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DIE HALB OFFENE TÜR
Margot wie eine Mutter zu sein, fiel mir viel leichter, als es mir damals mit meinem eigenen Sohn Theo gefallen war. Das ist nicht gegen Theo persönlich gerichtet. Ich habe ihn bloß zu einem Zeitpunkt in meinem Leben bekommen, als ich noch nicht bereit war. Mutterschaft bedeutete für mich damals Schlaf- und Orientierungslosigkeit sowie Selbstmordgedanken – und zwar lange Zeit, bevor der Begriff der postnatalen Depression geprägt und dann gar gesellschaftlich anerkannt wurde.
Margot verbrachte die nächsten Tage bei Lily. Die Nachricht von der Bombe mobilisierte die gesamte Nachbarschaft. Man machte der Kleinen mit Geschenken des Mitgefühls zum Verlust ihrer zukünftigen Eltern die Aufwartung. Dann sah ich mit an, wie eine Sozialarbeiterin aufkreuzte, um Margot zu einer neuen Pflegefamilie zu bringen. Die Dame vom Amt hieß Marion Trimble, war jung, frisch ausgebildet, voller Tatendrang – aber leider auch grenzenlos naiv. Eine behütete Kindheit mit liebevollen Eltern kann die Menschen zu unguten Entscheidungen verleiten. In diesem Fall verleitete sie Marion dazu, Margot zu Pflegeeltern zu bringen, deren Lächeln genauso falsch war wie ihre Absichten.
Padraig und Sally Teague wohnten bei Cavehill in Belfast, in der Nähe des Zoos. Ihr kleines Haus grenzte hinten an ein baufälliges, graffitibeschmiertes Gebäude. Die Fenster waren mit Brettern zugenagelt, Glasscherben und Müll lagen im Garten vor und hinter dem Haus verteilt. Hohe, wild wuchernde Hecken schirmten das Grundstück von der gegenüberliegenden Hauptstraße ab. Das Haus mutete einsam und verlassen an. Doch weit gefehlt.
Ihr Entschluss, sich als Pflegefamilie zu bewerben, wurde eines Morgens gefasst, nachdem Padraig eine Zeitungsannonce gesehen hatte, in der Pflegeeltern für fünfundzwanzig Pfund pro Woche gesucht wurden. Wohlgemerkt, wir reden hier von den Sechzigern: Da konnte man noch für unter tausend Pfund ein Haus kaufen. Padraig musste nicht lange herumrechnen, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass sie mit dem Geld, das sie als Pflegeeltern verdienen könnten, ihr im Wachstum begriffenes Geschäft mit illegalen Einwanderern subventionieren könnten. Die Leute, die die Immigranten herüberschafften, verlangten fünfundzwanzig Pfund pro LKW-Ladung Männer und Frauen aus Osteuropa, und manchmal dauerte es eine Weile, bis sie für sie alle Arbeit gefunden hatten. Wenn sie dann erst mal Arbeit hatten, strichen Padraig und Sally neunzig Prozent ihres Lohns »für Kost und Logis« in dem baufälligen Gebäude ein. In ihrem Übereifer, ihren immigrierten Genossen dabei zu helfen, Fuß zu fassen, quetschten Padraig und Sally irgendwann zwanzig dieser armen Seelen auf einmal in ein einziges Zimmer. Und das monatelang. Zeitweise brachten sie sie sogar in ihrem eigenen verlotterten Haus unter.
Und so kam es, dass Margot ihr Kinderzimmer mit drei polnischen Elektrikern teilte, die auf dem nackten Fußboden kampierten – morgens, mittags, abends. Die drei rauchten quasi die ganze Zeit. Wenn sie nicht rauchten, tranken sie Wodka oder schlürften Suppe. Sally dachte nur selten daran, dass sich in dem Zimmer auch ein Kind befand. Sie dachte nur selten daran, diesem Kind die Windel zu wechseln, es umzuziehen oder gar zu füttern.
