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SHEREN UND DIE GRUFT
Ich möchte hier ein für alle Mal loswerden, was ich über dieses Kinderheim noch weiß, das ich von kurz vor meinem vierten Geburtstag bis zum Alter von zwölf Jahren, neun Monaten und sechzehn Tagen ertragen musste.
Zunächst einmal sollte ich erwähnen, dass ich den Großteil meines Erwachsenenlebens damit verbracht habe, jenen tiefen Schmerz, den das Heim in meinem Inneren verursacht hatte, mithilfe von Alkohol zu betäuben. Das ist keine Entschuldigung. Aber jetzt, wo ich die Umstände sehe, unter denen ich dorthin kam – nachdem ich erfahren hatte, was es bedeutet, geliebt zu werden, nachdem ich die Wärme und Geborgenheit bei den Edwards erlebt und ein eigenes Zimmer gehabt hatte, das so groß war wie ein Schlafsaal für zwölf in diesem Heim, nachdem eine große Schwester mich verhätschelt hatte, bevor eine ganze Gruppe von älteren Kindern mein Selbstwertgefühl jeden Tag und jede Nacht mit Füßen trat – jetzt kann ich verstehen, wieso der Schmerz so lange anhielt und ich den Knoten nicht lösen konnte, noch weit über die Zeit dieser Heimunterbringung hinaus. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich noch länger bei Sally und Padraig geblieben wäre, denn dann wäre wirklich jegliche Hoffnung auf ein bisschen Liebe in mir endgültig erloschen, und St.Anthonys wäre nicht ein solcher Schock für mich gewesen.
Als ich ein Kind war, wirkte die ganze Anlage riesengroß auf mich. Auch in meiner Erinnerung ist sie das. Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein war das Gebäude als Krankenhaus genutzt worden, danach als Armenhaus, bis es – offiziell – ein Waisenhaus wurde. Aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich an fratzenhafte Wasserspeier an jeder Ecke des schmutzig grauen Gebäudes. Aber es waren gar keine da. Das Eingangsportal befand sich hinter mehreren Säulen und zwei mörderischen Stufen. Es waren zwei Türklopfer aus Messing daran – ein hoch angebrachter für Erwachsene, ein niedrig angebrachter für Kinder –, und ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich an die Tür pochte: Der Messingklopfer war so dick, dass ich ihn mit meiner kleinen Hand gar nicht ganz umfassen konnte. Die fünfundzwanzig Räume wirkten gigantisch auf mich, wie auch die alten hölzernen Pulte und die Schlafsäle. Nirgendwo lag auch nur ein Fitzelchen Teppich. In den Schlafsälen gab es keine Heizkörper. Warmes Wasser gab es nicht, jedenfalls nicht in den Gemeinschaftstoiletten. Die einzigen Bilder, die an der Wand hingen, waren die von Menschen, die in diesem Heim gearbeitet hatten – sepiabraune Aufnahmen mürrisch dreinblickender Heimleiterinnen und Heimleiter, die den Großteil der Kinder, die das Pech hatten, hier zu landen, windelweich geprügelt hatten.
Als ich nun wieder vor diesem alten Gemäuer stand, wurde mir deutlich bewusst, dass ich mich in der Vergangenheit bewegte. Ich hatte die Sechzigerjahre wirklich genossen – in Kyles weißem Citroën DS 19 zu fahren war ein absoluter Traum gewesen, und ich war total hingerissen von Lous Schlaghosen und Karinas Sammlung von Beatles-Schallplatten. Aber St.Anthonys musste so um das Jahr 1066 in ein Raum-Zeit-Kontinuum geraten sein, aus dem es seither nicht herausgekommen war. Es gibt viele Orte auf der Welt, an denen man nicht akzeptieren will, dass die Zeit fortschreitet. Und es gibt auch viele Menschen, die das nicht wollen – Hilda Marx war ein solcher Mensch.
