– 6 –

DAS SPIEL

Aufgrund Margots äußerst kritischen Gesamtzustandes hatte die Polizei nichts gegen Dr. Edwards’ Wunsch einzuwenden, das Kind bei sich zu Hause zu behandeln.

Die nächsten beiden Wochen verbrachte Margot in einem weichen, sauberen Bett mit Blick auf grüne Hügel und den blauen Himmel. Nicht dass sie den Ausblick besonders genossen hätte – sie schlief die meiste Zeit. Aber ich machte es mir mit einem guten Buch (Dr. Edwards hatte eine beeindruckende Sammlung von Dickens-Erstausgaben) auf einer Chaiselongue am Fenster bequem. Margot kam an den Tropf und wurde mit frischem Obst und Gemüse sowie Milch aufgepäppelt. Nach und nach verblassten die blauen Flecken an ihren Armen und Beinen und die dunklen Ringe unter ihren Augen. Doch das goldene Licht, das ihr Herz umgeben hatte, kam nicht mehr zurück.

Dr. Edwards (oder Kyle, wie Margot ihn nennen sollte) war verheiratet und hatte zwei Töchter von dreizehn und achtzehn Jahren. Überall standen Fotos seiner Lieben – auf dem Kaminsims, auf den langen Regalen gegenüber der Wendeltreppe, auf seinem viktorianischen Schreibtisch im Arbeitszimmer. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Familie irgendwie gespalten war: Die ältere Tochter, Karina, posierte auf jedem Foto wie ein Supermodel. Hielt sich mit einer Hand die langen, dunklen Haare hoch, stemmte die andere Hand in die ausgestellte Hüfte, machte stets einen Schmollmund und zwinkerte in die Kamera. Noch viel aufschlussreicher aber war, dass Dr. Edwards’ Frau Lou zwar auf jedem Bild den Arm um Karina legte, aber nach einem Lächeln suchte man vergebens. Die jüngere Tochter, Kate, stand immer etwas abseits von ihrer Mutter und Schwester und hielt den Kopf stets leicht geneigt, sodass ihr glattes, dunkles Haar eigentlich immer die Hälfte ihres Gesichts verbarg. Die Hände hatte sie meist vor dem Körper verknotet. Selbst wenn wenig Platz war und sie auf Tuchfühlung gehen mussten, fiel mir auf, dass Kate sich immer so platzierte, dass sie keinen Körperkontakt mit Lou oder Karina hatte.

Außerdem erkannte ich sie. Ein vages Bild löste sich aus den Tiefen meines Gedächtnisses: eine feine Porzellan-Tischlampe, die zu Boden fällt und zerspringt. Ein Spielbrett. Gleißendes Sonnenlicht, das durch die Tür eines Schuppens fällt, und dazu Kates verzerrtes Gesicht – von einem Schrei oder einem Lachen. Ich sah aus dem Fenster in den Garten. Da stand ein großer Holzschuppen. Das musste er sein.

Lou, Kate und Karina verbrachten einen Monat in Dublin bei Lous Eltern. Kyle hielt sich mit diversen Kleinarbeiten rund um das Haus beschäftigt, während Margot schlief, aber aufgrund der jüngsten Ereignisse war er sehr zerstreut. Ein halb fertiges Vogelhäuschen, ein ungestrichener Türrahmen … Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt durchs Haus und sorgte dafür, dass keine Nägel herumlagen, die Margot hätte herunterschlucken oder in die sie hätte hineintreten können.

Ich konnte sehen, was in Kyles Kopf ablief – und zwar buchstäblich. Er hatte Margots Krankenakte aus dem Archiv hervorgeholt und sich nach und nach an jenen Säugling erinnert, den er vor einigen Jahren behandelt hatte – und von dem er nicht geglaubt hätte, dass er überhaupt so alt werden würde. Und schon gar nicht in einem Umfeld, das derart von Drogen und Gewalt geprägt war.

Kurze, von Sorge und Verwirrung geprägte Filme spulten sich hinter seiner Stirn ab, wenn er sich abends vor dem Fernseher einen Gin Tonic genehmigte, um zu entspannen. Doch selbst in der Badewanne setzte sich das Fragenbombardement fort: Wie kann es sein, dass sie noch lebt? Ventrikuläre Tachykardie ist unheilbar War es ein Fehler von mir, ihren Pflegeeltern von ihrem drohenden frühen Tod zu erzählen? Apropos, wo sind die eigentlich? Wie war Margot in dem heruntergekommenen Haus gelandet?

