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DAS WORT, DAS NUR SO SCHWER

ÜBER DIE LIPPEN KOMMT

Ich war da, als Margot aus der Riverstone-Klinik zurückkehrte, wo man sie von ihren Süchten befreit hatte, aber leider auch von ihrem Gefühl dafür, wer sie war, woher sie kam und warum sie hier war. Sie stellte ihre Taschen ab, strich sich die Haare aus dem Gesicht und seufzte. Toby und Theo warteten im Esszimmer. Sie sah an ihnen vorbei zu den verwelkten Sonnenblumen in der Vase.

»Margot?«

Sie sah zu Toby. »Ja?«

»Ähm« – er sah Theo an –, »sag mal, könntest du deine Mom und mich mal einen Augenblick allein lassen?«

Theo nickte und ging in sein Zimmer. Ich sah zu Gaia, die in der Tür stand. Sie kam auf mich zu und legte ihren Arm auf meinen.

Alles in Ordnung?, fragte sie.

Ich nickte, obwohl gar nichts in Ordnung war.

Ich sah, wie Toby ein Bündel Papiere aus seiner viel zu großen Fischerjacke zog und auf den Esstisch legte. Ich wusste genau, was das war. Er räusperte sich und zog die Schultern straff, während er gleichzeitig mit einer Hand weiter seine Jacke absuchte. Er ließ die Hand eine ganze Weile auf dem Papierstapel liegen, als würde es sich um einen unwiderruflichen Akt handeln, wenn er sie losließe, um etwas, das er niemals wieder rückgängig machen könnte.

Sag ihm, dass du ihn liebst, Margot, forderte ich sie laut auf, aber ihr dumpfer Blick ruhte weiter auf den Sonnenblumen.

»Das sind die … Scheidungspapiere«, sagte Toby und atmete tief ein. »Du brauchst nur zu unterschreiben, wo ich schon unterschrieben habe, und dann können wir beide … weitermachen.«

Margot riss die vertrockneten Stängel aus der Vase und marschierte in die Küche. Toby folgte ihr. »Margot?«

»Was?«

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

Sie hielt die trockenen Blumen hoch. »Die sind gestorben, während ich weg war.«

»Und?«

»Hast du ihnen kein frisches Wasser gegeben?«

»Nein, habe ich nicht. Ich wohne hier nicht mehr, hast du das vergessen? Du hast mich rausgeschmissen … Aber egal, lass uns nicht mehr davon reden.«

Ich sah Theo in der Tür zu seinem Zimmer stehen, wie er gespannt zuhörte. Sein Herzenswunsch glühte wie Kohle in ihm. Bitte, bitte 

Margot betrachtete die Sonnenblumen in ihrer Hand. »Weißt du was? Selbst wenn ich sie in eine mit Wasser gefüllte Badewanne lege und dort tagelang einweichen lasse, sind sie tot. Das war’s.« Sie sah Toby an. »Verstehst du?«

Er nickte langsam und vergrub die Hände in den Taschen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Margot, ehrlich gesagt, verstehe ich gar nichts. Wovon redest du? Erst erzählst du mir, dass es dir leid tut, und dann … und dann spielen wir alle zusammen Karten, als wären wir wieder eine glückliche Familie …«

Schnell sah sie ihn an: »Karten?« Als könne sie sich nicht mehr daran erinnern, und das brachte ihn auf die Palme.

Er wurde laut. »Ich habe sechs Jahre darauf gewartet, dass du mir verzeihst, dass du irgendwann einsiehst, dass es durchaus im Bereich des Möglichen liegt, dass ich dich nicht betrogen habe, dass du vielleicht nur einen Teil des Gesamtbildes gesehen hast, dass ich dich vielleicht wirklich liebe …«

Sie sah zu ihm auf. »Du liebst mich?«

»Liebte.« Er senkte den Blick. »Ich meinte, liebte.«

Er verteilte die Papiere auf dem Tisch. »Weißt du was? Die Blumen da sind tot. Ich muss weitermachen mit meinem Leben.«

Er ging. Die Stille, die er hinterließ, hatte etwas von Selbstmord.

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Am nächsten Morgen kam ein Brief von Hugo Benet, in dem er Margot für ihre hervorragende redaktionelle Arbeit an Rose Workmans letzten Notizbüchern dankte und dem er auch den lange überfälligen Tantiemenscheck beilegte.