Miss Marx oblag die Leitung des Kinderheims St. Anthonys. Sie stammte aus Glasgow und war mit schwammigen Wangen und einem Unterbiss gestraft, weshalb sie unglücklicherweise an eine Kröte erinnerte. Hilda Marx war von einer Gesinnung, neben der selbst Gestapo-Mitarbeiter die reinsten Waisenknaben waren. Wenn ein Kind weinte, setzte es vier Hiebe; wenn es widersprach, zehn. Kinder zwischen zwei und fünfzehn Jahren mussten spätestens um sechs Uhr morgens aufgestanden sein und spätestens um neun Uhr abends im Bett liegen. Nur eine Minute Verspätung bedeutete einen ganzen Tag ohne Essen. Die Hiebe wurden mit einem schmalen Stock für die Kleinkinder oder mit einer Lederpeitsche für Kinder ab fünf Jahren ausgeteilt. Wobei ich die Bekanntschaft der Lederpeitsche schon lange vor meinem fünften Geburtstag machte.
Margot stand im Regen und sah Lou und Kate davonfahren. Keine von beiden drehte sich nach ihr um. Noch lange, nachdem das Auto verschwunden war, stand Margot da, den Teddy weiter unter den Arm geklemmt, durchnässt vom Regen. Vor lauter Verletzung und Verwirrung zitterte sie am ganzen Körper. Frühreif und intelligent, wie sie war, hatte sie bereits begriffen, dass das hier endgültig war. Glauben Sie mir – es ist erschreckend, ein so kleines Kind mit einer solch niederschmetternden Erkenntnis zu sehen.
Ich ließ den Blick über den Horizont schweifen. Außer einem kleinen, ärmlichen Dorf waren meilenweit nur Felder zu sehen. Ich sah mich nach einer Möglichkeit um, Margot am Betreten des kalten Gemäuers zu hindern. Näherte sich vielleicht von irgendwo ein Auto, das ich anhalten könnte, mit einer netten Familie darin, der eine Dreijährige am Straßenrand auffallen, die anhalten und sie mitnehmen würde? Was war mit den Dorfbewohnern? Ich sah ihre Gesichter vor meinem inneren Auge: Die meisten waren alte Bauern, daneben ein paar misshandelte Ehefrauen. Nichts Passendes dabei. Fünfzig Kilometer entfernt lag die nächstgrößere Stadt. Das könnten wir versuchen. Ich berührte Margot an der Schulter und bat sie, mir zu folgen. Ich schob sie ein wenig an. Aber sie bewegte sich keinen Millimeter. Ich lief zum Einfahrtstor und schrie ihren Namen, bis ich heiser war. Sie rührte sich nicht. Und ich konnte ohne sie nicht gehen. Schicksal? Vergessen Sie’s. Menschliche Entscheidungen. Margot hatte eine getroffen, ohne sie zu begreifen und ihre Konsequenzen zu verstehen.
Nur widerwillig ging ich zu ihr zurück. Ich kauerte mich neben sie, legte den Arm um sie und versuchte, ihr alles zu erklären. Ich versuchte, es so zu verpacken, dass ich als Dreijährige es auch verstehen konnte.
Weiß du was, Margot? Du bist clever, du bist zäh. Ohne sie wird es dir viel besser gehen. Lou versprüht ungefähr so viel Mutterliebe wie ein weißer Hai. Kate ist der Antichrist. Ich bin bei dir, Kleines. Du wirst etwas länger, als dir lieb ist, hinter diesen Mauern verbringen. Aber weißt du was? Ich werde dich nicht alleinlassen. Ich bin auf deiner Seite. Du wirst hier einigen üblen Gestalten begegnen, daran gibt es leider nichts zu rütteln. Aber solche Leute gibt es überall. Vielleicht ist es sogar besser, wenn du solche Typen schon so früh in deinem Leben triffst. Glaub mir, je früher du lernst, dich von diesen Idioten nicht einschüchtern zu lassen, desto besser. Alles wird gut. Also, hab keine Angst. Nicht weinen. Na gut. Wein schon. Raus damit. Und das war’s dann. Keine einzige Träne mehr, bis du das hier alles hinter dir lässt. Tränen kannst du dir nicht leisten.