Er konnte nicht schlafen. Ich beobachtete ihn verwirrt dabei, wie er sich in den frühen Morgenstunden nach unten in sein Arbeitszimmer schlich und seinen Schreibtisch mit medizinischen Büchern und Fachzeitschriften pflasterte. Ich wollte ihm so gerne die Antwort auf seine Preisfrage verraten. Denn aus irgendeinem unerfindlichen Grund wusste ich ganz genau, dass Margot nicht an ventrikulärer Tachykardie litt, sondern an einer Verengung der Aortenklappe, die eine transthorakale Echokardiografie, einen Ultraschall des Herzens, erforderte. Damals war ein Herzultraschall etwas, das in etwa so oft vorkam wie ein Huhn mit Zähnen. Ich durchstöberte Kyles Schreibtisch und schlug eine seiner Fachzeitschriften genau dort auf, wo sich ein Artikel von Dr. Piers Wolmar befand, einem Professor an der Universität Cardiff, der sich auf Sonografie spezialisiert hatte. Ich raschelte ein wenig mit den Seiten, um Kyles Aufmerksamkeit zu erregen. Endlich wandte er sich der Zeitschrift zu, nahm sie zur Hand und hielt sie sich knapp vors Gesicht. Es war bereits das achte Mal heute, dass er seine Brille verlegt hatte.

Hoch konzentriert las er den Artikel. Ab und zu ließ er die Zeitschrift sinken und dachte laut nach. Er fing an, seine eigene Diagnose infrage zu stellen. Und wenn es nun gar nicht ventrikuläre Tachykardie war? Was war das für ein Verfahren, das Dr. Wolmar beschrieb? Echokardiografie? Die technische Entwicklung war so rasant, dass ihm ganz schwindelig wurde.

Er machte sich sofort daran, einen Brief an Dr. Wolmar zu verfassen, in dem er von Margots Symptomen berichtete und um mehr Informationen zu einer möglichen Behandlung bat. Als die Sonne kreisrund wie ein Gong über Ulster aufging, schlief Kyle schließlich über den Schreibtisch gebeugt ein.

image

Lou, Kate und Karina kamen aus Dublin zurück. Nein, sie kamen nicht einfach nur zurück: Sie platzten kreischend durch die Küchentür ins Haus, beladen mit jeder Menge vollgestopfter Koffer, und riefen nach Kyle.

Margot rührte sich. Kyle saß neben ihrem Bett und las weitere Artikel über die Echokardiografie von Dr. Wolmar. Als Margot aufwachte, wurde ihr ein Stethoskop auf die nackte Brust gedrückt. Schnell sah sie zu Kyle, dann zu mir. Ich beruhigte sie: Alles in Ordnung. Sie ließ den Kopf zurück aufs Kissen sinken und gähnte. Die Rufe von unten veranlassten Kyle, das Stethoskop wegzupacken.

»So, Margot«, sagte er leise. »Dann sei jetzt mal schön brav und warte hier, während ich mit meiner Frau und meinen Töchtern rede. Die wissen nämlich noch gar nicht, dass du hier bist.«

Margot nickte und rollte sich auf der Seite zusammen. Sie schnitt mir eine Grimasse, und ich tat es ihr nach. Aber als sie das nächste Mal zu mir blickte, konnte sie mich nicht sehen. Sie dachte, ich sei weg.

Ich folgte Kyle die Treppe hinunter. Karina und Lou redeten gleichzeitig auf ihn ein und erzählten minutiös von ihrem Urlaub. Kate saß am Küchentisch und inspizierte ihre Fingernägel. Kyle hob die Hände und bat Karina und Lou, still zu sein.

»Was ist denn, Daddy?«, fragte Karina ärgerlich.

Kyle zeigte nach oben. »Wir haben ein kleines Mädchen oben im Gästezimmer.«

Lou und Karina sahen einander entgeistert an.