Egal, was ich tat oder was ich Sally sagte – es brachte nichts. Sie bemerkte nicht ein einziges Mal meine Anwesenheit, hörte nicht ein einziges Mal, was ich – in Margots Namen – von ihr verlangte, spürte nicht ein einziges Mal die Ohrfeigen, die ich ihrer schwachsinnigen Fratze verpasste. Denn genau so, wie Sallys Haus bis unter den Schornstein mit illegalen Einwanderern besetzt war, wimmelte es in ihrem Körper von Wanderdämonen. Und der klägliche Rest eines Gewissens, über den sie noch verfügte, wurde mit einer täglichen Dosis Cannabis abgetötet. Aber dazu später mehr.
Glücklicherweise fand einer der Polen aus dem Kinderzimmer, Dobrogost, Gefallen an Margot, weil er selbst seine einjährige Tochter in Stettin hatte zurücklassen müssen, um in Westeuropa Arbeit zu finden. Ich half Dobrogost dabei, bei einem Bauunternehmen in Hafennähe einen Job zu finden, brachte ihn dazu, Padraig und Sally gegenüber bezüglich seines Lohns zu lügen und schließlich sogar Babynahrung für die kleine Margot zu kaufen. Sie hatte unzählige wunde Stellen, die von den vollen Windeln und der schlechten Ernährung herrührten. Manchmal nahm ich sie nachts aus dem Gitterbett und half ihr, ein bisschen durchs Haus zu laufen. Padraig und Sally staunten nicht schlecht, als sie das kichernde Kleinkind um drei Uhr morgens bei einem Spaziergang über den Flur antrafen. Hin und wieder war ich versucht, den Pflegeeltern eins auszuwischen, mir zu nachtschlafender Zeit Margot zu schnappen, sie über Padraigs und Sallys Bett schweben zu lassen und diese zu wecken. Aber dann ließ ich es doch besser bleiben.
Eines Tages war Dobrogost verschwunden. Die neuen Kinderzimmer-Bewohner flüsterten sich etwas von einem versteckten und entdeckten Lohnzettel zu, von einer Leiche im Kofferraum, von einem schweren Koffer, der ins Meer geworfen wurde. Den Neuen ging Margots nächtliches Geheule um Dobrogost auf die Nerven. Die Kleine fing an, mich zu ignorieren, denn sie sehnte sich nach menschlicher Zuwendung. Einmal versuchten die neuen Bewohner, sie aus dem Fenster zu werfen. Ich schlug einfach das Fenster wieder zu. Als sie die Scheibe zertrümmerten, stellte ich mich davor, versuchte Margot aus der Umklammerung eines der Männer zu befreien. Aber ich konnte die Bewohner nicht davon abhalten, Margot so heftig zu schlagen, dass ihre schönen blauen Augen fast hinter der angeschwollenen, lila verfärbten Haut verschwanden, und ich konnte auch nicht verhindern, dass sie sie gegen die Wand warfen und damit winzige Frakturen in ihrem kleinen Schädel verursachten. Ich konnte lediglich verhindern, dass sie sie töteten, indem ich die Schläge abmilderte. Unzählige Male versuchte ich, Hilfe zu holen, vergeblich. Keiner hörte auf mich.
Margots dritter Geburtstag verstrich unbemerkt. Ihr Haar glich immer noch einer Wolke aus Watte, ihr Gesicht war immer noch pausbäckig und engelhaft. Doch ich erkannte die ersten Anzeichen von Verhärtung. Von Verlust. Das goldene Licht, das sie noch so viele Monate nach Unas Tod umgeben hatte, war geschrumpft. Jetzt umgab es gerade noch ihr Herz.
Als ich schließlich begriff, dass ich nicht mehr tun konnte, um sie zu beschützen, holte ich Hilfe.
Eines frühen Morgens kehrten Margots Zimmergenossen von der Nachtschicht nach Hause zurück. Bekifft bis zum Anschlag, kamen sie auf die lustige Idee, Margot mit Alkohol abzufüllen. Aus dem Augenwinkel nahm ich durchs Fenster unten auf der Straße ein helles Licht wahr, das sich bewegte. Bei genauem Hinsehen erkannte ich in dem Jogger in weißem Sweatshirt und dunkelblauen Shorts den schweißgebadeten Dr. Edwards. Er lief so schnell, dass er bereits über dreißig Meter entfernt war, als ich endlich entschied, ihn zu holen. Ich schloss die Augen und betete – zum ersten Mal – zu Gott, er möge mich zu ihm durchdringen lassen. Nan hatte gesagt, nichts sei endgültig, und ich vermutete, dass dies buchstäblich Margots letzte Chance war. Wenn ich jetzt nicht handelte, würde das Leben, das ich gelebt hatte, vorbei sein, bevor meine Erinnerung daran einsetzte, und dann würde es keine zweite Chance mehr geben.
