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DIE WELLE DER VERLORENEN SEELEN

Im Laufe der nächsten Monate lernte ich so einige Dämonen kennen. Darunter Luciana und Pui, Sonyas Dämonen. Im Gegensatz zu Grogor konnte man die beiden kaum von den vielen schönen Menschen unterscheiden, die bei Sonya ein und aus gingen, und Sonya war sehr von ihnen abhängig. Ich wusste, dass sie eine Menge Zeit mit Sonya verbrachten, konnte sie aber meistenteils nicht sehen.

Ich erfuhr ein paar Dinge. Zum Beispiel, dass Dämonen sich erstaunlich gut verstecken können. So wie Millionen von Insekten sich in den Abstellkammern und Fußbodenritzen von Häusern herumtreiben, verkriechen Dämonen sich in den Anzugtaschen von Menschen. Ich beobachtete Sonya dabei, wie sie eine Halskette mit einem schweren Perlmutt-Anhänger abnahm, und als sie sie auf ihrer Kommode ablegte, sah ich Lucianas und Puis Gesichter in dem Anhänger. Manchmal ließen sie sich von Sonya in ihrer Designer-Handtasche herumtragen. Und ab und zu wanden sie sich um ihren Unterarm wie ein Amulett. Weil Sonya etwas … sagen wir: unbeständig war, wenn es um Entscheidungen bezüglich ihres Lebensstils ging – montags zum Beispiel konnte man sie beim Yoga und mit einem Glas Aloe-Vera-Saft antreffen, und bereits dienstags konnte man über sie stolpern, wie sie bewusstlos und von Drogen völlig verstrahlt in ihrem eigenen Erbrochenen lag –, hingen Luciana und Pui entweder in vollständiger menschlicher Gestalt auf Sonyas riesigem Sofa herum oder zu dunklen Flecken reduziert auf Sonyas Seele. Aber sie ließen sie nie allein. Oftmals sah ich Sonyas Engel – ihren Vater, Ezekiel, der während ihres Lebens größtenteils durch Abwesenheit geglänzt hatte – geduldig in ihrem Treppenhaus auf und ab gehen, wenn Sonyas Dämonen, Luciana und Pui, ihn wieder einmal vertrieben hatten.

Nach nur zwei Wochen bot Sonya Margot an, bei ihr einzuziehen. Sie sagte, Margot täte ihr leid mit ihren drei Jobs und – was sie noch viel schlimmer fand – in Bobs widerlicher Wohnung. In Wirklichkeit war Sonya einfach nur einsam. Selbst die Anwesenheit von Luciana und Pui hing mit ihrer Einsamkeit zusammen. Sonya begriff nie, wieso sie sich, wenn sie Drogen nahm, weniger einsam fühlte. Sie schrieb das den Wirkungen der Drogen auf ihr Gehirn zu. Falsch. Das kam daher, dass Luciana und Pui sich um sie rankten wie Efeu, jener wahnsinnig hingebungsvoll rankende Parasit, der auf Dauer jeden Baum in den Würgegriff nahm.

Ich stellte von Anfang an klar, dass ich nicht im Treppenhaus darauf warten würde, dass die beiden Sonyas Seele zerstörten und sie zu einem schlechten Einfluss für Margot machten. Margot hatte bereits angefangen, mal hier ein bisschen Gras, mal dort ein wenig Crack zu rauchen, und ich sah alles andere bereits auf sie zurasen wie die Scheinwerfer eines Zuges, der sie auf den Gleisen liegend überrollen würde.

Luciana und Pui waren wenig begeistert, dass ich mich einmischte. Sie nahmen neue Gestalt an, erhoben sich wie zwei kobraförmige rote Rauchsäulen und spuckten Feuerbälle in meine Richtung. Und wie im richtigen Leben befand ich mich plötzlich in einer Situation, auf die ich nicht vorbereitet, vor der ich nicht gewarnt worden war. Und wie im richtigen Leben reagierte ich instinktiv: Ich hob die Hände und wehrte das Feuer ab. Dann schloss ich die Augen und stellte mir vor, wie das Licht in mir anschwoll, was es dann auch tat, und als ich die Augen wieder öffnete, war das Licht so gleißend, dass die beiden sich wie Schatten zur Mittagszeit in eine Ecke verkrochen und mir eine ganze Weile nicht mehr unter die Augen traten.