Sie ließ mich ausreden, dann rannte sie auf das Portal zu, packte den Kindertürklopfer und klopfte so fest an, wie sie konnte. Minuten vergingen. Der Regen wurde heftiger, verwandelte sich in silberne Taue. Dann ertönten jenseits des Portals schwere Schritte. Ein Türknauf drehte sich, und Hilda Marx ragte im Türrahmen über Margot auf.
Sie sah auf das Kind herab und bellte: »Was ist das denn? Eine ertrunkene Ratte?«
Margot starrte auf Hildas Knie. Hilda fasste dem Kind unters Kinn und zwang es unsanft, zu ihr aufzusehen.
»Wie alt bist du?«
Doch Margot starrte sie nur an.
»Wie. Heißt. Du?«
»Margot Delacroix«, antwortete Margot mit fester Stimme.
Hilda zog die Augenbrauen hoch. »Und aus Irland kommst du, deinem Akzent nach zu urteilen. Na, den werden wir dir bald austreiben. Und das Gleiche gilt für deine Bockigkeit. Also, Margot Delacroix, heute ist dein Glückstag. Wir haben gerade einen unserer Gäste verabschiedet und darum ein Bett frei. Schnell, komm rein. Wir wollen doch nicht für die Vögel heizen.«
Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, vergaß ich für einen Moment die Ekelgefühle, die dieser Ort meiner schlimmsten Kindheitserfahrungen in mir auslösten, denn ich hatte eine seltsame Begegnung: Am Fuß der Treppe stand Hildas Schutzengel. Sie war schlank, wirkte traurig, hatte üppige bronzefarbene Haare und sah Hilda sehr ähnlich – fast wie eine jüngere, hübschere Schwester. Ich nickte ihr zu. Bis dahin hatten alle anderen Engel, denen ich begegnet war, immer eine gewisse Distanz bewahrt. Doch Hildas Engel kam auf mich zu. »Ruth«, sagte ich.
»Sheren«, antwortete der Engel und lächelte matt. Sie kam mir so nah, dass ich das Grün ihrer Augen sehen konnte. »Aber ich war mal Hilda.«
Ich starrte sie an. Sie senkte den Blick. Das war Hilda? Ich fing an, am ganzen Körper zu zittern. Meine Adern schwollen an in qualvoller Erinnerung an die Schmerzen, die Angst und die Trauer, die diese Frau mir bereitet hatte. Wie sollte ich ihr jemals verzeihen, was sie mir angetan hatte? Doch als sie wieder aufsah, hatte sie Tränen in den Augen. In diesem Gesicht war keine Spur von Hildas Bösartigkeit. Sie nahm meine Hände, und im gleichen Moment konnte ich den tief sitzenden bitteren Stachel der Reue in ihr spüren. Ich hörte auf zu zittern. »Ich weiß, dass du Margot warst«, sagte sie. »Bitte, bitte, vergib mir. Wir müssen zusammenarbeiten, solange Margot hier ist.«
»Warum?«, brachte ich schließlich hervor.
Jetzt war Sheren es, die zitterte. Das ihr über den Rücken fließende Wasser färbte sich langsam rot. Tränen liefen ihr übers Gesicht bis zum Hals, wo sie sich wie eine Kette um ihre blassen Schlüsselbeine reihten.
Dann, endlich, erklärte sie: »Ich arbeite mit den Schutzengeln aller Kinder zusammen, die hier leben, um sicherzustellen, dass der Schaden, den dieser Ort – den Hilda – verursacht, später nicht allzu großen Schaden in der Welt anrichten wird. Dieser Ort hat bereits Mörder, Vergewaltiger und Drogenabhängige hervorgebracht. Wir können Hilda nicht aufhalten. Aber wir können versuchen, die Wunden in diesen kleinen Seelen so gut es geht zu heilen.«
Wir sahen Margot und Hilda nach, die die Treppe hinaufgingen. Wir folgten ihnen.