Es war ein Scheck über fünfundzwanzigtausend Dollar.

Ich beobachtete sie dabei, wie sie in der Wohnung herumzappelte, und erinnerte mich an die Leere, die ich verspürt hatte, nachdem ich den Alkohol aus meinem Leben verbannt hatte – als hätte man einen riesigen Stein vom Eingang einer Höhle entfernt. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ich muss dringend zum Friseur, dachte sie. Dann betastete sie ihr Gesicht. Nichts als Fältchen und Trauer.

Langsam ging sie durch den Flur zu Theos Zimmer. Wie eine Seiltänzerin platzierte sie vorsichtig einen Fuß vor dem anderen, um nicht abzustürzen. Man hatte ihr Beifall gespendet, als sie mit ihrer Entziehungskur fertig war, ihr einen schicken Strauß aus Lilien und Orchideen in den Arm gedrückt und salbungsvoll verkündet, sie gehöre nun auch endlich zu den Geheilten. Sie machten sogar ein Polaroidfoto von ihr und den anderen Patienten, vor dem Haupteingang mit den Buddhas. Sie hatte es als tägliche Mahnung auf den Kaminsims gestellt: Du bist jetzt clean, vergiss das nicht. Aber das ist genau das Problem mit solchen Entziehungskuren – man wird dort so sauber geschrubbt, dass es sich völlig unnatürlich anfühlt und es einem enorm schwerfällt, wirklich für immer so zu bleiben. So rein, so weiß, so ganz ohne menschliche Einfärbung. Zumindest empfand ich das damals so. Ich wünschte mir jemanden, der mir zeigte, wie ich ein normales Leben führen konnte. Wie ich ohne die Unterstützung massenweiser leerer Schnapsflaschen leben konnte.

Theo hatte sich in seinem Bett zusammengerollt und tat, als würde er schlafen. Ihm gingen all die Dinge durch den Kopf, die Toby gesagt hatte, und er strengte sich wirklich an, das alles zu verstehen. James saß auf der Bettkante und versuchte, ihn abzulenken, indem er seine Phantasie anregte. Aber das funktionierte nicht. Theo sah Margot in der Tür zu seinem Zimmer stehen und setzte sich langsam auf.

»Was hältst du davon, wenn wir umziehen?«

Sie sagte das mit so unbeschwerter Stimme wie möglich, als hätte sie die Sache schon komplett durchdacht, als wisse sie ganz genau, was sie tat.

»Wohin denn?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»New Jersey?«

Sie lachte.

»Las Vegas?«

Sie ging zu der Weltkarte, die über Theos Schreibtisch hing. »Da haben dein Vater und ich geheiratet.«

»Gut, dann ziehen wir da hin.«

Mit verschränkten Armen studierte sie die Karte. »Wie wär’s mit Australien?«

Theo dachte nach. »Ist das nicht Millionen von Kilometern weg von hier?«

»Fünfzehntausend ungefähr.«

»Vergiss es.«

»Warum? Da gibt es Kängurus.«

Theo seufzte und ließ die Füße von der Bettkante baumeln. »Willst du wirklich nach Australien ziehen? Oder ist das nur wieder eine von deinen Racheaktionen gegen Dad?«

»Würdest du denn mitkommen?«

Theo betrachtete seine Füße und runzelte die Stirn. Er war wieder mal hin- und hergerissen. Ich sah zu James. »Sag ihm, dass es okay ist, wenn er Nein sagt«, bat ich ihn. »Sag ihm, dass er bei Toby bleiben kann.« James nickte und wiederholte, was ich gesagt hatte.

Nach einer halben Ewigkeit sah Theo wieder auf. »Mom? Kann ich dich in Australien besuchen?«

Das war seine Antwort. Margot sah ihn an und lächelte. »Klar.«

»Jeden Sommer?«

»Hmhm. In Australien ist aber Winter, wenn hier Sommer ist.«

»Darf ich ein Känguru als Haustier haben?«

»Vielleicht. Aber du kannst auf jeden Fall kommen und bleiben, so lange du willst.«

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Natürlich hatte ich diese Entwicklung schon lange vorausgesehen. Ganz gleich, wie sehr ich das Licht und die Wärme Sydneys, die mir so unendlich guttaten, schätzte – ich verachtete mich selbst dafür, dass ich Theo zurückließ. Es war nicht fair gewesen, ihn zwischen Toby und mir wählen zu lassen. Es war grausam und absolut egoistisch von mir gewesen, nicht einfach nur in einen anderen Stadtteil oder einen anderen Bundesstaat zu ziehen, sondern auf einen ganz anderen Kontinent.