Ezekiel zeigte vor Gesundheit strotzend Präsenz in Sonyas Leben, worauf sie sich vornahm, mit den Drogen aufzuhören, gesünder zu leben und sich vielleicht auf Dauer mit einem netten Mann zusammenzutun.

»Wie findest du eigentlich Toby?«, fragte Sonya Margot bei einer Tasse Morgenkaffee.

Margot zuckte mit den Schultern. »Ganz nett. Ruhig.«

»Ich überlege mir, wie wir uns wohl als Paar machen würden.«

Margot fing übertrieben an zu husten. »Als Paar? Willst du dann etwa auch, keine Ahnung, Apfelkuchen backen und dich irgendwelchen Hausfrauenverbänden anschließen?«

Sie müssen sich diese Sonya bildlich vorstellen, wie sie auf ihrem Stuhl kauerte: in einem seidenen Morgenmantel mit Leopardenmuster, darunter einen roten Push-up-BH, die Haare ungeglättet und wild um ihr blasses Gesicht fallend, als hätte sie eine größere Kopfverletzung. Und diese Sonya war nun pikiert. Allerdings in erster Linie deshalb, weil sie die Vorstellung, zu backen und etwas für das Gemeinwohl der Frauen zu tun, gar nicht so scheußlich fand.

»Ich glaube, ich werde alt.«

»Du und Toby – hattet ihr schon mal was miteinander?«

Sonya schüttelte den Kopf. Dieses eine Mal sagte sie die Wahrheit. »Wir waren zusammen im Kindergarten. Er ist so was wie ein Bruder für mich. Igitt, spinne ich denn total? Na ja. Und was ist mit dir? Ich dachte, zwischen euch sei damals bei meiner Party irgendwas gelaufen?«

»Ich habe ihn beleidigt.«

»Und?«

»Und nichts. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen.«

»Würdest du das denn gerne?«

Margot dachte nach. Dann nickte sie.

Und so kam es, dass Margot und Toby plötzlich ein inoffizielles Date hatten.

Toby kreuzte in Bobs Buchladen auf. Bob lümmelte wie üblich auf einem Sessel hinter dem Tresen herum, rauchte eine Mischung aus Gras und Tabak und las einen Artikel über den neuesten Cadillac Fleetwood Brougham. Er sah zu Toby auf und schnickte die Kippe in seine Richtung.

»Ich suche Margot.«

Bob hustete bloß. Toby sah zum Regal mit den Neuerwerbungen.

»Sie haben echt gute Bücher hier. Komisch, dass ich noch nie von diesem Laden gehört habe.«

»Hm.«

»Also? Ist Margot da?«

»Musst du sie schon selber fragen.«

Ich habe Toby schon immer für seine unendliche Geduld bewundert. Ich sah zu Zenov hinüber, der am Tresen lehnte, und mimte einen kurzen Klaps gegen Bobs Hinterkopf. Zenov schüttelte den Kopf, als wolle er sagen: »Was soll man da machen?«

Toby verschränkte die Hände hinter dem Rücken und dachte über Bobs Vorschlag nach. Dann holte er Luft.

»Margot?«, schrie er, so laut er konnte. Bob rutschte vor Schreck vom Sessel und kam unsanft auf dem Boden auf.

»Margot Delacroix, ich bin’s, Toby Poslusny. Ich bin hier wegen unseres inoffiziellen Dates. Bist du da?« Erstaunlich, mit welcher Lautstärke und Inbrunst – seine Vorstellung erinnerte mich an einen bibeltreuen Prediger – diese ruhige Person auf einmal herumbrüllen konnte. Dabei hatte er den Blick ununterbrochen auf Bob gerichtet.

Bob rappelte sich auf. Zenov hielt sich die Hand vor den lachenden Mund. »Äh, ich werd mal eben nachsehen, ob sie da ist …«

»Danke.« Toby lächelte immer noch und nickte Bob zu.

Wenige Minuten später trat Margot hinter dem Raumteiler hervor, bekleidet mit einem grünen Fünfzigerjahre-Tüll-Partykleid, das ihr mindestens zwei Nummern zu klein war. Sie war noch damit beschäftigt, sich die Haare hochzustecken, und offenkundig nervös. Toby hätte sich beinahe die Augen gerieben. Begierig beäugte er ihr Kleid, ihren Schwanenhals. Ihre Beine. »Hi«, sagte sie. »Tut mir leid, dass du warten musstest.«

Toby nickte und bot ihr seinen gebeugten Arm, damit sie sich bei ihm unterhakte.