»Wie kann ich helfen?«
»Erinnerst du dich noch an die Gruft?«
Einen Moment lang glaubte ich, mich übergeben zu müssen. Ich hatte jeden Gedanken und jede Erinnerung an die Gruft in die hinterste Ecke meines Gehirns verdrängt. Die Gruft war das Ergebnis von Hildas teuflischer Kunst: ein winziger, von Ratten bevölkerter, fensterloser Raum, in dem ein Kind über fünf Jahren nicht aufrecht stehen konnte. In dem es nach Exkrementen, Verfall und Tod stank. Die Gruft war ganz besonderen Strafanlässen vorbehalten. Je nach Alter des Kindes wandte Hilda ihre bevorzugten Foltermethoden an: Nahrungsentzug, körperliche Züchtigung und Psychoterror durch schauerliche Geräusche, die im Morgengrauen durch ein Rohr im Boden erzeugt wurden und die die jungen, nackten, völlig verstörten und Hunger leidenden Insassen derartig in Angst und Schrecken versetzten, dass sie für den Rest ihrer Zeit am St.Anthonys in verängstigte, schreckhafte, mäuschenhafte Wesen verwandelt waren. Die Tür zur Gruft wurde jeden Tag einmal geöffnet – aber nur, um einen Eimer eiskalten Wassers über das nackte Kind zu gießen und eine kleine Schale mit Essen hineinzuwerfen – gerade genug, dass es nicht verhungerte. Ihre Lieblingsfoltermethode bestand darin, das zu bestrafende Kind nach ein paar Tagen aus der Gruft herauszuholen, wieder in den Schlafsaal zurückzubringen, es endlose Erleichterung empfinden zu lassen – nur um es dann, nach neuerlicher körperlicher Züchtigung, blutend und schreiend zur Gruft zurückzuschleifen, in die es dieses Mal für die doppelte Länge der Zeit geworfen wurde.
Ein Kind, das bei der Verbannung in die Gruft auch nur einen Funken Liebe in seiner Seele hatte, wusste bei seiner Entlassung aus diesem Loch ohne jeden Zweifel, dass Liebe nicht existiert.
Ich sah Sheren an. Sie wusste, dass ich mich sehr gut erinnern konnte. Hilda hatte dafür gesorgt, dass ich es nie vergessen würde. Sie streichelte mir übers Gesicht.
»Wir müssen immer mit in die Gruft, wenn Hilda ein Kind da reinsteckt.«
»Du willst, dass ich wieder da reingehe?«
Sie nickte, langsam. Sie wusste genau, was das für mich bedeutete, was sie da von mir verlangte. Sie berührte meine Handfläche mit ihren Fingerspitzen – was eine blitzschnelle Abfolge von Bildern vor meinem inneren Auge auslöste. Bilder aus Hildas Kindheit, die Sheren abgespeichert hatte. Bilder von ihrem jahrelangen Missbrauch durch fünf ältere Männer, von den ausgeklügelten Foltermethoden, denen sie durch diese Männer ausgesetzt war. »Das tut mir leid«, sagte ich schließlich.
»Ich zeige dir das nur, damit du verstehst, wie aus Hilda Hilda werden konnte.«
»Wann fangen wir an?«
»Heute Abend steckt sie einen Jungen in die Gruft. Du bleibst bei Margot, bis ich dich rufe.«
»Okay.«
Das erste Kind, mit dem Margot Bekanntschaft machte, war ein siebenjähriger Junge namens Tom. Tom war klein für sein Alter, unterernährt und etwas schwer von Begriff. Doch er hatte eine lebhafte Phantasie, der er sich nach Meinung seines Klassenlehrers Mr. O’Hare ein wenig zu oft hingab. Margot wurde mit deutlich jüngeren Kindern in die Kinderkrippe gesteckt, wo sie sich schon bald langweilte. Sie wollte zu den Beatles tanzen, wie sie es mit Karina getan hatte. Sie wollte mit den älteren Kindern Lieder lernen. Sie war sicher, dass die Kinder im Klassenzimmer gegenüber viel mehr Spaß hatten als sie, die sie mit mottenzerfressenen Teddys, Holzklötzen und Kleinstkindern, die noch nicht mal laufen konnten, spielen sollte. Sie ging zum offenen Fenster und sah, wie der Lehrer im Klassenzimmer gegenüber auf einmal aufhörte zu reden, zum hinteren Ende des Raumes marschierte und dann aus der Ecke, die Margot nicht einsehen konnte, einen kleinen Jungen zerrte. Wenige Sekunden später nahm der Lehrer einen hölzernen Tafelwischer zur Hand, den er dem Jungen mehrfach um die Ohren schlug.