Und doch war das nach allem, was ich durchgemacht hatte, nach der Reihe von Ereignissen, die mich fast kaputt gemacht hätten, mein Sicherheitsnetz.

Margot begann ihre eigene Verwandlung mit einer radikalen Veränderung ihrer Frisur und ließ sich einen kinnlangen, schokoladenbraunen Bob mit geschwungenen Spitzen verpassen. Sie löste Hugos Scheck ein, kaufte sich bei Saks jede Menge neuer Klamotten und machte einen Termin bei einem Schönheitschirurgen. Eine Lidstraffung sollte die Traurigkeit um ihre Augen herum entfernen. Lass dir so viele Tränensäcke entfernen, wie du willst, sagte ich. Die Traurigkeit steckt tief in deiner Seele.

Sie beschloss, die Wohnung noch ein, zwei Monate zu halten, nur für den Fall, dass ihr Plan nicht aufging. Ich sagte ihr, dass das nicht nötig sei, aber seit sie aus der Entzugsklinik zurück war, hatte sie nicht auf ein einziges meiner Worte reagiert. Als ich das Lied der Seelen sang – nur einmal, um zu sehen, ob zwischen uns noch eine Verbindung bestand –, zuckte sie nicht mal mit der Wimper. Sie setzte sich nicht auf, um sich umzusehen, sie erschauderte nicht aufgrund meiner gefühlten Gegenwart. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre ich davon ausgegangen, dass sie ein völlig anderer Mensch war.

Am Abend bevor Margot nach Sydney flog, schaute Nan vorbei. Ich saß im Schneidersitz auf dem Dach des Gebäudes, betrachtete den außergewöhnlich glitzernden Sternenhimmel und fühlte mich völlig isoliert von allem und allen – von Gott, meiner Familie, mir selbst. Ich machte einen Schritt zur Seite, über die Kante des Daches hinweg. Vielleicht war das melodramatisch, aber es war ja nun beileibe kein Selbstmordversuch. Ich wollte nur sehen, ob ich mich wirklich von allem abgeschnitten, ob mein Handel mit Grogor die Regeln geändert hatte. Ich fiel etwa eine halbe Sekunde lang, und dann … nichts. Ich blieb in der Luft hängen. Das beruhigte mich.

Nan hörte sich meine Nöte mit der üblichen stoischen Ruhe an. Als ich fertig war, sagte sie mir, ich solle mich umsehen. Was vorher noch nur vom Mondlicht erhellte schwarze Dunkelheit gewesen war, war jetzt eine Landschaft aus glühenden Dächern, auf denen schier endlose Reihen von Erzengeln saßen. Die Engel glichen drei Meter großen lichtdurchfluteten Rubinen und sahen alle sehr entschlossen und zielstrebig aus. Um ihre Körper herum kreisten Flammenbänder verschiedener Breite und Stärke, hell wie Kometen. Einige waren mit Schwertern und Schilden bewaffnet, andere mit Pfeil und Bogen. Und sie alle beobachteten mich. Erinnerten mich an ihre Solidarität mit mir. Daran, dass sie auf mich aufpassten.

Nan hatte kein Wort gesagt, während ich ihr von Theo, Toby und Margot erzählte. Als ich meine übliche Frage stellte – Was soll ich jetzt tun? –, stand sie auf und blickte zu einer Wolke hinauf, die über den paillettenbesetzten Himmel zog wie ein schwarzes Schaf. »Was ist?«, fragte ich unsicher.

»Sieh doch mal genauer hin«, sagte sie.

Ich strengte die Augen an. Die Wolke zog langsam Richtung Mond, bis sie die weiße Himmelsscheibe verdeckte. Und dann kam eine Vision.