Sie kam seiner Aufforderung nach, und gemeinsam rauschten sie aus dem Laden. »Um elf schließe ich ab«, hustete Bob, aber da war die Tür schon ins Schloss gefallen.

Es heißt, in den ersten beiden Wochen zeichnet sich die Qualität einer Beziehung bereits deutlich ab. Ich würde sagen, das tut sie sogar in weniger als zwei Wochen. Ich würde sagen, schon beim ersten Date sind die Grundzüge einer Beziehung ganz klar zu erkennen.

Toby war wenig konventionell. Er führte Margot nicht ins Kino und zum Abendessen aus. Er ging mit ihr auf dem Hudson rudern. Margot fand das klasse. Und das war ein wichtiger Meilenstein in ihrer Beziehung. Dann verlor Toby einen Riemen und fing an, W. B. Yeats zu rezitieren. Margot war fasziniert und kramte – das war wohl unvermeidlich – ein Tütchen Kokain hervor und legte zwei Linien. Was Toby das Letzte fand.

»Pack das weg, ich nehm das Zeug nicht.«

Margot sah ihn an, als sei ihm gerade ein zweiter Kopf gewachsen. »Aber du bist doch mit Son befreundet, oder?«

»Ja. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich ein Junkie bin.«

»Ich bin auch kein Junkie, Toby. Ich will nur ein bisschen Spaß haben …«

Er sah weg. Ich sah weg. Mann, war mir das peinlich. Wie ich mich selbst hasste. Wie ich diesen Augenblick hasste, einen in einer ganzen Reihe von Augenblicken, mit denen das vereitelt wurde, was eine gesunde, vernünftige Beziehung hätte werden können. Und es war, wie immer, mein Fehler.

Margot wurde bockig. »Gut, wenn du nichts willst, dann ist halt umso mehr für mich da!« Und damit zog sie beide Linien.

Toby betrachtete die Gebäude auf der anderen Seite des Flusses. Die ersten Straßenlaternen schimmerten entlang des Ufers und schickten goldrote, sich schlängelnde Bänder zum Boot. Er lächelte. Dann legte er den Riemen ab. Er zog Jacke und Schuhe aus. Dann sein Hemd. »Was machst du da?«, fragte Margot. Er zog sich weiter aus, bis auf die Unterhose. Dann stand er auf, reckte die dünnen weißen Arme in die Luft, beugte den mageren Oberkörper in Springerpose über die Knie und stieß sich ab, ins Wasser.

Völlig perplex lehnte sich Margot über die Seite des Bootes. Er war ewig lange unter Wasser. Sie wartete, fummelte dabei nervös mit den Händen. Keine Spur von ihm. Sie überlegte, ob sie um Hilfe rufen sollte. Dann zog sie sich auch aus und sprang ihm nach. Im selben Moment tauchte er auf und lachte schallend.

»Toby!«, kreischte sie mit klappernden Zähnen. »Du hast mich ausgetrickst!«

Toby lachte und spritzte sie nass. »Nein, meine liebe Margot, du trickst dich selber aus!«

Sie sah ihn an. Mann, ist der weise, dachte ich. Mann, ist der verrückt, dachte Margot.

»Hä?«

Wie ein Hund paddelte er auf sie zu. »Glaubst du wirklich, dass das Koks dir zu mehr Spaß im Leben verhilft? Dass es aus dir einen cooleren Menschen macht?«, fragte er. »Wenn ja, dann muss ich sagen, bist du eine ganze Ecke dümmer, als ich dachte.«

Ihm tropfte Wasser von der Nase, und die Kälte ließ seine Stimme beben. Margot glotzte ihn an, und als sie gerade dachte, ob sie ihn vielleicht küssen sollte, näherte er sich die letzten Zentimeter und küsste sie. Es war – dafür verbürge ich mich – der zärtlichste und ehrlichste Kuss ihres Lebens.

