– 19 –
DER BUS
Zehn Stunden lag Margot nun schon in den Wehen, jetzt hatte sie keine Lust mehr. Sie gelangte zu der Erkenntnis, dass Mutterschaft nichts für sie war und sie im Grunde gar kein Kind wollte – und fragte, nein schrie, ob sie jetzt bitte nach Hause gehen könne?
Die nächste Wehe erwischte sie mit voller Wucht.
»Nein, Mrs. Poslusny«, antwortete Schwester Mae entschieden. »Pressen Sie nur noch einmal, dann ist es geschafft. Wenn sie ihren Atem aufs Pressen statt aufs Schreien verwenden könnten, dann wäre das Kind sicher etwas schneller da. Danke.«
Margot schrie Zeter und Mordio. Toby ging im Flur vor dem Kreißsaal auf und ab und betete zum ersten Mal seit Jahren.
Schwester Mae tastete Margot ab, um die Lage des Babys festzustellen. Es war immer noch sehr weit oben im Geburtskanal. Doch was sie ertastete, war kein Kopf, sondern ein Bein.
Sie sah Margot an. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und rauschte hinaus, um einen Arzt zu holen.
Die nächste Wehe rollte über Margot hinweg wie ein Panzerfahrzeug. Ich konnte mich noch deutlich daran erinnern, wie sich das anfühlte. Es heißt immer, man vergisst das alles, aber das tut man nicht. Und als ich mir das jetzt alles noch einmal mit ansah, wurde dem Gedächtnis damit erst recht auf die Sprünge geholfen. Ich sah, wie die blutigen Reißer der Wehe sich festbissen, schloss die Augen und legte Margot die Hand aufs Becken. Und dann stand plötzlich noch ein Engel neben mir. Ein junger Mann, Anfang zwanzig, mit cappuccinofarbenem Haar, das ihm um den Kiefer strich, und einem ruhigen, intensiven Blick. Er kam mir irgendwie bekannt vor. Ich sah ihn mir mit zusammengekniffenen Augen an.
»Kennen wir uns nicht?«
Er betrachtete die Vorgänge auf dem Krankenbett und zuckte zusammen. »James«, stellte er sich knapp vor, ohne den Blick von Margot abzuwenden. »Ich bin Theos Schutzengel.«
Margot schrie wieder. Sie versuchte, von dem Bett runterzukommen.
Warte, wies ich sie an. Ich versuche, Theo zu drehen.
»Theo?«, stöhnte sie. Ich sah auf. Sie hatte mich gehört. Und dann der nächste Schock: Sie sah mich an, als könne sie mich tatsächlich sehen.
»Bitte, Schwester«, flehte sie und streckte die Hand nach mir aus. »Geben Sie mir was gegen die Schmerzen. Irgendwas. Ich halt das nicht mehr aus.«
Ich machte verdammt große Augen. Es war mindestens zehn Jahre her gewesen, seit sie mich zuletzt hatte sehen können. Die Frage blitzte in mir auf, als was sie mich wohl sah. Dann schrie sie schon wieder und riss mich aus meinen Gedanken.
»Wir haben hier eine Steißlage«, sagte ich ganz ruhig. »Ich werde jetzt versuchen, ihn zu drehen. Bitte versuchen Sie, so ruhig wie möglich zu bleiben.« Ich warf einen kurzen Blick zur Tür. Vom Flur hörte ich Stimmen. Die Schwester kam mit dem Arzt zurück.
»Woher wissen Sie, dass es ein Junge ist?«, keuchte sie.
Ich ignorierte die Frage und legte Margot die Hand auf den oberen Bauch. Ich sah zu James, der verängstigt wirkte. »Komm hier rüber«, sagte ich. »Du bist doch Theos Engel, oder?«
James nickte.
»Dann bring den kleinen Kerl dazu, sich umzudrehen.«
James legte seine Hände auf meine, schloss die Augen, und schon wurde Margots Körper von goldenem Licht durchflutet. Ich versuchte, ihre Schmerzen wenigstens teilweise zu absorbieren, wie ich es schon so oft getan hatte. Ich kniff die Augen zu, und als die nächste Wehe anrollte, packte ich sie, zog daran wie an einer Metallstange und riss sie an mich. Und genau so, wie Rose in mich hineingegangen war, bewegte sich diese Metallstange durch mich hindurch zu meinen Flügeln, dann durch diese hindurch und von dort aus in irgendeinen anderen Teil des Universums. Margot seufzte erleichtert.
