– 13 –

UNSICHTBARE WAFFE

Am nächsten Morgen fasste ich einen neuen Vorsatz: Ich wollte herausfinden, wie ich gestorben war. Oder, um genauer zu sein: wer mich umgebracht hatte.

Margot war fast achtzehn, naiv wie ein Küken und zum Anbeißen lecker. Und als wäre diese Mischung nicht schon gefährlich genug, hatte sie den Kopf voller Flausen bezüglich ihrer Zukunft: Sie träumte davon, eine erfolgreiche Schriftstellerin zu werden, die ganz nebenbei auch sechs Kinder (drei Jungs, drei Mädchen) großzog, in einem Haus mit Garten etwas außerhalb von New York wohnte und einer etwas besser aussehenden Version von Graham Apfelkuchen backte. Als ich sah, wie sie sich aus ihrem Zimmerfenster lehnte, von dem aus sie die schmutzigen, regennassen Straßen und die gelben Taxis sehen konnte, als ich sah, wie ihre schillernden Träume alles um sie herum so fröhlich bunt färbten, da lähmte mich die quälende Frage: Warum ist dann alles anders gelaufen? Wann und wo ist mir mein Leben entgleist?

War es wegen Hilda? Seth? Sally und Padraig? Lou und Kate? Zola und Mick? Lag es an Dingen, die noch in der Zukunft lagen – die Heirat mit Toby, Theos Geburt, das Scheitern der Ehe, das ich im Wodka ertränkte? Hier und jetzt war doch der Moment, in dem mein Leben senkrecht hätte durchstarten können. Wie konnte es also sein, dass eine blonde junge Frau, die zu einer Zeit in Manhattan lebte, in der dort die besten Revolten (soziale, politische, sexuelle, wirtschaftliche) stattfanden, drei Jahrzehnte später in einem keine zehn Kilometer entfernten Hotel zu Tode kam? Ja, gut, so was passiert. Aber nicht, solange ich hier die Aufsicht habe.

Margot machte das Fenster zu, schlüpfte in ihre selbst genähte Schottenkarohose und einen Marinewollpulli und bürstete sich die langen Haare. Sie betrachtete sich in einem frei stehenden Spiegel. Ich stand hinter ihr und legte das Kinn auf ihre Schulter. »Mädchen, Mädchen«, seufzte ich. »Du musst dir mal neue Klamotten besorgen.« Sie schürzte die Lippen ein wenig, klopfte sich auf die Wangen, begutachtete ihre struppigen Augenbrauen. Sie wirbelte einmal um die eigene Achse – hatte ich bereits erwähnt, dass ihre Schottenkarohose hoch geschnitten und um die Hüfte herum ziemlich sackartig war? – und runzelte dann die Stirn. Ich auch.

Bin ich wirklich mal so rumgelaufen? Warum hat mich keiner festgenommen?

Unten im Laden stapelte Bob irgendwie irgendwelche Bücher, während er gleichzeitig ein Zimtbrötchen aß. Als Margot hereinkam, senkte er verlegen den Blick. Was er da von seiner Mutter geträumt hatte, war so realistisch und beängstigend gewesen, dass seine von Lüsternheit geprägte Idee, Margot einzusperren, wie weggeblasen war. Und ich konnte eine andere Seite von ihm kennenlernen. Er war ein Maulwurf in Menschengestalt. Von einer Art blinder Neugier geleitet, schlurfte er grunzend durch die engen Gänge zwischen den Bücherregalen und genoss die Abgeschiedenheit. Sein Engel – sein Großvater Zenov – folgte ihm mit auf dem Rücken verschränkten Armen und schüttelte hin und wieder missbilligend den Kopf angesichts des Chaos aus Buchseiten und Schutzumschlägen. Und wenn ich wirklich ganz genau hinsah, konnte ich erkennen, wie links und rechts von ihm Parallelwelten auftauchten, zunächst unklar wie auf einem Fernsehbildschirm unter Wasser, dann jedoch immer deutlicher, je mehr ich mich konzentrierte: In der einen versteckte Bob, das Kind, sich vor den Fäusten seines Vaters im Kleiderschrank, in der anderen stapelte er als einsamer, seniler Rentner immer noch Bücher. Daraufhin hatte ich ein bisschen Mitleid mit ihm.