Die folgenden Monate verbrachte ich in Tobys winziger Dachwohnung über dem rund um die Uhr geöffneten Café und beobachtete Margot und Toby aufmerksam dabei, wie sie immer tiefer in eine spirituelle Gletscherspalte rutschten, die sie für Liebe hielten. Ich redete mir anfangs ein, die beiden würden sich in die Liebe an sich verlieben und dass es allein die Umstände waren, die sie zusammenhielten, und nicht Liebe. Schließlich hatten sie beide kein Geld, keine Zukunft und auch nicht besonders viel gemeinsam. Aber als ich sie so sah, wie sie in Handtücher gewickelt im fünften Stock auf dem baufälligen Balkon mit Blick über das West Village saßen, Kaffee tranken und die Zeitung lasen wie ein altes Ehepaar, dachte ich: Moment mal. Irgendwas ist da doch? Was ist mir beim ersten Mal entgangen?

Ob ich mich überflüssig fühlte? Na ja, sagen wir mal, es war ganz hilfreich, dass Gaia auch da war. Ich nahm mir Zeit, sie kennenzulernen. Wenn Toby und Margot einen ihrer intimeren Momente hatten – Momente, die ich für äußerst privat und heilig halte und deswegen respektieren und in Ehren halten wollte –, plauderten Gaia und ich über Tobys Kindheit. Gaia erzählte mir, dass sie an Gebärmutterhalskrebs gestorben war, als Toby vier Jahre alt war. Bis dahin war Tobys Tante Sarah sein Schutzengel gewesen. Ach, sagte ich überrascht. Ich dachte, Schutzengel wurden ganz exklusiv einem bestimmten Menschen zugeteilt. »Nein«, widersprach Gaia. »Nur solange wir gebraucht werden. Ein Mensch kann im Laufe seines Lebens zwanzig verschiedene Schutzengel haben. Und du wirst wahrscheinlich auch mehr als einen Menschen beschützen.«

Mir wurde ganz schwindelig beim Gedanken daran.

Toby hatte mir erzählt, dass er sich nur an eine einzige Sache mit seiner Mutter erinnern könne. Sie brachte ihm das Fahrradfahren bei. Er hatte Angst, hinzufallen, krallte sich am Lenker fest und rührte sich keinen Millimeter aus dem Hauseingang heraus. Er erinnerte sich daran, dass sie ihm sagte, er sollte nur bis zum Ende des Gartenweges fahren, und wenn er es bis dahin schaffen würde, dann könne er versuchen, bis ans Ende der Straße zu fahren, dann bis ans Ende des nächsten Blocks und so weiter. Als er am Ende des Gartenweges angekommen war – der ganze vier Meter lang war –, klatschte sie mit einer solchen Begeisterung Beifall, dass er sich auf den Weg zum anderen Ende der Stadt machte, bis sie ihn nach Hause trug. Er erzählte mir, dass er diese Taktik seither auch beim Schreiben angewandt hatte: Erst mal nur bis zum Ende einer Seite schreiben, dann bis ans Ende des Kapitels, und so weiter, bis er einen ganzen Roman geschrieben hatte. Das Bild von seiner Beifall klatschenden Mutter begleitete ihn dabei im Geiste.

Gaia lächelte. »Weißt du was? Ich kann mich auch an dieses Fahrradabenteuer erinnern.«

»Wirklich?«

»Ja. Das Lustige daran ist, Toby war damals nicht vier, sondern fünf. Und ich war schon tot. Als er Fahrrad fahren lernte, war ich sein Engel.«

Ich starrte sie an. »Bist du sicher?«

Sie nickte. »Toby hat mich im Laufe seines Lebens immer mal wieder sehen können. Er weiß nicht, dass ich seine Mutter beziehungsweise sein Engel bin. Manchmal denkt er, ich sei jemand, den er aus Schulzeiten kennt, oder vielleicht eine ehemalige Nachbarin, oder einfach nur eine merkwürdige Frau, die ihm im Buchladen etwas zu dicht auf die Pelle rückt. Das ist selten, aber es kommt vor.«

Ich sah zu Toby und Margot, wie sie auf Tobys abgewetztem Ledersofa lagen, ihre Finger miteinander verflochten und wieder entflochten, und ich fragte mich nicht ganz ohne Hoffnung: Würde Toby mich jemals sehen? Und wenn ja, was dann? Würde ich mich bei ihm entschuldigen können? Würde ich jemals wiedergutmachen können, was ich ihm angetan habe?