Wie eine Vorschau für einen Kinofilm bot die Vision nur kurze Einblicke in ein Ereignis: einzelne Szenen, von einem betrunkenen Cutter ungeschickt zusammengeschnitten, mit wirren Zeitsprüngen. Margot fuhr Auto und sang laut mit, was aus dem Radio plärrte. Dann ein Sprung in die Zukunft, in Zeitlupe durch die Luft fliegende Metallteile. Margots Kopf, der vom Aufprall nach vorn geschleudert wird. Ein anderes Auto, das sich auf der Straße mehrfach um die eigenen Achse dreht wie ein Kreisel. Eine Nahaufnahme von einer zum Bürgersteig rollenden, verbeulten Radkappe. Eine zu Bruch gehende Windschutzscheibe. Ein drittes, schlingerndes Auto, das auf eine Frau mit Kinderwagen zu schlittert. Die durch die Windschutzscheibe fliegende Margot, deren Gesicht in Zeitlupe anschwillt und blutet. Margot, die in der heißen Morgensonne auf den Asphalt aufschlägt, den Arm merkwürdig hinter den Rücken gebogen. Sie überschlägt sich, prallt mit der linken Hüfte auf, sodass ihr das Becken bricht. Dann rutscht ihr Körper – nun nicht mehr in Zeitlupe – ganz bis zu dem verformten Reifen eines anderen Autos, von dessen Motorhaube Rauch aufsteigt.

»Was ist das?« Ich sah zu Nan.

»Etwas, das du verhindern musst«, sagte sie. »Das da ist eine der Folgen der Veränderungen, die du vorgenommen hast. Es sei denn, du verhinderst es.«

Mein Herz klopfte. »Und wenn es mir nicht gelingt?«

»Es wird dir gelingen.«

»Aber was, wenn nicht …?«

»Willst du das wirklich wissen?«

Jetzt war ich dran, Nan einen durchdringenden Blick zuzuwerfen.

Sie hielt meinem Blick stand. »Margot wird den Rest ihres Lebens ein Pflegefall sein – vom Hals an gelähmt, an den Rollstuhl gefesselt. Aber das ist nicht alles. Vier Menschen werden bei dem Unfall ums Leben kommen, darunter ein Baby, ein Mann, der kurz vor der Heirat steht, und eine Frau, die an der Vereitelung eines größeren terroristischen Anschlags mitwirkt.«

Ich lehnte mich vornüber und atmete tief durch.

»Wie kann ich das verhindern?«

»Pass gut auf«, sagte Nan streng. »Das hier ist Teil deiner Ausbildung und gleichzeitig eine äußerst dringende Angelegenheit. Das ist alles, was ich weiß.«

»Ich soll gut aufpassen?«, entrüstete ich mich. »So lautet die Anweisung?«

Sie kam einen Schritt näher, als die Vision wieder verschwand. »Sieh dich um«, sagte sie ruhig. »Glaubst du wirklich, das du irgendetwas zu befürchten hast? Selbst jetzt, als Engel, der weiß, dass Gott existiert und all das sieht, was du siehst – selbst jetzt fürchtest du dich noch? Warum ist Angst immer noch ein Teil deines Wesens?«

Ich schloss den Mund. Ich wusste nichts darauf zu antworten.

»Du wurdest angewiesen, etwas zu tun, nicht etwas zu fürchten. Also tu es.« Sie trat auf den Rand des Daches zu.

Ich drehte mich um. »Was meinst du mit meiner Ausbildung?«

Aber da war sie schon weg.

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Margot hatte vor ihrer Abreise nach Sydney noch so einiges zu erledigen, unter anderem musste sie die größeren Möbelstücke zwischenlagern und ihr Visum bei der Passstelle in der Innenstadt abholen. Sie zog sich etwas über, schnappte sich die Autoschlüssel und tapste nach unten.

Was ich zunächst für einen Ölfleck unter dem Auto hielt, war in Wirklichkeit ein kleiner Schatten. Ich stand neben dem Wagen und sah mich auf dem Parkplatz gründlich nach Dämonen um – halb wollte ich, halb erwartete ich, dass ich Ram, Luciana oder Pui über den Weg lief, damit ich mich für ihre Gastfreundschaft neulich revanchieren konnte –, dann wandte ich mich Margots altem silbernen Buick zu. Sie fuhr rückwärts, rammte dabei fast eine Mülltonne, und ich sah, wie der Schatten sich mitbewegte, als klebe er an der Fahrzeugunterseite fest. Als Margot den Wagen die Straße hinunterlenkte, erkannte ich endlich, was der Fleck tatsächlich war: ein schwarzer Schaft, fast wie ein dunkler Regenbogen, der im Schatten anfing, sich über die Mülltonnen erhob und hinter dem Hügel endete.