Einige Minuten danach kauerte der Junge auf dem Boden im Flur und rieb sich das Ohr. Er fing an, sich vorzustellen, er sei gar nicht in diesem Flur, sondern auf dem Planeten Rusefog, wo er gegen Kriegerschimpansen kämpfte, um an den Piratenschatz zu kommen. In seinen Armen formierte sich eine unsichtbare Maschinenpistole. Er richtete sie auf das gegenüberliegende Fenster und machte Schussgeräusche, als seine Torpedos zu einem riesigen Feuerwerk zerplatzten.
Hinter diesem Fenster stand Margot und kicherte.
Tom erstarrte, als er sie sah. Er hatte Angst, wieder geschlagen zu werden. Margot bemerkte, dass Tom auf sie aufmerksam geworden war, stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte. Er reagierte nicht. Er wandte sich wieder seiner Mission zu. Ein ganz besonders hässlicher, von Kopf bis Fuß in lila Kampfrüstung steckender Schimpanse bewegte sich auf ihn zu. Tom musste ihm den Fuß wegschießen, um ihn sich vom Leib zu halten. Er ging in die Hocke, zielte und schoss.
Margot fand das, was da drüben im Flur passierte, tausend Mal interessanter als die Kinderkrippe. Sie ging zur Leiterin.
»Ich muss Pipi, bitte.«
Die Krippenleiterin lächelte und sah durch ihre Brillengläser auf Margot herab. »Das heißt: ›Darf ich bitte zur Toilette gehen, Miss Simmonds.‹ Ja, Margot, darfst du. Na, los.«
Miss Simmonds öffnete die Tür, ließ Margot hinaus und schloss die Tür hinter ihr wieder ab.
Margot ließ den Blick in beide Richtungen über den Flur schweifen. Außer ihr und Tom, der einige Meter nach rechts von ihr entfernt auf der anderen Seite stand, war keiner da. Langsam ging sie auf ihn zu. Er war so in seine Schießerei versunken, dass er Margot nicht bemerkte, bis sie direkt vor ihm stand und winkte.
»Oh!« Einen Moment lang war Margot eine blonde Schimpansin. Dann erwachte Tom aus seiner Traumwelt und sagte noch einmal: »Oh!« Margot lächelte ihn an.
Tom hatte seine ersten vier Lebensjahre in einem warmen, liebevollen Zuhause westlich von Newcastle upon Tyne im Nordosten Englands verbracht. Doch als Armut und Tod sein Leben durchrüttelten, wurde er auf einmal in der Verwandtschaft herumgereicht, bis er schließlich – wie Margot – vor den schwarzen Türen von St.Anthonys stand. Mutterseelenallein und schutzlos den hier üblichen Schlägen ausgeliefert. Einzig seine Phantasie stellte einen gewissen Schutz dar.
Seine guten Manieren hatte er nicht vergessen. Er streckte eine dreckige Hand aus. »Tom«, sagte er. »Wie heißt du?«
»Margot«, antwortete sie und gab ihm nur zögernd die Hand. »Kann ich mit dir spielen?«
Er dachte nach. Er kaute auf seiner Wange herum, die Hand auf die Hüfte gestützt, und schickte schnelle Blicke nach rechts und links. »Hier«, sagte er schließlich und reichte ihr ein unsichtbares Maschinengewehr. »Das ist ein Laser-Raptor. Damit kann man die Gesichter der Schimpansen schmelzen. Auf die Rüstungen brauchst du gar nicht erst zu zielen, die sind undurchdringlich.«
Margot blinzelte ein paar Mal. »Peng, peng, peng!«, zischte Tom und zielte auf die gegenüberliegende Wand. Margot tat es ihm nach.