Jetzt konnte ich das Baby sehen, den kleinen Theo, der völlig verängstigt und verstört mit dem Kopf nach unten in den Geburtskanal sank. Margot fing wieder an zu schreien, als die Wehen über sie hereinbrachen wie einstürzende Hochhäuser. Ich legte ihr die Hand aufs Herz.
Du musst ganz ruhig bleiben. Du musst Theo helfen und ganz langsam atmen. Langsam. Langsam.
Sie atmete so langsam und tief, wie sie konnte, und just in dem Moment, in dem James das Baby endgültig in die richtige Lage brachte, kamen die Schwester und der Arzt herein.
»Du meine Güte!«, rief die Schwester, denn der Kopf des Babys war bereits da. Und im selben Moment presste Margot ein letztes, kräftiges Mal und entließ das Kind mit dem Kopf zuerst aus ihrem Körper.
»Mrs. Poslusny«, keuchte die Schwester. »Es ist ein wunderbarer kleiner Junge.«
Margot versuchte, den Kopf zu heben. »Theo«, sagte sie. »Ich glaube, er soll Theo heißen.«
Theo Graham Poslusny, sagenhafte fünf Kilo schwer, rollte sich an Margots Brust zusammen und hörte nicht auf zu nuckeln, bis es draußen dunkel wurde.
Es gab Probleme mit Margots Plazenta, darum behielten sie die junge Mutter ein paar Wochen im Krankenhaus. Das Baby wurde nachts in den Säuglingsraum gebracht, sodass Margot schlafen konnte. Wahrscheinlich hätte ich James einfach seinen Job machen lassen sollen, während ich mich um Margot kümmerte, aber ich konnte mich nicht beherrschen. Ich war so vernarrt in das rosa Bündel, das da in der Plastikwiege quäkte, in seinen feuerroten Haarflaum, der unter der Wollmütze verschwand, die Rose vor ein paar Monaten gestrickt hatte. Er hatte einen solchen Hunger, dass er die ganze Nacht die Brust haben wollte, doch die Schwestern stellten ihn mit einem Schnuller ruhig, und ich streichelte ihm über das wunderschöne Gesicht.
Dann, endlich, kam James auf mich zu. Das fand ich ziemlich mutig von ihm.
»Hör zu«, sagte er, nachdem er eine Weile schweigend neben mir an Theos Bettchen gestanden hatte. »Ich bin derjenige, der auf Theo aufpassen soll. Dein Schützling ist Margot.«
Ich blickte an ihm vorbei zu Margot, die ich durch den um ihr Bett herum zugezogenen Vorhang sehen konnte. Sie schlief tief und fest.
»Glaubst du etwa, dass ich sie nicht im Auge habe? Ich kann sie hervorragend sehen. Oder hast du vergessen, dass ich ein Engel bin? Engel können so was nämlich.«
Er legte den Kopf schief und runzelte die Stirn.
»Vielleicht sollte ich dir mal meine Beziehung zu Theo erklären.«
»Deine Beziehung zu Theo interessiert mich nicht. Ich will nur, dass du dafür sorgst, dass er nicht wegen Mordes lebenslänglich hinter Gitter kommt.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er einen Schritt zurückging.
Vielleicht war das ein bisschen hart gewesen. Vielleicht war er ein entfernter Verwandter von Theo. Ein Onkel oder so. Ganz egal, jedenfalls hatte ich keinen Grund, ihn so anzugehen. Der Punkt war aber, dass ich Theo für mich allein wollte. Mir bot sich eine Gelegenheit, mit der ich nie gerechnet und die ich (so glaubte ich jedenfalls) mir auch nie gewünscht hatte – nämlich die Gelegenheit, das Wunder meines erstgeborenen Kindes noch einmal zu erleben. Ich kam mir vor wie eine Löwin, die lauernde Raubtiere anknurrt. Ich wollte, dass James nur die zweite Geige spielte. Aber damit wollte er sich nicht zufriedengeben.