Ich erinnerte mich an die Vision. Ich hatte niemand anderen gesehen, jedenfalls nicht in den letzten Sekunden. In der Vision war eine Frau mit Kinderwagen auf dem Bürgersteig gewesen. Ihr Gesicht hatte ich nicht sehen können. War es, weil jemand beschlossen hatte, auszuschlafen, deshalb spät dran war für die Arbeit und zu schnell fuhr, dass es zum Unfall kam? Oder war es, weil jemand beschlossen hatte, während der Fahrt auf der Lexington Avenue eine Flasche Jack Daniels zu trinken? Oder war etwas mit dem Auto nicht in Ordnung?

Dann erinnerte ich mich an ein Detail der Vision: Kurz bevor Margot nach vorne und durch die Windschutzscheibe geschleudert wurde, hatte sie sich umgedreht und etwas gesagt. Zuerst dachte ich, sie hätte mit mir gesprochen. Aber dann kapierte ich es: Der Adressat ihrer Äußerung saß direkt neben ihr auf dem Beifahrersitz.

Ich setzte mich auf die Rückbank und lehnte mich nach vorne, so nah wie möglich zu ihrem Ohr.

Margot!, schrie ich. Was auch immer passiert, halt jetzt nicht mehr an. Lass niemanden einsteigen, okay? Niemanden, ganz gleich, was passiert. Kannst du mich hören, Margot?

Sie hörte mich nicht. Meine Flügel pulsierten. Ich schluchzte auf vor Erleichterung. Ja, dachte ich. Gebt mir Anweisungen. Gebt mir eine instinktive Idee. Gebt mir irgendeinen Hinweis darauf, was jetzt hier passiert. Und mit einem Mal hörten sie auf zu pulsieren. Panisch sah ich mich um.

Rechts neben mir saß Grogor.

»Na, alles klar?«, sagte er. Er war jetzt deutlich jünger, Ende dreißig. Kam daher wie ein gutaussehender junger Anwalt oder Geschäftsmann. Glatt rasiert, dunkle Haut. Neuer schwarzer Anzug. Immer auf der Höhe der Zeit. Kampfbereit wandte ich mich ihm zu.

»Raus hier«, sagte ich.

»Tststs«, machte er. »Also, also. Ich wollte doch nur mal vorbeischauen und sehen, wie es dir geht. Habe gehört, dass du eine kleine Auseinandersetzung mit Ram und Co. hattest.« Er runzelte die Stirn. »Fand ich gar nicht gut. Ich versichere dir, die drei wurden angemessen bestraft.«

Da vernahm ich eine glasklare Botschaft in meinen Flügeln: Er ist hier, um dich abzulenken.

Ich ignorierte ihn und blickte aus dem Fenster. Verzweifelt verglich ich die Bilder aus der Vision mit den Eindrücken aus dem Hier und Jetzt.

»Ich möchte dir noch ein Angebot machen«, fuhr er fort. »Ich finde, du solltest es dir wenigstens anhören.«

Ich wandte mich zur Seite und ließ den Blick über die Straße schweifen. Da entdeckte ich eine Frau mit einem Kinderwagen und zuckte zusammen. Aber dann sprang die Ampel um, und wir bogen ab. Konnte es sein, dass Nans Vision fehlerhaft war?

»Du weißt, dass du in die Hölle kommen wirst«, konstatierte Grogor. »Aber weißt du auch, dass dort nicht nur drei Dämonen sein werden, die dich nicht mögen? Es werden Millionen sein.«

Er streckte die Hand aus und tauchte den Finger eine Sekunde lang in meinen Flügel. Für die Dauer dieser einen schrecklichen Sekunde bekam ich einen Einblick in die Hölle. Da war kein Feuer und kein Schwefel. Nur quälende, greifbare Bitterkeit. Ein dunkler Raum ohne Teppich, Tür oder Fenster. Einfach nur ein geschlossener Raum ohne Licht. Und dann, wie ein Suchscheinwerfer, ein rotes Licht, in dem verschiedene Objekte sichtbar wurden: ein junger Mann, der von einem Haufen Schattenfiguren zerfetzt wird. Ich sah, wie sie ihn in aller Seelenruhe und ohne sich um seine Schreie zu scheren wieder zusammenflickten, als wäre er eine Stoffpuppe. Ich sah andere Räume, in denen die Menschen durch dreidimensionale Projektionen sowohl ihres bisherigen Lebens als auch dessen Verlängerung liefen und laut schrien, wenn sie sahen, wie sie die Klinge versenkten, die nicht mehr zurückgezogen werden konnte. Männer, die versuchten, sämtliche Bombensplitter aufzufangen, die nach der Detonation durch den Raum rasten wie in Zeitlupe zerbrechendes Glas. Irgendwie wusste ich, dass diese virtuellen Projektionen in Endlosschleife liefen.