Er bot Margot Tee an, den sie dankend ablehnte, und zeigte ihr dann den Buchladen. Ach, entschuldigen Sie, sagte ich gerade Buchladen? Ich hätte Fundgrube literarischer Schätze sagen sollen. Der Kerl benutzte hundert Jahre alte Plautus-Ausgaben, um seinen Billardtisch aufzubocken. Unter dem Tresen fingen handsignierte Gedichtbände von Langston Hughes Staub. Eine Achmatowa-Erstausgabe missbrauchte er als Bierdeckel. Während Bob sich nörgelnd darüber beklagte, dass das Geschäft nicht lief, gelang es mir, Margots Aufmerksamkeit auf ebendiese Ausgabe zu lenken. Sie nahm sie in die Hand und studierte den Umschlag.

»Wissen Sie, wer das hier ist?«

Es verging mindestens eine Minute, bevor er fragte: »Wer?«

»Die Frau auf dem Buchumschlag.«

»Hey, du hast wirklich einen niedlichen Akzent, Mädchen.«

»Das ist Anna Achmatowa. Eine der größten Dichterinnen des Jahrhunderts.«

»Aha.«

»Und das hier« – zielsicher zog sie eine Shakespeare-Werkausgabe aus einem Regal und schlug sie auf – »ist eine Originalunterschrift von Sir Laurence Olivier. Hier verbergen sich Schätze, die es mit dem Bestand der besten literaturwissenschaftlichen Fakultäten der Welt aufnehmen können.«

Erwartungsvoll sah sie ihn an. Ich nickte. Wie recht sie hatte. Bob verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»Wie lange liegt das schon hier rum?«

Bob hob kapitulierend die Hände. »Äh, keine Ahnung …«

Sie ging noch mehr Regale durch. Bob sah mit einem Blick zur Tür, als erwarte er jeden Moment den Rest der spanischen Inquisition. Margot hörte auf zu stöbern und stemmte die Hände in die Hüften.

»Hm«, machte sie und ging auf und ab. Damit war Bobs Neugier endgültig entfacht.

»Was? Was denn?«

Sie blieb stehen und zeigte nachdenklich auf ihn. Er zog das T-Shirt bis hinunter zum Gürtel. »Sie brauchen ein paar neuere Sachen«, sagte sie.

»Wie jetzt? Klamotten?«

»Nein! Bücher. Sie haben zu viele Klassiker hier herumstehen.« Sie ging wieder auf und ab. »Trödel. Wo gibt’s hier so was?«

»Wo es Trödel gibt?«

»Ja, ich meine Trödelmärkte. Flohmärkte. Wo man den Kram verkaufen kann, den man nicht mehr braucht.«

»Äh …«

»Da könnten wir vielleicht billig an gebrauchte Bücher kommen.«

»Wir …?«

»Ich mach mich mal auf die Socken und finde heraus, wo wir unseren neuen Bestand herkriegen.«

»Äh, Margot?«

Sie hatte den Mantel bereits an und drehte sich in der Tür noch einmal nach ihm um. »Was denn?«

Bob kratzte sich den Bauch. »Ach, nichts. Nur … viel Glück.«

Sie lächelte und ging.

Für diejenigen unter Ihnen, die sich nicht mehr daran erinnern können, noch nicht geboren waren oder sich seinerzeit auf einer einsamen Insel befanden: New York war in den späten Siebzigerjahren eine einzige pulsierende, wenig glamouröse, kriminalitätsgeplagte, drogenverseuchte, Versager produzierende 24-Stunden-Disco. Als ich jetzt dorthin zurückkehrte, war ich einerseits vorsichtig gespannt, andererseits ganz kribbelig vor Aufregung. Es war mir, als hätte hier jeder Mensch zehn Engel, und zwar unterschiedlicher Art – einige von ihnen in weißem Kleid, einige wie in Flammen, andere riesengroß und grell blinkend. Kein Wunder also, dass die Stadt stolze Unbesiegbarkeit ausstrahlte, als hätte sie selbst Flügel, die sie über alles und jeden erheben könnte, der auf ihr herumtrampelte. Auf den Straßen zum Beispiel, die Margot an jenem Morgen entlangging, hatte der Serienmörder »Son of Sam« erst kurz zuvor wieder Blut fließen lassen. Als die Horden von Reportern wieder weg waren, lastete zunächst eine Mischung aus Angst und Misstrauen auf dem Viertel, es herrschte so dicke Luft, dass man kaum frei atmen konnte. Aber jetzt, nur kurze Zeit später, war wieder Leben eingekehrt. Mohnblumen wuchsen trotzig zwischen den Betonplatten, die die Polizei gerade eben abgesperrt hatte. Ich erinnerte mich, dass das genau der Grund dafür war, dass ich mich sicher fühlte, obwohl ich innerhalb von achtzehn Monaten vier Mal überfallen worden war. Dass ich New York genau darum liebte. Nicht wegen seiner Cafés, die den Mitgliedern der Black-Panther-Partei als Unterschlupf dienten, nicht wegen der Beatdichter auf der 6th Avenue und auch nicht wegen der Revolutionäre. Nein, was mich faszinierte, war die Unverwüstlichkeit dieser Stadt. Hier hatte ich das Gefühl, über die hohen Mauern meiner Vergangenheit hinwegklettern und von dort aus nach den Sternen greifen zu können.