»Wir haben was?«

»Würdest du das bitte sofort erklären, Kyle?«

Er ließ die Hände sinken. »Ich werde es erklären, aber nicht sofort. Das Kind ist krank und wahrscheinlich vollkommen eingeschüchtert von dem Lärm, den ihr hier veranstaltet. Ich möchte, dass ihr ganz leise mit nach oben kommt und es begrüßt.«

»Aber …«

Er sah Lou über seine Brille hinweg scharf an, worauf seine Frau den rot geschminkten Mund hielt. Ich schmunzelte. Das muss ja eine Wonne gewesen sein, die letzten zwanzig Jahre mit ihr zusammengelebt zu haben. Dafür hatte Kyle sich wirklich einen Orden verdient. Oder eine Gummizelle, da war ich mir nicht ganz sicher.

Wortlos trottete Kate hinter den anderen her zu Margots Zimmer. Die sie umgebenden Farben verwirrten mich. Manchmal sandte ihr Herz pulsierendes pinkfarbenes Licht aus, das dann plötzlich blutrot wurde und nicht mehr pulsierte, sondern aus ihr herausrann. Selbst der Rhythmus veränderte sich: Statt lebendig wie Herzschlag zu pulsieren – und das tun die meisten Auren, sie fließen und pulsieren wie Herzschlag –, bewegte sich diese Farbe so lethargisch und zäh wie Lava. Manchmal hielt es an ihrem Hals inne und sah aus, als würde es brennen. Und mir ging auf, dass es hinter dieser Fassade eines seelenruhigen Mauerblümchens brodelte. Sie unterdrückte und überspielte eine kolossale Wut. Ich wusste nur nicht, worauf.

Und das war mir zunächst auch herzlich egal. Aber dann bemerkte ich ihr Outfit. Als ich ihr die Treppe hinauffolgte, fiel mir auf, dass sie sich mit allen möglichen satanischen Emblemen schmückte. Sie trug ein schwarzes T-Shirt mit einem roten, gehörnten Teufel auf dem Rücken und Teufel-Ohrstecker. Außerdem hatte sie – und ich glaube nicht, dass ihre Eltern sich darüber im Klaren waren – auf dem rechten Schulterblatt eine zehn Zentimeter große Tätowierung in Form eines auf dem Kopf stehenden Kreuzes.

Auf halbem Weg nach oben blieb sie stehen. Lou, Kyle und Karina gingen ohne sie weiter. Sie drehte sich um und sah mich direkt an. Ihre Augen waren abwasserbraun. Und kalt.

»Verschwinde«, sagte sie nur.

Redet sie mit mir?, dachte ich. Und dann sah ich es, genau wie bei Kyle – Kates Gefühlshülle war mit mir verbunden. Allerdings glich ihr Strang einer dunklen Tentakel und war nicht nur mit mir verbunden, sondern auch mit einer anderen Seite. Einer Seite, die ich noch nicht kennengelernt hatte.

Ich war völlig perplex. Ich sah mich um, und als ich begriff, dass sie tatsächlich mich meinte, dass sie mich also sehen konnte, sammelte ich mich wieder. »Tut mir leid, aber dazu wirst du mich schon zwingen müssen«, erwiderte ich.

»Okay.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber das wird dir ganz bestimmt nicht gefallen.«

Sie wandte sich wieder ab und ging weiter.

Ich schüttelte den Kopf und kicherte, obwohl die Tatsache, dass sie mich sehen konnte, mich völlig aus der Bahn geworfen hatte. Wer – oder was – konnte mich denn noch alles sehen?

Karina geriet in vollkommene Verzückung, als sie Margot sah, und verhätschelte sie vom ersten Augenblick an, als wäre sie eine lebendige Puppe. Noch bevor das Kind den Mund aufmachen konnte, nahm Karina es auf den Arm und trug es in ihr Zimmer, wo sie die Schminkschubladen ihrer Frisierkommode aufzog und Margot in eine Mini-Schönheitskönigin verwandelte. Lou verschränkte die Arme vor der Brust und hielt Kyle verärgert eine Standpauke. Was er sich eigentlich einbildete, ein fremdes Kind anzuschleppen und in ihrem Haus unterzubringen? Und wie lange dieses Kind denn wohl bleiben sollte? Was wäre, wenn ihre drogenabhängigen Pflegeeltern aufkreuzten, um sie zu holen? Und so weiter, und so fort.