Ich sah Dinge, die ich gar nicht beschreiben kann. Auf einmal war es, als erhöbe ich mich aus jenem Raum ohne Ausgang, und dann sah ich riesengroße schwarze Gebäude voller Räume wie den, den ich gerade gesehen hatte. Aus ihnen drangen Schreie … Und ich sah mich selbst, wie ich vor dem Eingang dieses Gebäudes stand. Genau wie damals, als ich nach St.Anthonys kam, klopfte ich an. Alle Köpfe drehten sich nach mir um. Sie kamen.

»Fass mich nicht an«, zischte ich ihm zu. Er saugte an seinem Finger, der von meinen Flügeln verbrannt war. Er warf mir einen Blick zu.

»Das war nur ein kleiner Vorgeschmack«, sagte er. »Und jetzt stell dir das mal für immer und ewig vor, Ruth. Aber du hast Glück – es gibt eine Alternative.«

Ich zögerte. »Und die wäre?«

Verwirrt sah er mich an. »Ruth … Weißt du denn nicht, wer ich bin?«

Leeren Blickes starrte ich ihn an.

Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Hör zu«, sagte er. »Wenn du jetzt mit mir kommst, werde ich dafür sorgen, dass die Millionen anderer Dämonen, die auf dich warten, dir keinen ganz so frostigen Empfang bereiten. Ich verschaffe dir sozusagen Immunität.«

Ich dachte darüber nach. Viel länger, als ich es hätte tun sollen. Und ich muss gestehen, dass ein Teil von mir Ja sagen wollte. Vieles von dem, was er sagte, stimmte ja. Ich hatte etwas getan, was mich früher oder später in die Hölle bringen würde. Wenn ein Polizist im Gefängnis landet, ist er auch unter jeder Menge Krimineller, die ihn bluten sehen wollen. Mir stand ein ganz ähnliches Schicksal bevor. Nur dass diese Kriminellen nicht mein Blut wollten. Sie wollten meine Seele.

Doch dann klangen Nans Worte in meinen Ohren: Glaubst du wirklich, dass du irgendetwas zu befürchten hast?

Ich rutschte auf dem Sitz herum und rang mir ein Lächeln ab. Er erwiderte es und beugte sich zu mir herüber. Wenn ich mich nicht irre, war in seinen Augen eine gewisse Lust zu sehen. »Nun?«

»Du musst mich ja wirklich für einen ganz schönen Feigling halten, Grogor. Also noch mal langsam zum Mitschreiben: Ich würde mich lieber unter alle Höllenbewohner mischen, als auch nur eine einzige weitere Sekunde in deiner Gesellschaft zu verbringen.«

Er zuckte nicht mal mit der Wimper. »Du meinst kein Wort von dem, was du da sagst«, lächelte er. An der Spiegelung in seinen Augen konnte ich sehen, dass jemand hinter mir am Fenster war.

Im selben Augenblick öffnete sich die Autotür, und Grogor verschwand. Jemand stieg ein, setzte sich auf den Beifahrersitz und schlug die Tür wieder zu. »Was zum …?«, schrie Margot die Frau neben sich an.

»Fahr.« Es war Sonya. Eine deutlich fülligere, stark geschminkte Sonya, deren Brüste aus einer engen schwarzen Korsage quollen und deren Haare zu orangeroten Rastalocken verfilzt waren. Die Jahre hatten es nicht gut mit ihr gemeint.

Margot begegnete ihrem Blick. Dann legte sie schnell den ersten Gang ein und fuhr los.

»Wo fahren wir hin?«

»Halt die Klappe und fahr.«

»Schön, dich zu sehen, Son.«

Schweigen. So passiert es also, dachte ich. Sonya verschuldet den Unfall. Aber dann erinnerte ich mich an die Vision. Da war von Sonya zum Zeitpunkt des Unfalls nichts zu sehen. Oder?

Ezekiel, Sonyas Schutzengel, saß auf der Motorhaube. Ich dachte gründlich nach und betete inständig. Sag mir, was ich tun soll 

»Was willst du, Sonya? Ich hab ziemlich viel um die Ohren …« Margot bog etwas sportlich um die Ecke, sodass Sonya gegen das Fenster in der Beifahrertür gedrückt wurde.