Ich wandte mich zu ihm um. »Tut mir leid.« Ich streckte die Hand aus, um meine Aufrichtigkeit zu unterstreichen. Er begegnete meinem Blick und hielt ihm stand, ohne etwas zu erwidern. So stierten wir uns eine Weile an, wobei ich mir der Unverschämtheit meiner Worte immer bewusster wurde und James schweigend meine Entschuldigung ablehnte. Erst als Theo anfing zu wimmern, löste James sich aus der Starre. Ich wollte wieder Theos Wange streicheln, aber James war schneller. Er legte die Hand auf Theos Kopf, und der Junge schlief sofort wieder ein.
»Du musst mich nicht mögen«, murmelte James, ohne mich anzusehen. »Aber ich möchte dich bitten, mir zu vertrauen.«
Ich nickte. Ich wollte mich gerade ein zweites Mal entschuldigen, da wandte James mir den Rücken zu. Leise verzog ich mich zu Margot.
Einige Tage später wurde Margot entlassen. Sie kehrte zurück in eine lupenrein saubere Wohnung, die obendrein über ein frisch gestrichenes Kinderzimmer verfügte, das mit jedem Babyartikel ausgestattet war, den sie im Laden jemals bewundernd kommentiert hatte. Toby, der seiner Zeit um einiges voraus war, hatte bei seinem Arbeitgeber um eine Woche Vaterschaftsurlaub gebeten. Die Bitte wurde abgelehnt, er nahm sich trotzdem eine Woche frei und wurde prompt gefeuert. Aber der Anblick eines Neugeborenen erfüllt die Menschen ja immer wieder mit Hoffnung. Arbeits- und mittellos, umgeben von immer wiederkehrendem Polizeisirenengeheul, war Toby überzeugt davon, dass seine kleine Familie unbesiegbar war.
Und das Beste stand noch aus: Er teilte Margot mit, dass er von dem letzten Rest ihrer Ersparnisse ein Flugticket gekauft habe – Graham werde am folgenden Abend in JFK landen, um seinen Enkel kennenzulernen. An dieser Stelle sang ich zum ersten Mal seit Langem wieder das Lied der Seelen. Ruf Papa an, wirkte ich auf Margot ein, doch der Gedanke ging in ihrer allgemeinen Aufregung unter wie ein Stein. Papa anrufen?, dachte sie. Aber dafür habe ich doch gar keine Zeit … Ich muss noch so viel erledigen, bevor er kommt … Ich insistierte, und schließlich gab sie nach.
Ich hörte zu und vergoss Tränen der Freude und der Trauer über diesen Anruf, den ich nie tätigte. Ich war erleichtert, dass irgendjemand da draußen es mir irgendwie ermöglicht hatte, nun doch mal ein paar Puzzlestücke ein kleines bisschen zu verschieben – und zwar gerade genug, um die Dinge sagen zu können, die ich nie gesagt hatte.
»Papa!«
Heiseres Räuspern und Husten. Sie hatte wieder einmal die Zeitverschiebung vergessen. Aber egal.
»Papa, Toby hat es mir gerade erzählt! Wie lange bleibst du?«
Theo fing an zu krähen.
»Ist das mein Enkel, den ich da hören kann?«
Toby kam mit Theo zu Margot, und sie hielt den Telefonhörer ganz nah an das Kind. Als der Kleine einen von Tobys Fingern fand, fing er sofort an, heftig daran zu saugen.
»Ich glaube, er hat Hunger«, flüsterte Toby.
Sie nickte. »Ich muss auflegen, Papa. Ich freue mich so, dich morgen zu sehen! Gute Reise, Papa.«
Schweigen.
»Papa?«
»Ich liebe dich, mein Mädchen.«
»Ich liebe dich auch, Papa. Bis morgen.«
»Bis morgen.«
Die ganze Nacht, während Margot sich schlaflos vor Aufregung im Bett herumwälzte, ging ich im Zimmer auf und ab und war einerseits grenzenlos erleichtert, dass ich jenes Puzzlestück, das immer gefehlt hatte, einfügen konnte, und andererseits enorm bedrückt angesichts dessen, was nun folgen würde. Denn ich wusste ja, dass ich nur in sehr begrenztem Maße etwas verändern konnte. Es gab so vieles, auf das ich überhaupt keinen Einfluss hatte.
