. Sie hatte jemanden mitgebracht: Vor mir stand Irina, etwa dreißig Jahre verjüngt, gesund und klaren Blickes in einem langen weißen Kleid. Allerdings floss ihr kein Wasser über den Rücken. Sie sah zu mir herüber, streckte die Hand aus und streichelte mein Gesicht. Ich schlug die Hände vor den Mund und konnte die Tränen kaum zurückhalten. »Mama«, flüsterte ich, und sie zog mich eng an sich. Sie löste die Umarmung erst nach einer ganzen Weile, dann nahm sie mein Gesicht in ihre Hände.
»Wie ist es dir ergangen, mein Schatz?«, fragte sie.
Ein in mir aufsteigender regelrechter Tsunami von Tränen machte es mir fast unmöglich, ihr zu antworten. Ich wollte ihr so vieles sagen, sie so vieles fragen.
»Ich vermisse dich so«, war das Einzige, was ich hervorbrachte.
»Ach, Liebes«, sagte sie. »Ich vermisse dich auch. Aber weißt du was? Es wird alles gut. Ich bin gar nicht so weit weg, versprochen.« Sie sah zu Graham hinüber. Ich wusste, dass sie gekommen war, um mit ihm zusammen zu sein. »Wie lange kannst du bleiben?«, fragte ich schnell. Sie sah zu Bonnie. »Nicht lange. Geister können nur zu Besuch kommen, wenn Not am Mann ist. Aber wir werden uns bald wiedersehen.« Sie wischte mir die Tränen von den Wangen, dann führte sie meine Hände zu ihrem Mund und küsste sie.
»Ich liebe dich«, flüsterte ich, und sie lächelte, bevor sie sich neben den schnarchenden Graham aufs Sofa setzte und ihm den Kopf auf die Brust legte.
Ich rannte nach oben in Margots Zimmer. Sie stand vor dem Spiegel und übte offenbar lautlos eine Rede.
Ich konnte mich nicht beherrschen. »Margot!«, keuchte ich. »Mama ist unten, schnell!«
Sie ignorierte mich und übte weiter ihre kleine Rede. Eine Rede, an die ich mich sehr gut erinnerte.
Ich weiß, dass du sehr enttäuscht von mir bist, und ich weiß, dass Mama es auch wäre … Ihre Augen füllten sich mit Tränen … aber wie Lady Macbeth schon sagte, was geschehen ist, kann man nicht ungeschehen machen. Ich habe viel darüber nachgedacht und beschlossen, das Kind zu bekommen. Ich überlasse es ganz dir, ob du mich jetzt rausschmeißt oder nicht.
Ich hatte das Baby gesehen, als es gerade erst entstanden war, hatte beobachtet, wie es herumwirbelte und wuchs und sich schließlich einbettete, wie ein Diamant auf einem roten Kissen. Sein winziges Herz puckerte. Ein kleiner Junge. Mein Sohn.
Margot beendete ihren Monolog und betrachtete sich noch eine Weile im Spiegel, wo unsere Gesichter kurzfristig verschmolzen. Wir waren Zwillinge aus unterschiedlichen Welten – dem Diesseits und dem Jenseits. Lediglich der Ausdruck in unseren Augen war unterschiedlich. Margots Blick war der eines Menschen, der vor einer Brücke steht, die über eine tiefe Schlucht führt. Mein Blick war der eines Menschen, der diese Brücke bereits überquert hat.
Sie ging ganz langsam nach unten.
»Papa?«
Er schnarchte immer noch. Sie versuchte es noch einmal. Irina stupste ihn sachte an. Er wachte auf. Sofort bekam Margot Angst. Sie hatte gehofft, dass er weiterschlafen würde und sie erst noch mal davonkäme. Er schnellte hoch und sah sich um. Er bemerkte Margots Gesichtsausdruck.
»Ist alles in Ordnung? Was ist passiert?« Er setzte sich ordentlich hin und suchte in seinen Haaren nach seiner Brille.
Margot beruhigte ihn sofort: »Nichts, Papa, gar nichts.« Haha.
»Komm, setz dich doch«, forderte er sie müde auf. Margot setzte sich, ohne ihn anzusehen. Sie weinte jetzt schon.
Graham schlurfte in die Küche. »Du bist kreidebleich. Geht’s dir nicht gut? Komm, ich mache uns einen Tee. Schrecklich, wieso habe ich denn so lange geschlafen? Ich habe von deiner Mama geträumt …«
»Wirklich?« Margot liefen Tränen über die Wangen.