Sie setzte sich wieder zurecht und wandte sich Margot zu. »Na ja, ich dachte nur, ist schon so lange her, wir müssten uns wirklich mal wieder treffen und, keine Ahnung, mal vergleichen, wie beschissen unser jeweiliges Leben verlaufen ist. Mal sehen, wer gewinnt.«

»Hast dir wirklich einen ganz tollen Zeitpunkt dafür ausgesucht, Son. Planen war ja schon immer deine Stärke.«

»Weißt du was? Ich dachte immer, ich müsste mich bei dir entschuldigen. Aber in letzter Zeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es eigentlich umgekehrt ist.«

An der roten Ampel bremste Margot so abrupt ab, dass Sonya nach vorn zum Armaturenbrett rutschte. »Soweit ich weiß, hast du für das Zerstören einer Ehe olympisches Gold bekommen.«

Sonya drückte sich mit den Händen am Glas ab und schob sich wieder zurück auf den Sitz. »Siehst du, das ist genau das, was ich meine. Ich habe deine Ehe nicht zerstört.« Ihre Stimme bebte. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie das gewesen ist, seither mit dieser Anschuldigung zu leben?«

Margot schnitt ihr das Wort ab. »Ach, sag bloß, da war irgendwann mal eine Mitleidsparty, die ich versäumt habe?« Sie legte unsanft den ersten Gang ein und trat aufgebracht aufs Gaspedal.

Ganz langsam hob Sonya den Kopf an und sah zu Margot. Dicke schwarze Tränen liefen ihr aus den Augen und über das Gesicht. »Du kapierst es immer noch nicht, Margie«, sagte sie. »Ich habe mich unzählige Male bei dir entschuldigt. Ich habe so viel, nein, alles versucht, um wiedergutzumachen, was an dem Abend passiert ist. Ich habe hundert Stunden Therapie hinter mir. Aber du willst immer noch nicht nachgeben. Dir reicht das immer noch nicht. Darum …« Sie holte eine kleine Pistole aus der Tasche und steckte sie sich in den Mund.

»Nein!« Margot verriss das Steuer und hätte um ein Haar ein entgegenkommendes Taxi gerammt. Überall um uns herum wurde gehupt. Sie hatte Mühe, den Wagen auf Kurs zu halten, während sie die Hand nach der Waffe ausstreckte und sie Sonya vorsichtig aus dem Mund zog. Einen Moment lang war sie nicht sicher, ob Sonya abdrücken würde oder nicht. Ich lehnte mich aus dem offenen Fenster und stemmte mich gegen das neben uns fahrende Taxi, damit wir weiter geradeaus fuhren.

Dann, endlich, ließ Sonya die Waffe sinken.

»Ich fahre rechts ran.« Margots Stimme bebte.

»Fahr weiter.« Sonya wendete die Waffe und hielt sie Margot an die Schläfe. Margot atmete sichtbar scharf ein, und ich erstarrte vor Schreck. Was mache ich denn jetzt? Was soll ich tun?

Sonya biss die Zähne zusammen. »Jetzt hör mal gut zu, Süße. Was ich mir all die Jahre von dir habe gefallen lassen: seine selbstgerechten Anschuldigungen, aufgeknallte Telefonhörer, abgewiesene E-Mails, und jetzt dieser ganze Zinnober mit Toby. Du hast deine Ehe sabotiert, nicht ich …«

»Und du hast so viele Jahre damit gewartet, mir das zu sagen?«

Sonya drückte den Lauf der Pistole so kräftig gegen Margots Schläfe, dass diese den Kopf zur Seite neigte. »Du hast den nettesten Mann geheiratet, der mir je über den Weg gelaufen ist. Und ja, ich hätte ihn gerne gehabt! Ich dachte, du hast ihn so schlecht behandelt, also hast du ihn nicht verdient. Aber weißt du was? Als ich versucht habe, ihn mir zu nehmen, als du ihn eigentlich schon so weit aus eurer Ehe hinausgedrängt hattest, dass er reif war, genommen zu werden, hat er Nein gesagt. Er hat Nein gesagt, Margot. Und trotzdem hast du ihn verlassen. Jetzt sage ich dir, dass es mir leidtut. Und ich sage dir, dass Toby nichts getan hat, absolut nichts. Aber ich will, dass du es selber sagst, Margot. Sag, dass du mir glaubst. Sag, dass du mir verzeihst.«

Ihr Griff um die Waffe wurde fester.