Die Hochzeit fand in der »Kapelle der Blumen« in Las Vegas statt, neun wunderbare Monate nach jenem desaströsen ersten Date. Ich versuchte vergeblich, Margot zu einer Hochzeit zu Hause in England zu überreden, zu einer etwas aufwendigeren Veranstaltung, die Graham die einzigartige Gelegenheit gegeben hätte, seine Tochter ihrem künftigen Mann zu übergeben. Mein ganzes Leben lang habe ich mir Geschichten bezüglich dieser Hochzeit ausgedacht und sie ziemlich dick aufgetragen, um sie so auszuschmücken, wie ich sie im Nachhinein gerne gehabt hätte.

Nun lief es aber so, dass Toby eines Abends in dem irischen Pub, in dem Margot kellnerte, auftauchte. Er hatte sich um eine Stelle an der NYU beworben, und es sah ganz so aus, als würde er sie kriegen. Darum kaufte er sich einen 1964er Chevy und ein Geschenk für Margot: einen schlichten Diamantring.

Sie sah ihn an. »Ist das dein Ernst?«

Er zwinkerte.

»Der ist aber zu groß für meinen Ringfinger.«

Sein Lächeln erstarb. »Echt?«

»Am Daumen passt er mir. Dann gehe ich davon aus, dass das kein Verlobungsring ist, ja?« Jetzt war sie es, die zwinkerte und tief durchatmete. Ist es das jetzt?, dachte sie. Ja, sagte ich. Das ist es jetzt. Sie sah Toby an. »Müsstest du mich jetzt nicht was fragen?«

Er kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hand. »Margot Delacroix …«

»… ja?« Sie klimperte neckisch mit den Augen. Ich stand neben ihr und beobachtete ihn genau. Ich wollte, dass sie sich zusammenriss, den gebührenden Ernst an den Tag legte und diesen Moment in sich aufsog. Ich wäre so gern an ihrer Stelle gewesen, ich hätte so gerne von ganzem Herzen »Ja« gesagt.

»Margot Delacroix«, wiederholte Toby sehr ernst. »Streitsüchtige, unbeherrschte« – ihr Lächeln verschwand – »leidenschaftliche, lebhafte, wunderschöne Julia meines Herzens,« – ihr Lächeln kehrte zurück – »Frau meiner Träume, bitte, bitte schütte mir keinen Bottich mit heißem Öl über den Kopf, sondern heirate mich lieber.«

Sie sah ihn an. Ihre Augen leuchteten. Sie biss auf ihrer Wange herum. Dann, endlich, sagte sie etwas. »Toby Poslusny. Romeo meiner Seele, in sich gekehrter Sklave der Literatur, am Märtyrer-Syndrom Leidender …« Er nickte. So weit musste er ihr recht geben. Aber es kam noch mehr. Sie ließ ihn warten. »… süßer, liebevoller, geduldiger Toby.«

Dann verstrich eine ganze Minute.

»Margot?« Toby drückte ihre Hand. Seine Knie fingen an wehzutun.

»Hatte ich noch nicht Ja gesagt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ja!« Sie sprang in die Luft. Er atmete erleichtert auf und rappelte sich hoch.

Sie bewunderte den Ring, und dann hatte sie eine großartige Idee. Oder, rückblickend betrachtet, wohl eher eine totale Schnapsidee.

»Komm, wir heiraten in Las Vegas!«

Ich schwöre es Ihnen, ich habe versucht, es ihr auszureden. Ich sang sogar das Lied der Seelen. Aber sie wollte davon nichts wissen.

Toby überlegte. Er hatte sich eigentlich eine Hochzeit in Weiß vorgestellt. Nächstes Jahr, in einer malerischen Kapelle in England voller Lilien und Rosen. Mit Graham als Brautführer. Ich wusste genau, was sie sagen würde, und sprach die Worte tonlos mit. »Langweilig«, sagte sie. »Warum noch so lange warten?«

Toby ließ sich auf einen Kompromiss ein. Es sei ihm auf ewig zugutezuhalten, dass er sich wie ein Ehrenmann verhielt. Er suchte die nächste Telefonzelle auf, wählte Grahams Nummer und hielt um Margots Hand an.