»Oh nein!«, rief Tom, riss die Augen auf und ließ die Arme hängen. »Du hast keine Munition mehr! Komm, ich lade für dich nach.« Behutsam nahm er Margot die schwere Waffe ab und lud sie. Sorgenvoll sah er sie an. »Du wirst hier noch viel mehr als das brauchen, weißt du?« Er fasste sich an die Wade. Vorsichtig zog er etwas aus einer unsichtbaren Scheide.
»Dies war das Schwert meines Vaters«, flüsterte er. »Es ist das Schwert Lennons. Damit kannst du ihnen das Herz herausschneiden.«
Margot nickte und berührte vorsichtig die unsichtbare Klinge. Sie war wie in Trance und nahm darum gar nicht wahr, wie ich vor ihr auf und ab hüpfte und ihr zuflüsterte: Margot! Margot! Du musst zurück in die Krippe! Nun mach schon, geh zurück!
Hilda Marx war im Anmarsch. Sheren war ihr vorausgeeilt und hatte mich gewarnt. Toms Schutzengel, ein großer, dünner Mann namens Leon, stellte sich neben den Jungen und stupste ihn an. Doch dieser schenkte ihm erst seine Aufmerksamkeit, nachdem er »Fresst Blei, ihr Mistmonster!« in Hildas Richtung geschrien hatte.
Sie sah die beiden dort stehen, wie sie alberne Kinderspiele spielten. Nichts als Unsinn im Kopf. Dafür hatten sie sich eine saftige Strafe verdient.
Sie lächelte – was nie ein gutes Zeichen war – und ging auf sie zu.
»Was ist denn das hier, Kinder? Alberne Spielchen?«
Tom ließ seine Waffen fallen und senkte den Blick. Margot tat es ihm nach.
»Tom? Warum bist du nicht im Klassenzimmer?«
Er schwieg.
»Antworte mir gefälligst!«
»Ich … ich habe nicht aufgepasst, Miss Marx.«
Dann funkelte sie Margot an. »Und du, Margot? Was machst du hier auf dem Flur?«
»Ich muss mal Pipi, Miss Marx.«
Hilda schürzte die Lippen. Sie hob einen ihrer astdicken Arme und zeigte zum Ende des Flurs. »Die Toiletten sind da, Fräulein. Aber dalli.«
Margot sauste davon. Als sie die Toilettentür erreicht hatte, drehte sie sich um. Die Ohrfeige, die Tom sich einfing, schallte bis zu ihr.
Mr. O’Hare berichtete der Heimleitung von Toms rücksichtslosem Verhalten, von seinen nachlassenden Leistungen und seiner ständigen Unruhe – und unterstützte Hilda damit in der Annahme, die Gruft sei das probate Mittel, um den Jungen auf Kurs zu bringen.
Sämtliche Engel trafen sich, als das Licht ausgeschaltet wurde, auf dem Treppenabsatz über der Eingangshalle. Sheren erzählte uns, was heute Nacht passieren würde: Hilda und Mr. O’Hare würden Tom in seinem Schlafsaal aufsuchen, nachdem die anderen eingeschlafen waren. Sie würden ihn ausziehen, schlagen und ihn für zwei lange Wochen in die Gruft werfen. Kein einziges Kind unter zehn Jahren war jemals für mehr als zehn Tage in die Gruft gesteckt worden. Die Strafe fiel deshalb so hart aus, klärte Sheren uns auf, weil Tom Hilda an sie selbst erinnerte. Es wurde jeder Engel gebraucht, um Tom während dieser grauenvollen zwei Wochen zu unterstützen, weil die möglichen Spätfolgen dieses Kerkeraufenthaltes von manischer Depression über erhöhte Gewaltbereitschaft und die Vergeudung von Toms Talent als Bühnenautor bis hin zum Scheitern seiner Ehe und einem viel zu frühen Tod reichten. Und das noch vor seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr. Und alles nur wegen Hilda Marx.