Es war Mrs. Bieber, Grahams Nachbarin, die schon früh am nächsten Morgen anrief, um Margot so schonend und einfühlsam wie möglich mitzuteilen, dass in aller Herrgottsfrühe ein Taxifahrer bei ihr angeklopft habe. Er hatte Graham auf der Stufe vor seinem Haus sitzend vorgefunden, mit der Hand auf seinem Koffer, kalt und steif. Er war einfach eingeschlafen, sagte sie, ganz ohne Schmerzen.
Margot war untröstlich. Sie schloss sich in dem kleinen Badezimmer ein, wo ich mich neben sie setzte und die gleichen Tränen weinte, die ihr auf die Hände tropften.
Seinerzeit war ich davon überzeugt, dass die Gefühle, die kurz nach Theos Geburt einsetzten, von mir selbst hervorgerufen worden waren. Als ich jetzt beobachten konnte, wie die Hormone sich in Margots Kopf verknoteten, und Zeugin dessen wurde, wie die Nervenzellen sich immer mehr beschleunigten, bis sie kollidierten, wurde mir klar, dass sich mir da das physiologische Porträt einer postnatalen Depression bot. Jedes Mal, wenn Theo schrie – und das tat er oft, manchmal stundenlang –, rollte eine rote Welle durch ihren Körper, und ihre Nervenzellen bewegten sich immer schneller, bis ihr ganzer Körper von innen heraus bebte. Es kam ihr vor, als würde sie den ganzen Tag nichts anderes tun, als Theo zu stillen. Jeden Tag. Sie war blutarm – obwohl die Ärzte ihr versicherten, dass sie das nicht sei –, und eine Entzündung am Muttermund machte ihr zu schaffen, die niemand bemerkt hatte. Und auf einmal hasste sie Toby. Sie hasste ihn, weil er die magische Gabe besaß, tief und fest schlafen zu können, während das Baby in der Wiege direkt neben ihm schrie. Sie hasste ihn, weil er sich nicht in eine Milch und Blut absondernde Babymaschine hatte verwandeln müssen. Sie hasste ihn, weil sie erschöpft und verwirrt war und allein beim Gedanken daran, einen weiteren Tag dieses Chaos ertragen zu müssen, eine Heidenangst bekam.
Ich sah dabei zu, wie Toby sich bemühte, ihr alles recht zu machen. Und dann gab es eine angenehme Überraschung: Tobys Buch, Schwarzes Eis, wurde zu einem nationalen Bestseller. Natürlich wusste ich das. Ich hatte es damals aber erst Monate später erfahren. Toby ging ans Telefon und dankte seinem Verleger, während er Margot dabei beobachtete, wie sie zum siebten Mal in einer Stunde verzweifelt versuchte, Theo anzulegen. Ihr Gesicht war verheult. Jetzt sah ich ganz deutlich, was ich damals nicht verstehen konnte: Theo bekam keine Milch. Zwar produzierte er Schlucklaute, aber er schluckte nur Luft. Sein kleines Bäuchlein schmerzte also vor Hunger, während Margots Brüste fast platzten vor überschüssiger Milch.
»Tu doch was!«, zischte ich James zu.
Er sah mich kurz an. »Versuch ich doch.«
Gaia mischte sich ein. »Lass mich mal versuchen.« Sie flüsterte Toby etwas zu.
Er legte auf und ging zu Margot.
»Liebling?«
Sie ignorierte ihn. Er legte ihr einen Arm sachte auf die Schulter.
»Margot?«
»Was ist?«
»Wie wär’s, wenn du mal ein paar Stunden rausgehst, an die frische Luft. Ich passe so lange auf das Baby auf.«
Sie sah zu ihm auf. »Du hast keine Brüste, Toby. In zehn Minuten muss er wieder gestillt werden.«
Toby lächelte. »Ich kann ihn doch mit Pulvermilch füttern. Na los schon, geh doch mal zum Friseur oder so. Gönn dir was. Lass es dir gut gehen.«
Sie sah ihn an. »Meinst du das ernst?«
»Vollkommen.«
»Aber wir haben doch kein Geld.«
Er sah zur Seite. Er war ein schlechter Lügner, selbst wenn es um gute Lügen ging. »Sagen wir so: Ich habe eine kleine Reserve für Situationen wie diese.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
»Wie viel?«
»Hör auf, Fragen zu stellen! Nimm das Scheckheft und mach dich auf den Weg. Geh zur Kosmetikerin, zur Pediküre – was auch immer ihr Frauen braucht, damit es euch gut geht. Na los, raus hier.«
Margot hatte die Wohnung schneller verlassen, als man »Ganzkörpermassage« sagen konnte.