Nein, Margot sei nicht schwanger, versicherte er ihm. Er liebte sie einfach nur. Und sie wolle keine Sekunde länger warten. Schweigen am anderen Ende der Leitung. Als Graham endlich etwas sagte, war seine Stimme tränenerstickt. Natürlich hätten sie seinen Segen. Er würde für die gesamte Zeremonie aufkommen sowie für eine Hochzeitsreise nach England. Margot quietschte »Danke!« und »Ich liebe dich, Papa!« in den Hörer. Nicht mal Zeit für eine vernünftige Unterhaltung hatte sie mehr, und dafür hätte ich ihr am liebsten in den Hintern getreten. Sofort zerrte sie Toby zum Auto. Der Hörer baumelte von der Schnur, und Grahams Glückwünsche verhallten ungehört.

So machten sie sich auf den Weg nach Vegas. Die Fahrt dauerte ja nur drei Tage. Sie schauten noch eben bei Sonya vorbei und besorgten das Hochzeitskleid (ein Kleid im Leopardenmuster, dazu rote Lackstilettos, beides geliehen). Ein goldener Kreolenohrring aus Margots Schmuckkasten musste als Tobys Trauring herhalten. Essen? Irgendwelche Reisevorbereitungen? Ach was, die beiden waren verliebt – was brauchten sie mehr?

Die Sonne wollte gerade hinter den fernen Bergen versinken, als Nan plötzlich hinten im Auto saß.

»Hey! Hallo Nan«, sagte ich. »Was willst du denn hier? Soll ich etwa verhindern, dass die beiden heiraten?« Unsere letzte Begegnung tat mir immer noch ein bisschen weh. Nan starrte finsteren Blickes geradeaus.

»Was ist los?«

Sie lehnte sich zu mir herüber, ohne den Blick von der dunkler werdenden Landschaft abzuwenden.

»Margot und Toby fahren mitten durch ein Stelzenhaus.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Was ist ein Stelzenhaus?«

»Eine Ansammlung von Dämonen. Dieses Stelzenhaus ist besonders groß. Die Dämonen wissen, dass Toby und Margot unterwegs sind, um zu heiraten, und sie werden versuchen, das zu verhindern.«

»Und warum?«

Sie sah mich an. »Eine Heirat steht für Liebe und Familie. Genau die Dinge, die Dämonen am allermeisten verabscheuen. Abgesehen vom Leben an sich.«

Ich folgte ihrem Blick aus dem Fenster. Da waren nichts als das orangefarbene Glühen der untergehenden Sonne und das Aufblitzen entgegenkommender Scheinwerfer.

»Vielleicht sind wir schon dran vorbei.«

Nan schüttelte den Kopf und blickte weiter gespannt hinaus.

Auf einmal fing der Wagen an zu schlingern, immer heftiger, quer über die Straße. Ich krallte mich an Tobys Sitz fest und langte nach vorn, um Margot zu beschützen.

»Noch nicht«, sagte Nan ganz ruhig, aber das Auto neigte sich immer mehr nach links, und einen Augenblick lang glaubte ich, wir würden jetzt entweder ganz umkippen oder mit dem Verkehr auf der Gegenseite kollidieren. Da ergriff Nan meine Hand.

»Was sollen wir tun?«, rief ich.

»Jetzt!«, schrie Nan, packte mich am Arm, und schon waren wir mit Gaia draußen und umklammerten bei voller Fahrt die Motorhaube, um den Wagen wieder auf die rechte Fahrbahn zu zwingen. Es wurde gehupt. Mehrere Autos wichen aus und landeten im Graben. Toby rang mit dem Lenkrad und riss das Auto im letzten Moment aus dem Scheinwerferlicht eines schweren Lasters.

Dann blieb das Auto auf Kurs, und kurz darauf hielt Toby neben einem Schild, auf dem »Herzlich willkommen in Nevada« stand. Der Motor verstummte stotternd, und ich versuchte, wieder klar zu denken. Im Auto hörte ich Margot und Toby lachen.

»Wow! Das war knapp!«

»Ich seh mal eben nach dem Motor.«

Inzwischen hatte Nan sich auf den Weg in die gelbe Landschaft gemacht, vom Gegenlicht der Sonne in eine Silhouette verwandelt. Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab und versuchte auszumachen, was sie sah.