Es hatte angefangen zu regnen. Margot zog sich den Mantel über den Kopf und versuchte, sich auf dem Stadtplan zurechtzufinden. Einmal verwechselte sie rechts und links, und schon war sie in einer Wohnstraße auf der East Side gelandet. Es war lange her, seit sie zuletzt so viele Wohnhäuser so dicht nebeneinander gesehen hatte – fast wie gestapeltes Brennholz im Schuppen. Sie blieb stehen und betrachtete einige Minuten lang die weißen dreistöckigen Reihenhäuser mit den zu ihren Haustüren hinaufführenden Treppen. Nur wenige Meter vor ihr trugen ein zerzauster Schönling und eine hochgewachsene Schwarze in einem gelben Maxikleid Kisten aus einem der Häuser und luden sie auf einen Pickup. Es sah aus, als würden sie sich streiten. Die Frau hatte die Augen weit aufgerissen, gestikulierte wild und redete in einer Tour. Kaum war Margot in Hörweite, ließ der Schönling seine Kiste fallen und stürmte ins Haus. Die Frau machte weiter, als sei nichts passiert. Margot ging auf sie zu.

»Hi. Ziehen Sie aus?«

»Ich nicht. Aber er«, sagte sie kurz und nickte Richtung offene Haustür.

Margot warf einen Blick auf die Kiste, die die Frau gerade schleppte. Sie war voller Bücher.

»Würden Sie mir die verkaufen?«

»Die würde ich dir sogar schenken. Sind aber nicht meine. Da muss ich erst ihn fragen.«

Die Frau schnaubte und stellte die Kiste ab, zog ein Buch heraus, hielt es sich als Regenschutz über den Kopf und rannte ins Haus. Margot ging langsam auf die Kiste zu und studierte deren Inhalt. Salinger, Orwell, Tolstoi … Der Typ hatte Geschmack.

Der Schönling tauchte in der Tür auf. So schön war er von Nahem betrachtet gar nicht. Blass wie ein Vampir, einem Vogelnest ähnelnde schwarze Haare und dunkle, wässrige Augen, die schon zu viel Schmerz und Elend gesehen hatten.

»Hey«, sprach er Margot an. »Du willst meine Bücher?«

Margot lächelte. »Hm, ja, gerne, wenn Sie sie verkaufen wollen. Oder verschenken, ganz wie Sie möchten.« Sie lachte. Sie strahlte.

»Wo kommst du her?« Er ging einen Schritt auf sie zu. Die Frau verzog das Gesicht und stöhnte unter dem Gewicht einer Kiste.

Ich versuchte, mich an diese Begegnung zu erinnern.

»Aus England. Aber ursprünglich aus Irland.« Margot merkte gar nicht mehr, dass es regnete. »Bin gerade erst angekommen. Ich arbeite in einem Buchladen.«

»Wo in England?«

»Nordosten.«

»Aha.«

»Könnten wir dann jetzt mal bitte weitermachen?« Seine zickige Freundin. Ach, halt doch die Klappe, sagte ich. Ihr Schutzengel funkelte mich böse an.

»Ach, so. Ja.« Er schaltete wieder um. »Tut mir leid, ich ziehe heute um. Keine Zeit, in Erinnerungen zu schwelgen. Die Kiste kannst du haben.«

»Sicher?«

»Klar, so macht man das unter Landsmännern. Obwohl du ja eher eine Landsmännin bist.« Er nickte und ging wieder ins Haus.