Kaum hatte ich mein »Gebet« beendet, joggte ich auch schon neben Dr. Edwards her. Von unserer letzten Begegnung wusste ich noch, dass ich seine Liebe zur Logik überwinden musste. Dr. Edwards würde niemals intuitiv handeln. Ich würde ihm irgendeine Geschichte verkaufen müssen. Ich würde sie so erzählen müssen, dass sie ihn zum Handeln veranlasste.
Während ich so neben ihm her joggte und mir das Hirn zermarterte, wie ich diesen Mann dazu bringen könnte, an diese Haustür zu klopfen und Einlass zu fordern, stand ich plötzlich vor ihm – ja, ich stand, wie angewurzelt, und er kam auf mich zu und sah mich direkt an.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er und blieb keuchend stehen. Ich sah mich um. Kann er mich sehen? Ich warf ihm einen schnellen Blick zu, sehr darauf bedacht, seine Aufmerksamkeit nicht wieder zu verlieren, und gleichzeitig bemüht, sicherzugehen, dass er auch wirklich mit mir redete. Ich sah, wie seine Gefühle und Gedanken ihn umhüllten. Und statt jener dünnen Fäden, die ich manchmal zu sehen bekam, wenn mir jemand erlaubte, in sein Bewusstsein einzudringen, sah ich einen schmalen Strang, der sich mit meiner Aura verband und der uns in dem Moment auf der gleichen Ebene vereinte. Ich war fasziniert.
Doch dann rief ich mich selbst zur Räson. Die Zeit drängte.
In dem Haus da ist ein Kind, informierte ich ihn und zeigte auf Sallys und Padraigs Haus. Sie haben ihm mal das Leben gerettet. Das Mädchen braucht Ihre Hilfe, Sie müssen es noch mal retten.
Er drehte sich langsam zu dem Haus um und betrachtete es. Er machte einen Schritt darauf zu. Dann noch einen. Da sah ich einen Streifenwagen um die Ecke biegen und rannte los. Dr. Edwards war kein Superheld, er würde Unterstützung brauchen. Ich lief zum Polizeiwagen, griff unter die Motorhaube, als der Fahrer Gas gab, und riss ein Kabel raus. Es funktionierte. Der Motor stotterte und soff ab. Die beiden Beamten stiegen umgehend aus.
Dr. Edwards wurde es ziemlich mulmig zumute, als er bemerkte, dass diejenige, die ihn gerade über ein im Sterben begriffenes Kind in Kenntnis gesetzt hatte, jetzt nirgends mehr zu sehen war. Er ging langsam auf das Haus zu und klopfte an. Nichts rührte sich. Er sah die Straße hinauf und hinab, dehnte die Beine und klopfte noch mal an. Ich sorgte dafür, dass Sergeant Mills, der Polizeibeamte, der sich den Motor des Streifenwagens ansah, auf Dr. Edwards aufmerksam wurde. Sergeant Mills hatte Gerüchte über dieses Haus gehört, und ein nur knapp bekleideter Mann, der im Morgengrauen gegen die Tür hämmerte, untermauerte seinen Argwohn zusätzlich.
In dem Moment, in dem Sergeant Mills und Sergeant Bancroft sich ihm näherten, wurde die Tür geöffnet. Aber nur einen Spaltbreit. Padraigs übler Mundgeruch ließ Dr. Edwards einen Schritt zurückweichen.
»Äh, guten Morgen«, stammelte Dr. Edwards. Er kratzte sich am Kopf, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. »Ich habe gehört, dass hier ein krankes Kind wohnt. Ich bin Dr. Edwards.« Er zog seinen Krankenhausausweis hervor. Weder er noch ich wusste, wie der in seine Hosentasche gekommen war.