Ich kehrte zu Margot zurück. Es war ihre erste Nacht im St.Anthonys, und sie konnte nicht einschlafen. Es waren ihr einfach zu viele andere Kinder im Zimmer. Überall flüsterte, schnarchte oder schluchzte jemand, und das machte ihr Angst. Ich rieb ihre Hände. Zum ersten Mal seit Monaten sah sie mich direkt an. Ich lächelte. Hallo, Kleines, sagte ich. Sie erwiderte mein Lächeln. Das Lächeln wanderte von ihren Lippen zu ihrer Brust, wo es den großen Stein, der dort lag, entfernte, bevor es weiter durch den ganzen Körper wanderte und ihre Schlammwasser-Aura in eine helle, gelbgoldene Sonnenschein-Aura verwandelte. Dann sank sie in einen tiefen Schlaf.
Leon kam auf mich zugeeilt. Er bedeutete mir zu kommen. Ich vergewisserte mich, dass Margot schlief, und folgte ihm dann in den benachbarten Schlafsaal, wo alle anderen Engel versammelt waren. Wir warteten eine Weile. Die meisten Kinder schliefen. Tom, grün und blau und blutig von seiner früheren Begegnung mit Hilda, war hellwach und schmiedete einen Fluchtplan aus Rusefog hinaus – er wollte sich den außerirdischen Elefanten auf dem Planeten Gymsock stellen.
Toms Schutzengel, Leon, war eigentlich sein Zwillingsbruder. Er war nur wenige Minuten vor Toms Geburt gestorben. Er war genauso zappelig und hatte das gleiche Vogelnest von Haaren auf dem Kopf wie Tom. Nervös rieb er sich die Hände.
Sheren sah nach rechts, und als ich ihrem Blick folgte, konnte ich das Flüstern im Flur hören. Im Licht des Mondes tauchten zwei Köpfe auf: Hilda und Mr. O’Hare. Leise bewegten sie sich auf den Schlafsaal zu. Wir traten zur Seite, um sie hereinzulassen – ich kochte innerlich angesichts unserer Machtlosigkeit! – und sahen dabei zu, wie Tom der Mund zugehalten und der Junge aus dem Bett gezerrt wurde. Sie brachten ihn in ein Zimmer im darunter gelegenen Stockwerk. Dort zogen sie ihn aus und schlugen ihn mit einem Ziegelstein. Als er das Bewusstsein verlor, weckten sie ihn mit einem Schwall kalten Wassers wieder auf, damit er auch mitbekäme, dass er in die Gruft gebracht wurde. Diese Maßnahme diente wiederum der allgemeinen Einschüchterung: Die verzweifelten Schreie eines Kindes mitten in der Nacht erfüllten die anderen Kinder mit einer Angst, die sie den Rest ihres Lebens nicht mehr loswurden. Und sorgten dafür, dass sie spurten.
Ich vergewisserte mich noch einmal, dass Margot auch wirklich schlief, und folgte dann dem Pulk von Engeln zur Gruft, die sich in einem Außengebäude direkt neben dem Abwassertank befand. Käfer, Kakerlaken und Ratten versammelten sich in dem Rohr, aus dem Abwasserreste in die Gruft schwappten. Die stinkende, zähflüssige Masse stand etwa fünf Zentimeter hoch in der Gruft. Mittendrin befand sich ein großer Stein, der aus dem Schleim herausragte und auf dem die Delinquenten sitzen konnten. Tom flehte Hilda und Mr. O’Hare an, übergab sich, ließ die nackten Füße über den Kies schleifen, bis sie bluteten. Wir quetschten uns alle in die Gruft. Ich war die Letzte, die hineinging. Einen Augenblick lang stand ich da und erinnerte mich daran, wie ich als Achtjährige hier hereinkam. Jenes Erlebnis hat mein Leben auf erschreckende Weise geformt. Es schwang in jedem Einzelnen meiner späteren Albträume unterschwellig mit. Es war die erste Stufe auf der Leiter, die mich in den Abgrund des Alkoholismus führte.
Ich hielt die Luft an und kroch hinein. Die Tür war zu, aber wir konnten alle das Trio sehen, das auf uns zukam: Mr. O’Hare und Hilda, die Tom flankierten und ihn halb trugen, halb zerrten. Als der Junge begriff, wo er war, setzte er sich mit allerletzter Kraft zur Wehr. Sie ließen ihn ein paar Minuten toben. Dann schlug ihn eine kalte Faust bewusstlos. Er landete mit dem Gesicht in der Kloake. Sie schlossen die Tür hinter ihm ab.