Mir tippte jemand auf die Schulter. Als ich mich umdrehte, stand ich Leon gegenüber, einem der anderen Engel vom St.Anthonys.

»Leon!«, rief ich und nahm ihn in den Arm. »Wie geht es dir?« Ich ließ den Blick von ihm zum Schönling wandern. Dann fiel der Groschen.

Der Schönling war Tom aus dem Kinderheim St.Anthonys. Tom, Verteidiger des Planeten Rusefog, das erste Kind, das ich in der Gruft beschützt hatte, der Junge, der mir – ich erinnerte mich vage – ein unsichtbares Gewehr gab.

»Wie geht es dir?«, fragte Leon, aber ich war wie weggetreten. Als Tom das nächste Mal zurück ins Haus ging, öffnete sich zwischen ihm und Margot plötzlich eine Parallelwelt (oder war es meine Wunschwelt?), in der die beiden wie Seelenverwandte Margots Traum mit den vielen Kindern und den abendlichen Gesprächen über Kafka lebten. Ich schrie ihr zu: »Das ist er! Das ist er!! Der kleine Tom! Sag ihm, wer du bist! Erzähl ihm vom St.Anthonys!«

Vielleicht drang ich zu ihr durch, vielleicht auch nicht. Wie auch immer, Margot schnappte sich die Bücherkiste und ging. Aber vorher kritzelte sie noch schnell ihren Namen und ihre Adresse vorn in ein Exemplar von Philip K. Dicks Minority Report und legte es auf die Treppe vor der Haustür.

Ein paar Tage später kam er in den Buchladen und fragte nach Margot.

»Wen darf ich melden?«, fragte Bob listig zurück.

»Tom. Den Philip-K.-Dick-Fan.«

»Der kann ja wohl mal gar nicht schreiben, Mann.«

»Ist sie da?«

»Keine Ahnung.«

Tom seufzte, zog einen Notizblock aus der Jackentasche und schrieb seine Nummer auf. »Würden Sie ihr das bitte geben?«

Ich sorgte dafür, dass er das tat. Ich sorgte dafür, dass Margot ihn anrief. Und ich sorgte dafür, dass er sie zum Essen einlud und sie zusagte.

Und so kam es, dass Margot und ich – beide nervös und aufgeregt – uns an einem regnerischen Dienstagabend in ein Taxi setzten und zur Lenox Lounge in Harlem fuhren. Beide träumten wir von der Zukunft – ich von einem langen Leben mit Tom, Margot von ähnlichen Dingen –, und ich freute mich unbändig darüber, dass ich endlich etwas änderte. Ich hatte das Kommando übernommen, ich steuerte mein Schicksalsschiff zu Ufern, die frei von Ballast und Leid waren.

Tom wartete vor dem Restaurant auf mich. Er trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd, dessen oberste Knöpfe offen standen. Er saß auf einem Schiffspoller, die Beine an den Fußgelenken gekreuzt, und wischte sich hin und wieder den Regen aus den Augen. Ich sah Leon neben ihm stehen und winkte ihm. Als Margot Tom entdeckte, quietschte sie so markerschütternd »halt!«, dass der Taxifahrer in die Eisen stieg und ungeachtet des dichten Verkehrs eine Vollbremsung machte. Margot entschuldigte sich, drückte ihm das Geld in die Hand und stieg schnellstens aus. Ich hinterher. Auf der anderen Straßenseite winkte mir jemand zu. Nan. Ich ließ Margot vorauslaufen und ging dann hinüber zu Nan.

Sie nahm mich fest in den Arm. »Deine neue Farbe gefällt mir. Blau, ja? Dann siehst du die Dinge jetzt wohl etwas anders, was?« Sie hakte sich bei mir unter und zog mich zielstrebig die Straße hinauf.

»Völlig anders«, sagte ich. »Hat sich das Kleid darum verfärbt? Oder wieso würde es sich sonst ganz von allein verfärben?«

»Moment mal, eine Frage nach der anderen«, lachte sie. »Die neue Farbe hat mit deinem Fortschritt auf deiner spirituellen Reise zu tun. Sieht so aus, als hättest du einen wichtigen Meilenstein erreicht. Blau ist eine gute Farbe.«

»Aber was hat es damit …«

Sie blieb stehen und sah mich sehr ernst an.