»Was siehst du da?«

Keine Antwort. Ich sah mich um. Hinter den Konturen der lila Hügel bewegten sich auf einmal irgendwelche Gestalten auf mich zu. Ich ging ihnen entgegen, den Arm erhoben und bereit, mein gleißendstes Licht auszusenden. Zuerst dachte ich, es handle sich um eine Invasion aus der Hölle. Es war so hell, dass ich den Blick abwenden musste. Mindestens hundert goldene, flammende Wesen, viel größer als ich, mit Flügeln aus Feuer. Ich drehte mich um und wollte Nan rufen, aber sie stand bereits neben mir.

»Erzengel«, sagte sie. »Sie wollen uns nur wissen lassen, dass sie hier sind.«

»Gut«, sagte ich. »Aber warum sind sie hier?«

»Hast du es noch nicht gespürt? Sieh dir mal deine Flügel an.«

Ich verrenkte mich so weit nach hinten, dass mir das Wasser quer über die Brust und bis auf die Füße lief. Meine Flügel waren ganz voll und dunkel, wie das Überlaufbecken eines Stausees. Und dann spürte ich es. So intensiv und beängstigend, als würde ich in den Vorhof der Hölle kommen: Wir wurden gejagt.

Toby ließ die Motorhaube zufallen und wischte sich die Finger an einem Lappen ab. »Fürchte dich nicht, holde Maid, es ist alles gut«, rief er Margot zu, die kichernd aus dem Beifahrerfenster hing. Er sprang wieder ins Auto und ließ den Motor an.

Ich wollte auch einsteigen, aber Nan hielt mich zurück.

»Sieh mal.« Sie zeigte auf das Auto.

Schwarzer Rauch stieg erst spärlich, dann in größeren Schwaden von unter der Motorhaube auf. Ich fragte mich, wieso Toby den Motor nicht wieder abschaltete und nachsah. Stattdessen setzte der Wagen sich schnurrend in Bewegung. Der Rauch stieg weiter auf, wehte über das Autodach und hinunter zum Kofferraum, bis er das ganze Auto wie eine zweite Haut umhüllte. Oder wie ein Schutzschild – ähnlich jenem, den ich bereits um Toby herum gesehen hatte.

Und dann, mitten im Rauch, eine Fratze.

Grogor.

Ich hechtete hinter dem Auto her und sprang aufs Dach. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden hinter dem Horizont, sodass mich Dunkelheit umfing. Ich konnte nicht sehen, wie viel Rauch sich um meine Füße herum bildete.

Ganz weit hinter mir hielt Nan eine Lichtkugel hoch über ihren Kopf. Sie bewegte sich auf mich zu und wurde immer heller, je näher sie kam. Ich sah zu meinen Füßen hinab, wo der Rauch sich teilte, aber dafür nahm er an anderer Stelle zu und schwoll an wie eine dunkle Woge. »Ruth!«, hörte ich Nan aus der Ferne rufen. In dem Moment türmte sich eine Wand aus schwarzem Rauch über mir auf wie eine Flutwelle. Als die Lichtkugel mich erreichte und direkt über mir schwebte, erkannte ich, dass der Rauch gar kein Rauch war, sondern hunderte von kohlschwarzen Händen, die nach mir langten. »Nan!«, schrie ich. Meine Flügel pulsierten. Die Flutwelle brach mit der Kraft einer Lawine über mich herein.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Straßenrand und konnte mich nicht bewegen. Ich hielt nach Nan Ausschau. Mitten auf der Straße fand ein Krieg statt. Hunderte von Dämonen griffen mit riesigen Kugeln, glühenden Felsbrocken und brennenden Pfeilen die Erzengel an, die ich in der Wüste gesehen hatte. Die Engel wehrten sich mit Schwertern. Der eine oder andere Erzengel ging zu Boden und verschwand. Sterben die? Wie kann das sein?

Ich hörte, dass sich hinter mir jemand näherte. Ich versuchte aufzustehen. »Nan!«, rief ich, aber im selben Augenblick wusste ich, dass es nicht Nan war. Es war Grogor.