Ich folgte ihr die Treppe hinunter, die Straße entlang, hin zur Bushaltestelle. Meine Flügel pulsierten heftig, als sie mir mitteilten: Sieh zu, dass sie zu Fuß geht. Sie soll nicht mit dem Bus fahren.
Warum?, dachte ich. Ich sah dem sich nähernden Bus entgegen. Warum soll sie nicht mit dem Bus fahren?, fragte ich, aber ich bekam keine Antwort. Gut, dachte ich. Wenn ihr euch taub stellt, tu ich das auch.
Wir setzten uns ganz hinten hin. Margot drückte sich einen Waschlappen auf die Stirn. Die Schmerzen in der Brust erfuhren leichte Linderung von der kühlen Brise, die durch das offene Fenster hereinzog. Der Bus hielt an der 11th Avenue. Es stieg eine Handvoll Fahrgäste ein. Einer von ihnen kam zu uns nach hinten und setzte sich uns direkt gegenüber. Mir drehte sich der Magen um.
Die Frau war das Ebenbild von Hilda Marx. Das auf dem Kopf aufgetürmte, grell orangefarbene, von Silberfäden durchzogene Haar, die ewig rote Nase, der Bulldoggen-Unterbiss. Ich sah, wie Margot scharf einatmete und die Frau anstarrte, während diese ihren Mantel – einen schwarzen Trenchcoat, ganz ähnlich dem, den Hilda draußen getragen hatte – ablegte und Kieferbewegungen machte wie Hilda. Es vergingen ein paar Sekunden, dann war klar, dass diese Frau nicht Hilda war. Eine andere Frau im Bus erkannte sie und sprach sie mit Karen an. Sie lächelte und plauderte mit der Bekannten, und schon hatte ihr Gesicht einen ganz anderen Ausdruck. Ihrer Sprache nach zu urteilen stammte sie aus New Jersey.
Natürlich hätte ich mich daran erinnern sollen. Hilflos sah ich dabei zu, wie Margot ihren Gedanken an St. Anthonys nachhing. Ihre Haut kribbelte, als sie sich an die Gruft erinnerte. Die Angst, die Erniedrigung und die Hoffnungslosigkeit, die ihre Erinnerungen an jenes Heim durchdrangen, stiegen jetzt wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins, wie ein Schiffswrack, das mitsamt seinen Wasserleichen aus der Tiefe aufsteigt und deren aufgedunsene Gesichter dem Sonnenlicht preisgibt. Sie starrte auf ihre Füße hinab und keuchte. Ich legte ihr die Hände auf die Schultern und beruhigte sie: Du bist im Hier und Jetzt. Alles andere liegt hinter dir. Du bist in Sicherheit. Sie atmete langsam und tief und bemühte sich, die vielen Bilder zu ignorieren, die auf sie einstürzten: Hilda, die sie mit einem Kohlesack prügelt. Hilda, die sie aus der Gruft zerrt, um sie gleich darauf wieder hineinzuwerfen. Hilda, die ihr einredet, sie sei ein Nichts.
Margot stieg an der nächsten Haltestelle aus und entfernte sich schnellen Schrittes. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wohin sie ging. Die Idee mit der Massage war längst vergessen. Stattdessen wünschte Margot sich nichts sehnlicher, als sich sinnlos zu betrinken. Am liebsten hätte sie Xiao Chen angerufen und wäre mit ihr in die Unibar gegangen. Und schon hatte Margot beschlossen, allein hinzugehen.
Okay, sagte ich laut. An Gott gerichtet, vermute ich. Ich bin ganz Ohr. Schick mir eine Nachricht, irgendeinen Hinweis, was ich jetzt tun soll. Ich weiß ja, was jetzt passiert. Ich weiß, dass Margot jetzt fünfzig Dollar für Schnaps ausgibt und mit einem Typen herumknutscht, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, und ich weiß, dass sie gegen Mitternacht dort herausstolpert und völlig vergessen hat, dass sie einen Mann und ein Zuhause hat. Ach, und ein Kind.