»Wir müssen über die beiden da reden.« Sie sah zu Margot und Tom, die angeregt plauderten und verlegen flirteten.

»Ich bin ganz Ohr.«

»Nicht Ohr. Sei Auge. Sieh hin.«

Die Wolken über der Lenox Avenue, über den bulimischen Mülltonnen und den maroden Gebäuden teilten sich und gaben den Blick auf eine Vision frei.

Sie zeigte einen kleinen Jungen, vielleicht neun Jahre alt, mit dreckverschmiertem Gesicht und Klamotten, die an einen Straßenjungen um 1850 erinnerten: Baskenmütze aus Tweed, schmuddeliges Hemd, kurze Hosen und ein zerschlissener Blazer. Er streckte die Arme nach oben und machte den Mund auf, als wolle er singen. Nur eine Sekunde später sah ich ihn auf einer Bühne stehen. Inmitten des hundertköpfigen Publikums sah ich die schwarze Frau in dem Maxikleid, der wir bereits begegnet waren. Sie war jetzt etwas älter und kurzhaarig. Ihre Augen funkelten, während sie intensiv zur Bühne blickte. Da wurde mir klar: Der Junge auf der Bühne war ihr Sohn. Der Vorhang fiel, der Junge rannte von der Bühne und warf sich in die Arme seines Vaters. Tom.

»Und, hast du schon durchschaut, wieso ich hier bin?« Nan zog eine Augenbraue hoch.

»Du willst, dass ich jeglicher romantischen Verwicklung zwischen Margot und Tom einen Riegel vorschiebe?«

Nan schüttelte den Kopf. »Ich möchte, dass du dir das ganze Puzzle sehr genau ansiehst, bevor du an einzelnen Teilchen herumfummelst. Du weißt ja schon, wen Margot heiraten wird. Und jetzt hast du auch gesehen, wozu Toms Entscheidungen führen werden.«

»Aber er hat sich doch noch gar nicht entschieden! Und Margot auch nicht.« Ich hielt inne und holte tief Luft. Ich wurde wütend. »Jetzt hör mal zu, ich bin doch nicht ohne Grund mein … Margots Schutzengel, und ich glaube, der Grund ist, dass ich nur allzu gut weiß, was sie besser getan und was sie besser gelassen hätte. Zum Beispiel hätte sie Toby besser nicht geheiratet.«

Nan zuckte mit den Schultern. »Und warum?«

Ich sah sie forschend an. Warum? Ja, wo sollte ich denn da bitte mit der Antwort anfangen?

»Glaub mir«, sagte ich. »Toby und ich … wir haben einander nicht gutgetan. Wir haben uns getrennt, ja? Also warum sollte ich Margot eine Ehe schließen lassen, die sowieso scheitern wird, hm?«

Nan zog wieder eine Augenbraue hoch. »Und du glaubst, dass eine Ehe mit Tom anders laufen würde?«

Ich schloss die Augen und atmete frustriert aus. Genauso gut konnte ich versuchen, einem Neandertaler was über Neurologie zu erzählen.

»Übrigens habe ich die Sache mit dem Lied der Seelen gelernt«, sagte ich schließlich.

Sie sah mich direkt an. »Ach ja? Und? Hat es funktioniert?«

Ich blieb stehen. »Es gibt noch was anderes als das Lied der Seelen, stimmt’s? Es gibt da noch mehr. Ich kann tatsächlich etwas ändern.«

»Ruth …«

»Ich kann herausfinden, wer mich umgebracht hat, und ich kann es verhindern. Ich kann den Lauf meines Lebens ändern …«

Wir standen vor der Lenox Lounge.

Nan sah mir in die Augen. »Es gibt so vieles, was man als Schutzengel tun kann, insbesondere du. Es hat aber nichts mit ›ich kann‹ zu tun. ›Ich kann‹ ist ein menschliches Konzept, ein Mantra des Egos. Du bist ein Engel. Was jetzt zählt, ist allein Gottes Wille.« Und damit begann sie sich zu entfernen.

»Verrate mir, warum, Nan«, sagte ich. »Ich habe Gott bis jetzt noch nicht mal gesehen. Warum sollte ich nicht etwas ändern, wenn ich doch genau weiß, wie viel besser die Dinge sich hätten entwickeln können?«

»Weißt du es denn wirklich so genau?«

Ihr mitleidsvoller Blick entwaffnete mich.