Er rief ihr von der Küche aus zu: »Sie hat mir gesagt, dass ich mich besser um dich kümmern soll. Was sagst du dazu?«
Margot sagte nichts. Stattdessen krallte sie die Fingernägel in die Oberschenkel, um nicht zu schreien. Irina bewegte sich auf sie zu und schlang die Arme um ihre Taille.
Als Graham wieder ins Wohnzimmer kam, sah er ihr Gesicht, stellte das Tablett ab, nahm ihre Hände und fragte ganz sachte:»Was ist denn los, Liebes?«
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Ich stand neben ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Ich glaube, ich bin schwanger, Papa.«
Ich wandte den Blick ab. Ich konnte und wollte kein zweites Mal mit ansehen, wie Papa binnen Sekunden um Jahre alterte und sich in seiner Miene schlagartig tiefster Kummer spiegelte.
Und dann sah ich doch hin, und als ich den Ausdruck in seinem Gesicht erkannte, wurde mir klar, dass es nicht Kummer oder Enttäuschung oder Wut war, was sich dort abzeichnete. Und auf jeden Fall nichts, was sich gegen Margot richtete.
Es war sein eigenes Versagen.
In seinem Ausdruck sah ich Irinas und sein Kind verewigt, jenes Kind, das sie nicht hatten haben wollen. »Sachte, sachte«, flüsterte Irina ihm zu. »Das Kind braucht jemanden, der es berät, nicht jemanden, der es verurteilt.«
Er beugte sich langsam ganz weit zu ihr herunter, so weit, dass sie die Trauer in seinem Blick sehen konnte.
»Ganz gleich, wofür du dich entscheidest, Margot, du musst es dir sehr gut überlegen. Und dabei darfst du nicht nur an das Hier und Jetzt denken – vielmehr musst du dabei in erster Linie an die Zukunft denken.«
Er ließ sich neben sie aufs Sofa plumpsen und hielt ihre kalten, zitternden Hände. »Liebt er dich?«
»Wer?«
»Der Vater.«
»Ja. Nein. Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, die Tränen tropften ihr von den Lippen in den Schoß.
»Denn wenn er dich liebt, dann habt ihr eine Chance. Wenn er dich nicht liebt, musst du vor allem an deine eigene Zukunft denken.«
Wieso schrie er sie denn jetzt nicht an und schmiss sie raus? Seine ruhige, besonnene Art verwirrte sie nur noch mehr. Wieder legte ich die Hand auf ihren Kopf. Ihr rasender Herzschlag beruhigte sich. Nach einer Weile sagte sie:
»Ich muss herausfinden, ob er mich liebt.«
Graham nickte. »Das wird das Beste sein.« Er sah zu dem Bild von Irina auf dem Kaminsims. Im selben Moment lächelte Irina mich an und verschwand dann dorthin, woher auch immer sie gekommen war. »Wo Liebe ist, ist auch ein Weg.«
Ich erinnerte mich, dass ich die Antwort bereits wusste. Und die Lösung kannte ich auch schon. Aber ich wollte doch so gerne, dass jemand anderes es mir sagte und mir bestätigte, dass ich kein schlechter Mensch war, nur weil ich es loswerden wollte.
Bitte verstehen Sie das: Margots Gedanken fühlten sich an wie Peitschenhiebe auf meinem Rücken. Das heißt, vor allem die jugendliche Ignoranz dessen, was ihr durch den Kopf ging. Nicht ein einziges Mal bedachte sie bei all dem, dass es sich um ein menschliches Wesen handelte – um einen Säugling. Sie betrachtete diese Schwangerschaft als einen Maulwurfshügel in ihrem Leben, den sie plattmachen musste. Mann, bin ich blöd, dachte sie, und ich dachte an Margot als Baby, wie sie geboren und dann verlassen wurde, wie mein Wunsch, sie möge überleben, immer stärker und schließlich unstillbar wurde. Wie soll ich mich denn bitte um ein Baby kümmern? Und wieso sollte ich das überhaupt wollen?, dachte sie. Und ich dachte, von Schuldgefühlen geplagt, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn Margot gestorben wäre, wenn ich gar nicht gelebt hätte. Margot dachte noch so einiges mehr – düstere Gedanken, die ich lieber nicht zu Papier bringen möchte.