Die Schritte kamen neben meinen Ohren zu einem Halt. Ich verrenkte den Kopf und sah nach oben. Doch da waren keine zwei Beine aus Rauch, kein Gesicht mit einer Schusswunde als Mund, sondern eine menschliche Gestalt. Ein hochgewachsener, an ein Stilett erinnernder Mann im dunklen Anzug. Er trat mir leicht gegen die Beine, um sicherzustellen, dass ich auch wirklich unbeweglich war. Dann hockte er sich direkt neben meinen Kopf.

»Wieso schließt du dich nicht einfach dem besseren Team an?«, fragte er.

»Wieso wirst du nicht einfach Priester?«, entgegnete ich. Er grinste.

»Willst du wirklich so enden?« Er blickte zu einem der Erzengel hinüber, in dessen Brust eine Feuerkugel gelandet war. Gleichermaßen fasziniert und entsetzt sah ich dabei zu, wie er zu Boden ging und mit einer gleißenden Explosion verschwand.

»Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass ihr immer bloß dumm rumsteht und dabei zuseht, wie die Menschen Mist bauen«, lästerte er. »Aber ich glaube, ich habe dich durchschaut, Ruth. Du würdest doch viel lieber etwas ändern, verbessern. Und warum nicht?«

Auf einmal spürte ich, wie meine Flügel in mich hineinpulsierten. Sie flossen in mein Inneres. Und in diesem Fluss lag eine Nachricht, eine Stimme, die mir sagte: Steh auf.

Ich hatte mich gerade aufgerappelt, als der Boden unter mir anfing zu beben. Er sandte blutrotes Licht aus. Es fühlte sich an, als sei eine unterirdische Bombe explodiert. Ich sah hoch, wo die Erzengel die Dämonen umzingelt hatten, die Schwerter in einer Einheit himmelwärts gerichtet. Und dann stürzte ein Feuersturm aus den Wolken, der sämtliche Dämonen in eine dichte Staubwolke verwandelte. Als ich das nächste Mal nach ihm sah, war auch Grogor weg.

Durch das Feuer hindurch rannte Nan auf mich zu. Sie ergriff meine Hand und half mir auf die Beine. »Alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Ich dachte, die könnten uns nicht verletzen.«

Sie sah mich eindringlich an. »Natürlich können sie uns verletzen, Ruth. Warum müssten wir uns sonst wohl verteidigen?«

»Aber du hast doch gesagt, ich hätte nichts zu befürchten.«

Sie klopfte mir den Staub vom Kleid. »Was hat Grogor dir gesagt?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte es nicht wiederholen und damit bestätigen, dass sie recht hatte. Nan zog eine Augenbraue hoch.

»Du kannst es dir nicht leisten, Schuldgefühle, Zweifel oder Angst zu haben – das sind menschliche Gefühle, die dir nur im Weg sind. Du bist ein Engel. Du hast Gott im Rücken und den Himmel vor dir.«

»Ja, das erzählst du mir immer wieder.«

Über den Hügeln graute der Morgen. Die anderen Engel sahen es und verschwanden in den rosafarbenen Himmel.

»Das Schlimmste ist überstanden«, sagte Nan. »Du musst jetzt Margot finden. Ich besuche euch bald wieder.« Sie wandte sich den Hügeln zu.

»Warte«, sagte ich. Sie drehte sich um.

»Ich habe mich in Toby verliebt«, sagte ich. »Und wenn ich nicht herausfinde, wie ich den Lauf der Dinge ändern kann, werde ich ihn nie wiedersehen. Hilf mir, Nan. Bitte.« Ich flehte sie an. Verzweifelt.

»Tut mir leid, Ruth, aber es ist so, wie ich es dir bereits erklärt habe. Du hattest schon ein Leben, in dem du alles entscheiden konntest. Dieses Leben hat nichts damit zu tun, die gleichen Entscheidungen noch einmal zu treffen. Es geht darum, Margot dabei zu helfen, zu entscheiden.«

»Und das war’s dann?«, entrüstete ich mich. »Ich bekomme nur diese eine Chance? Ich dachte immer, Gott würde jedem eine zweite Chance geben!«

Aber sie war schon wieder weg, und ich stand mutterseelenallein mitten auf der Route 76. Ich sah gen Himmel und suchte Gott.

»Du behauptest also, du würdest mich lieben, ja?«, schrie ich. »Tolle Art, mir das zu zeigen, echt!«

Keine Reaktion. Nur unvermittelter, sanft fallender Regen und ein leichter Wind, der klang wie »pschhhhhh«.