Ein bisschen weniger selbstsicher sprach ich weiter: »Obwohl ich tot bin, kann ich Margots Leben stellvertretend für sie erleben. Vielleicht kann ich dann auch Dingen eine andere Richtung geben, sodass ich nicht in der Blüte meines Lebens sterbe und die Beziehung zu meinem Sohn in Trümmern zurücklasse, sondern stattdessen ein biblisches Alter erreiche und Gutes tue …«

Nan schickte sich an, zu verschwinden, sie zog sich von meinem Widerstand zurück. Ich biss mir auf die Lippe. Ich konnte es nicht leiden, wenn unsere Unterhaltungen in Uneinigkeit endeten. »Pass auf«, sagte sie, und dann war sie weg. Ich drehte mich um. Ich sah einen dunklen Nebel und in einem Autofenster eine Spiegelung: Grogors Gesicht. Er zwinkerte.

Ich stand im Regen und spürte, wie das Wasser auf meinem Rücken pulsierte. Ich wusste nicht, ob der Herzschlag in meiner Brust mein eigener war oder nur die Erinnerung daran, ob die Entscheidungen, die Margot traf, meine oder ihre waren, und zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich nicht, was ich überhaupt noch zu melden hatte. Und darüber wurde ich richtig sauer.

Mitternacht. Arm in Arm verließen Margot und Tom die Lenox Lounge. Sie waren immer noch nicht dahintergekommen, dass sie sich aus dem St.Anthonys kannten. Aber sie wussten, dass sie sich schnellstens wiedersehen und ihre Bekanntschaft vertiefen wollten.

Sie nahmen sich in den Arm und küssten sich lange.

»Morgen gleiche Zeit, gleicher Ort?«, fragte Tom.

»Perfekt.« Margot gab ihm noch einen Kuss. Ich wandte mich ab.

Tom sah ein Taxi kommen. »Das nimmst du«, sagte er. »Ich habe heute irgendwie Lust, zu Fuß nach Hause zu gehen.«

Das Taxi hielt, Margot sprang hinein. Sie sah ihn lange an und lächelte. Ohne eine Miene zu verziehen, zog Tom eine unsichtbare Magnum .44 aus der Innentasche und feuerte auf sie. Eine Erinnerung an St.Anthonys blitzte in ihr auf, verblasste aber genauso schnell wieder. Ich stand neben ihm, und wir hingen beide unseren Erinnerungen nach, während das Taxi ausscherte und sich in den leuchtenden Strom aus Rücklichtern einfädelte.

Ich setzte mich hinten ins Taxi neben Margot. Sie sah aus dem Rückfenster und lachte jedes Mal, wenn sie an Tom dachte. Das Licht um ihr Herz herum wurde größer. Immer mehr Wünsche sammelten sich darin. Ich dachte an das, was Nan gesagt hatte. Und du glaubst, dass eine Ehe mit Tom anders laufen würde? Ja, dachte ich. Ja, das glaube ich.

Als das Taxi an einer roten Ampel hielt, klopfte es ans Fenster. Der Fahrer ließ es herunter. Der Mann, der draußen im Regen stand, schaute in den Wagen und hielt sich dabei ein in Leder gebundenes Notizbuch über den Kopf.

»Können wir uns das Taxi teilen? Ich muss ins West Village.«

Ich versteifte mich. Diese Stimme hätte ich auch wiedererkannt, wenn man sie in einer ägyptischen Grabkammer beigesetzt und eine Blaskapelle davor platziert hätte.

Der Taxifahrer nahm über den Rückspiegel fragenden Blickkontakt mit Margot auf.

»Klar«, sagte sie und rutschte zur Seite, um dem neuen Fahrgast Platz zu machen.

Nein, sagte ich und schloss die Augen.

Die Ampel wurde grün. Ein junger Mann in einem limefarbenen Kordanzug warf das lange Haar in den Nacken und streckte Margot eine Hand entgegen. »Danke«, sagte er. »Ich bin Toby.«

Ich stieß einen Schrei aus. Ein langen, verzweifelten Schrei. Den Schrei der Verdammten.

»Margot«, sagte Margot, und ich weinte.

»Freut mich, dich kennenzulernen.«