Und wissen Sie was? Nichts. Null. Nada. Nicht einmal ein Flüstern. Keine Nachrichten in meinen Flügeln, kein Instinkt. Natürlich redete ich mit Margot, ich schrie sie aus Leibeskräften an, ich sang das Lied der Seelen … Aber sie blendete mich einfach aus. Und das Schlimmste war: Als wir die Bar erreichten, wartete Grogor bereits am Eingang. Margot ging hinein, er legte ihr den Arm um die Taille und begleitete sie. Und ich konnte nichts tun.
Der Grund dafür, dass Toby Margot vorläufig nichts von dem Erfolg seines Buches erzählte, war, dass sie wochenlang nicht miteinander redeten. Ein alter Kollege von der Uni rief ihn aus der Bar an, nachdem er gesehen hatte, wie Margot dort einen Cocktail nach dem anderen kippte und mit einem Studenten rummachte.
Der Anruf verlief so:
Elf Uhr abends. Das Telefon in Tobys und Margots Küche klingelt. Toby hat kein Milchpulver mehr, und die Geschäfte haben alle geschlossen. Theo kreischt.
»Hallo?« Toby hält den Hörer sofort ein gutes Stück weit von seinem Ohr weg. Am anderen Ende ertönt laute Musik.
»Hey, Kumpel. Ich bin’s, Jed. Sag mal, Toby, bist du nicht neulich Vater geworden?«
Kurze Pause. »Hmhm.«
»Und … hast du nicht so ’ne kleine Blonde namens Margot geheiratet?«
»Hmhm.«
»Und hast du eine Ahnung, wo sie jetzt gerade sein könnte?«
Toby sieht sich um. Er hat bereits geschlafen. Er sieht im Schlafzimmer nach.
»Nee, nicht so richtig. Warum?«
»Ich weiß nicht recht, wie ich’s dir sagen soll, Kumpel, aber ich glaube, sie ist hier.«
»Wo?«
Also nahm Toby das Baby, packte es ins Auto und fuhr mit ihm dorthin, wo Margot mit einem anderen Typen Händchen hielt, während sie sich an einem Laternenpfahl die Seele aus dem Leib kotzte.
Hilflos und reumütig sah ich zu, wie Toby neben Margot hielt, noch einmal nach Theo sah und dann aus dem Wagen sprang. Gaia und James blieben im Auto. Ich wandte den Blick ab. Toby näherte sich Margot, die zwar genau wusste, dass er da war, sich aber weigerte, ihm zu antworten, bis er schließlich »Theo braucht dich« sagte und ein Funken Verantwortungsgefühl und ein Funken Liebe doch noch in ihr aufglimmten und sie veranlassten, zum Auto zu torkeln. Fast wäre sie noch auf Theo draufgefallen.
Mir fehlen die Worte.
Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, was mir in jener Nacht passierte.
Ich weiß nur, dass ich alles ändern wollte. Ich wollte den Vorhang wegreißen, der mich und Margot voneinander trennte. Ich wollte wieder zurück in ihre sterbliche Hülle kriechen und Toby um Verzeihung bitten. Ich wollte mir Theo schnappen und mit ihm weglaufen, ich wollte ihn so weit wie irgend möglich wegbringen von dieser schrecklichen, gebrochenen Frau, und gleichzeitig wollte ich alle ihre Wunden heilen, ich wollte die Zeit zurückdrehen, und ich wollte Gott sehen und ihn beschimpfen für alles, was passiert war und sie so hatte werden lassen.
Von diesem Tag an verblutete jene Ehe, die schon tödliche Stichwunden erfahren hatte, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Sie erfror im eisigen Schweigen zwischen Toby und Margot. Toby verbrachte seine Tage damit, zu schreiben, Margot redigierte Roses Notizbücher, und Theo sah von einem traurigen Gesicht zum anderen und dann zu mir. Ich sagte ihm, dass ich ihn liebte, dass ich seinen Vater liebte. Dass es mir leidtat.
Und ich betete, dass irgendjemand mich irgendwo hören würde.