Die Tür wurde etwas weiter geöffnet. »Ein krankes Kind?«, wiederholte Padraig. Er wusste von einem Kind. Konnte gut sein, dass es krank war. Er hatte eigentlich keine große Lust, den Doktor reinzulassen. Aber er würde vielleicht Schwierigkeiten bekommen, wenn er es nicht tat.
Er öffnete die Tür ganz. »Oben«, grunzte Padraig. »Dritte Tür links. Beeilen Sie sich.«
Dr. Edwards nickte und eilte die Treppe hinauf, wo seine Nase sofort dem Geruch von Schweiß und Cannabis ausgesetzt wurde. Er hörte im Vorbeigehen mindestens zwei oder drei verschiedene Sprachen, in denen hinter den Türen geflüstert wurde. Er eilte bis zum Kinderzimmer. Von drinnen hörte er die schweren Schritte mehrerer Paar Füße. Und das Weinen eines Kindes.
Die Polizeibeamten standen nun direkt vorm Haus. Padraig hatte die Tür angelehnt gelassen. Sergeant Mills schlug vor, hineinzugehen. Sergeant Bancroft stand nicht der Sinn danach, er wollte lieber frühstücken. Er argumentierte damit, dass sie sich um den Motorschaden kümmern mussten.
Dr. Edwards stieß die Tür zum Kinderzimmer auf. Ich folgte ihm. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn laut fluchen. Durch den Qualm hindurch konnte er ein blutverschmiertes kleines Mädchen erkennen, das an die Beine eines Stuhls gefesselt war. Neben dem Kind befanden sich zwei Männer und eine Wasserpfeife. Der Kopf des Mädchens wackelte unkontrolliert hin und her.
Dr. Edwards war ein friedliebender Mensch mit einer Vorliebe für Golf und ruhige Sonntagnachmittage. Doch ehe er sichs versah, stürzte er auf das Mädchen zu und versuchte es von seinen Fesseln zu befreien. Im selben Moment machte seine Schläfe Bekanntschaft mit einer beringten ukrainischen Faust.
»Was war das?« Sergeant Mills zog seine Waffe und ging zurück zur Tür. Sergeant Bancroft seufzte. Widerwillig zog auch er seine Waffe. Er schuldete Sergeant Mills einen Gefallen. Normalerweise hätte er stur auf seinem Frühstück bestanden.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und entrang Margot einen kurzen, durchdringenden Schrei.
Sergeant Bancroft stürmte als Erster ins Haus. Gleich im Erdgeschoss entdeckte er die Zimmer voller hohläugiger Männer und verflohter Frauen, die aus Kartons aßen und alle nebeneinander auf dem Boden schliefen. Sein Schulfranzösisch wurde zu neuem Leben erweckt, als die Frau unter dem Sofa ihm erzählte, was los war: dass sie Immigranten seien, die von dem Mann, der gerade durch das Badezimmerfenster hinausgeklettert sei, wie Sklaven gehalten würden; dass sie nach Hause wollten.
Sergeant Mills kam Dr. Edwards bei seinem Kampf im ersten Stock zur Hilfe. Er schoss dem Mann, der ein Messer gezogen hatte, in den Arm und kettete den anderen mit Handschellen ans Gitterbett. Dr. Edwards nahm Margot auf den Arm und war entsetzt, wie leicht und zerbrechlich sie war. Er trug sie aus dem Haus, wo ihr der erste Sonnenstrahl seit Monaten über das Gesicht strich.
Während er so mit ihr auf der Straße stand und ihren Puls fühlte, beugte ich mich zu ihr hinab und berührte ihren Kopf. Da durchzuckte mich eine Erinnerung. Nur ganz kurz. Von einem Mann, der sich über mich beugt und über dessen Stirn Blut läuft. Ich konnte mich an diesen Augenblick erinnern. Seine Hände zitterten, als er Margots kleinen Körper untersuchte. Hier witterte ich meine Chance.
Nimm sie mit zu dir nach Hause, flüsterte ich ihm zu.
Zu meiner grenzenlosen Erleichterung hörte er jedes Wort.