Sie machte eine Klinik in London ausfindig, die für glatte zweihundert Pfund die Abtreibung vornehmen würde. Sie erzählte Graham davon, der einfach nur nickte, sagte, dass er ihr das Geld dafür geben würde, sie aber sehr tapfer sein müsse, weil der Eingriff verdammt wehtat.
Erst eine Woche später erzählte sie Seth davon. Seine Kinnlade klappte herunter, dann wandte er den Blick ab und lief im Zimmer auf und ab. »Seth?«, sagte sie schließlich. Er wandte sich ihr zu, sah sie direkt an. Sein breites Lächeln, seine strahlenden Augen ließen Zweifel in ihr aufkommen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sich freuen würde. Vielleicht war die Schwangerschaft ein Glücksfall. Vielleicht würden sie zusammenbleiben. Vielleicht sollte sie das Kind doch behalten.
Ich wusste, was als Nächstes kommen würde. Als handele es sich um die Schritte bei einem Walzer. Ich fing den größten Schwung seines Schlages ab. Trotzdem verlor Margot das Gleichgewicht. Sie stützte sich an der Rückenlehne eines Sessels ab und drehte sich dann benommen und kurzatmig wieder zu ihm um.
»Seth!?«
Und dann erklang eine Stimme aus meinen Flügeln, die durch sämtliche Kammern meiner Seele hallte. Lass los. Ich schritt ein, um seine nächsten Schläge abzufangen, befand mich aber unversehens auf der anderen Seite einer Mauer. Von dort konnte ich jeden Fausthieb hören, jeden Fußtritt. Ich schrie auf der einen Seite der Mauer und Margot auf der anderen. Mit Fäusten hämmerte ich gegen die kalten Steine.
Ich sah mich kurz um und stellte fest, dass ich mich in Seths Garten befand, mitten im Unkraut. Die Sonne ging unter.
Dann spürte ich einen Arm um meinen Rücken. Ich sah auf. Solomon, Seths Schutzengel. Wir waren uns vorher einmal ganz kurz begegnet. Er streckte mir die Hand entgegen, wollte mich trösten.
»Lass mich bloß in Ruhe«, schnauzte ich ihn an. »Oder hilf mir, wieder da reinzukommen.«
Er schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht«, sagte er. »Das weißt du doch.«
»Warum sind wir hier draußen?«, schrie ich.
Solomon sah mich durchdringend an. »Manche Dinge sind nun mal vorbestimmt«, flüsterte er. »Und andere nicht. Dort, wo Menschen Entscheidungen treffen, sind wir machtlos.« Ein weiterer Schrei aus dem Haus, dann eine Tür, die ins Schloss fällt. Stille. Solomon sah zur Hausmauer. »Du kannst jetzt wieder reingehen. Seth ist weg«, sagte er sanft, und ich marschierte auf die Mauer zu und war mit einem Mal wieder mit Margot im Schlafzimmer.
Sie lag auf dem Boden und schnappte nach Luft. Ihre Haare waren ganz durcheinander, tränennass und blutverklebt. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Unterleib, so heftig, dass sie sich abrupt aufsetzte und vor Schmerzen schrie. Sie rang nach Luft. »Langsam und tief atmen, Margot. Langsam und tief«, redete ich ihr zu, doch meine Stimme brach, da ich selbst weinen musste. Panisch sah sie sich um, da sie fürchtete, Seth könne zurückkommen. Gleichzeitig sehnte sie sich danach, von ihm getröstet zu werden.
Ich beugte mich zu ihr herunter, um zu reparieren, was nicht zu reparieren war. Der Diamant war weg. Das rote Kissen löste sich auf und verteilte seine dicken roten Fäden auf dem Fußboden.
Ich ging los, um Hilfe zu holen, und konnte eine Nachbarin dazu bewegen, bei Seth anzuklopfen. Als keiner aufmachte, ging sie ins Haus, um sich zu vergewissern, dass mit Seth alles in Ordnung war. Als sie Margot auf dem Boden fand, rief sie einen Krankenwagen.
Margot hatte Schwierigkeiten, damit fertigzuwerden. Sie beschloss, wegzuziehen – so weit weg von Seth, wie es nur irgend ging. Sie schubste Grahams Tischglobus an, schloss die Augen und streckte den Zeigefinger aus. Ich war es, die den Globus anhielt und ihren Finger auf den Ort zeigen ließ, der mir der beste schien:
New York. Die Stadt, die niemals schläft.