Behutsam hob Leon Toms Kopf an und legte ihn so auf den Stein, dass er atmen konnte. Einer der Tom zugefügten Schläge hatte zu einem Blutgerinnsel in der linken Kopfhälfte geführt. Ohne Behandlung würde es in sein Gehirn wandern und ihn bis zum Morgen töten. Leon legte die Hände auf Toms Kopf. Sofort strömte goldenes Licht aus seinen Handflächen, und das Blutgerinnsel löste sich auf.
Als Tom aufwachte, zitterte er vor Kälte. Er stand unter Schock. In seiner eigenen lebhaften Phantasie hätte er sich nie einen solch grauenvollen Ort wie die Gruft ausmalen können. Die wahren Herren über dieses Territorium, das Viehzeug aus dem Rohr, kroch hervor, durchwanderte Toms Haare, rückte zu seinen Genitalien vor und knabberte an seinen Füßen. Sheren sorgte für einen blauen Blitz, woraufhin die Kriechtiere sich zurückzogen. Sie ließen Tom dann auch in Frieden. Doch die Angst und der Abwassergeruch sorgten dafür, dass er sich in beide Richtungen entleerte, bis sein Magen schmerzte. Den Rest der Nacht weinte und schluchzte er, nur unterbrochen von hilflosen Rufen nach seiner Mutter. Er bemerkte nicht, dass Leon ihn umschlungen hielt und ebenfalls weinte.
Ich bewegte mich zwischen der Gruft und Margot hin und her, um sicherzustellen, dass bei ihr alles in Ordnung war. In der vierten Nacht fing Tom an, vor Hunger und Durst zu halluzinieren. Er sah seine Eltern. Und was noch schlimmer war: Er sah, wie seine Eltern ermordet wurden. Seine Schreie waren bis ins Haupthaus zu hören. Hilda schickte Mr. Kinnaird, den Hauswart, mit einem Eimer kalten Wassers und einer Scheibe Brot zur Gruft. Sheren sorgte dafür, dass Mr. Kinnaird sich verhörte und Tom einen ganzen Laib Brot brachte. Der Junge verschlang ihn heißhungrig.
Jeden Abend, wenn die Sonne unterging und Toms Angst eskalierte, stellten wir uns in einem Kreis um ihn herum auf und legten die Handflächen aneinander. Es entstand eine Lichtkuppel über dem Jungen, unter der er Ruhe empfinden und einschlafen konnte. Am letzten Abend, als Leon die letzten von Toms schlimmsten Wunden heilte, fiel mir auf, dass er einen Bluterguss an seinem Gehirn nicht anrührte, und ich fragte ihn, warum. »Hat mit seinem Gedächtnis zu tun«, erwiderte er. »Wenn ich das so lasse, wird er das Schlimmste vergessen.«
Und so kam es, dass der zum Skelett abgemagerte nackte Junge, den Hilda und Mr. O’Hare nach zwei Wochen aus der Gruft schleiften, überlebte. Mr. Kinnaird, der gleichzeitig der interne Hausarzt war, verordnete zwei Wochen Bettruhe und häufte dem Patienten, einem inneren Drang folgend, immer besonders viel Fleisch und Gemüse auf, wenn es Essen gab. Toms Phantasie war – Leon sei Dank – lebhaft wie nie. Wenn die Nächte besonders dunkel waren, schuf er sich Fluchtwege, die vorher nicht existiert hatten, und fand in versteckten Kisten Schwerter, mit denen er gegen seine imaginären Feinde kämpfte.
Etwa ein Jahr später tauchte ein älterer Cousin auf, um Tom abzuholen und zu sich zu nehmen. Leon ging mit ihm und sorgte dafür, dass Tom mit dem im St.Anthonys Erlebten das machte, was eine Auster mit einem eingedrungenen Sandkorn macht.
Hildas gesteigerte Aufmerksamkeit richtete sich nach Toms Abreise umgehend auf neue hinterhältige Übeltäter.
Einer von ihnen war Margot.