»Ich glaube dir«, flüsterte Margot. »Ich verzeihe dir.«

»Meinst du das ernst?«

Langsam wandte Margot den Kopf zur Seite, wobei der Pistolenlauf ihr auf die Stirn rutschte. Sie sah Sonya tief in die Augen.

»Ich meine das ernst.«

Es folgte eine lange, schreckliche Pause. Sonya machte einen enormen Stoßseufzer der Erleichterung, dann ließ sie die Schultern fallen und die Waffe in ihren Schoß sinken. Ihre Aura verlor ihre kranke gelbe Farbe und wurde stattdessen lebendig türkis.

Und dann riss es das ganze Auto nach links.

»Was war das?«, rief Sonya. Margot hatte Mühe, den Wagen auf Kurs zu halten, und wäre fast mit einem anderen Auto kollidiert.

Meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Straße. Ich sah die Frau mit dem Kinderwagen und stürzte hinaus. Im selben Moment vernahm ich eine klare und deutliche Botschaft von meinen Flügeln:

Vertraue!

Und dann, ungefähr drei Meter entfernt, der Mann in dem schwarzen Lincoln, der aus einer Seitenstraße kommt.

Vertraue!

Das schwarze Auto war so nah, dass ich mein Spiegelbild in seinem Rückspiegel sehen konnte. Was soll das heißen,vertraue?«, schrie ich. Was soll ich denn tun? Mich zurücklehnen und gar nichts tun?

Dann war es, als verstummten sämtliche Geräusche um mich herum: die Motoren der Autos, das Geplapper aus den Cafés, die quietschenden Reifen, die Polizeisirenen, die U-Bahn-Züge, das Wasser im Rinnstein. Totale Stille. Bis auf eine Art Flüstern:

Vertraue!

Also schloss ich die Augen und vertraute in dem Moment darauf, dass alles genau so werden würde, wie es sein sollte: Das Auto würde langsam ausrollen, an der Frau mit dem Kinderwagen und an dem schwarzen Wagen mit dem Mann, der bald heiraten will, vorbei. Ich stand mitten auf der Straße.

Und in dem Moment schoss plötzlich eine Art Blitz aus mir heraus und tauchte alles um mich herum in hellstes Licht. Es war, als habe ich mich in einen geschliffenen Diamanten verwandelt, der einen ganz intensiven Sonnenstrahl reflektiert, denn auf einmal strahlte es in jeder erdenklichen Farbe aus mir heraus und bis in den hintersten Winkel der Straße. Auf diesen Lichtstrahlen ritten die Erzengel, warfen sich vor die Frau, steuerten das schwarze Auto, kontrollierten Margots Lenkrad.

Ich stand neben dem Auto, während die Erzengel die Mutter und ihr kreischendes Baby trösteten, dem Mann in dem schwarzen Auto zuflüsterten, er solle wie geplant weiterfahren, Passanten über die Kreuzung führten und sich mit deren Engeln berieten. Und dann verschwanden sie genauso schnell, wie sie aufgetaucht waren.

Langsam verblasste das Licht um mich herum wieder. Ich berührte meine Arme und mein Gesicht und stellte fest, dass ich schweißgebadet war.

Ich ging zu Margots Wagen, setzte mich wieder auf die Rückbank und fragte mich, was da wohl gerade mit mir passiert war. Ich musste dringend Nan fragen, aber die tauchte nirgendwo auf.

Margot sah zu Sonya hinüber.

»Also, nächstes Mal brauchst du nicht unbedingt eine Knarre mitzubringen.«

Sonya sah zu Margot. »Aber es hat doch funktioniert, oder?«

Schweigen. Dann: »Es tut mir leid. Ob du’s glaubst oder nicht.«

»Ich glaub’s. Mir tut es auch leid.«

»Meine Karte«, sagte Sonya und warf eine schwarze Visitenkarte aufs Armaturenbrett. »Lass von dir hören, Margie.«

Sie stieg aus und packte die Waffe zurück in ihre Tasche. Am Fenster hielt sie noch einmal inne und beugte sich zu Margot herein. »Tu mir einen Gefallen«, sagte sie. »Tu dich wieder mit Tobes zusammen.«

Und damit ging sie.