Kyle versuchte, seiner Frau zu erklären, dass dies das kleine Mädchen war, das er versorgt hatte, als es am Tag seiner Geburt ins Krankenhaus gebracht wurde, verwaist und halb tot, und dass das Schicksal sie wieder zusammengeführt habe. Er überlegte, ihr auch von mir zu erzählen – der fremden Frau, die er um sechs Uhr morgens auf der Straße getroffen und die ihm gesagt hatte, er solle in das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite eindringen und Margot retten – aber dann ließ er es doch besser bleiben.

»Mein Gott, Kyle, du kannst es einfach nicht lassen, was?«, schrie Lou ihn an. »Immer musst du dich als der große Retter aufspielen! Immer rettest du alle möglichen fremden Leute. Und was ist mit mir? Was ist mit Karina und Katie?«

»Was soll mit ihnen sein?« Er zuckte mit den Schultern.

Sie riss die Hände hoch in die Luft und marschierte aus dem Zimmer. Kyle stieß einen langen Seufzer aus und knackte mit den Fingergelenken. Ich spendete ihm Beifall. Der Nobelpreis für Engelsgeduld geht in diesem Jahr an …

Meine Flügel juckten. Ich ging in Karinas Zimmer und setzte mich neben Margot aufs Bett. Sie war ganz hingerissen von dem ganzen pinkfarbenen und blauen Zeug, das Karina ihr ins Gesicht schmierte. Ich habe mich oft gefragt, wo meine ausgeprägte Vorliebe für Make-up herkam. Meine Adoptivmutter hat sich nie geschminkt, und große Schwestern hatte ich keine. Kate stand in der Tür und sah zu. Erst guckte sie zu mir, dann zu Margot.

»Wer ist das?«

Karina seufzte in übertriebener Manier. »Raus mit dir, Kate. Margot und ich spielen Kosmetiksalon, und zwar ohne dich.«

»Sie heißt Margot?«

»Margot«, plapperte Margot nach und lächelte stolz. Da endlich erwiderte Kate ihr Lächeln. Halbwegs.

»Ich glaube, wir werden viel Spaß miteinander haben, Margot.«

Und damit drehte sie sich um und ging.

image

Nach und nach kam Margot immer mehr aus sich heraus – wie ein Krebs, der sich aus seinem Panzer hinaus in die warme Tropensonne wagt. Im Handumdrehen hatte sie sich in eine Mini-Karina verwandelt: Sie eignete sich die gleichen Redensarten an (»Das ist ja so super!«), bestand darauf, sich wie Karina zu kleiden, und tanzte abends, wenn sie längst im Bett liegen sollte, mit ihr auf Beatles-Songs. Und sie entwickelte einen Mordsappetit.

Ich hatte ja keine Ahnung, was für ein bezauberndes Kind ich gewesen war. So lustig und unschuldig. Einmal wachte Margot völlig verängstigt aus einem Albtraum auf, den ich mitverfolgt hatte. Sie hatte von der Zeit bei Sally und Padraig geträumt. Ich nahm sie in den Arm und wiegte sie auf ihrem Bett, damit sie die anderen nicht mit ihren Schreien weckte. Ich konnte sehen, wie sich der Schmerz ganz eng um ihr Herz legte. Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich darauf, wieder genau die Kraft zu sammeln, mit der ich sie schon einmal geheilt hatte. Das sanfte goldene Licht, das zu einem entfernten, schwachen Glimmen verblasst war, flackerte wie eine Kerze. Ich strengte mich noch mehr an. Das Licht wuchs auf Tennisballgröße an und war damit groß genug, ihr Herz zu umschließen. Ihre Atmung beruhigte sich. Ich konnte ihr Herz sehen – und die Gefahr, die darin lauerte. Margot war ein Kind voller Ruhe und Liebe, aber das Problem in ihrem Herzen wuchs und musste dringend behandelt werden. Ich konnte nur hoffen, dass Kyle sich beeilen würde.

Am nächsten Morgen bekam Kyle einen Brief von Dr. Wolmar, in dem er ihm mitteilte, dass er ihm gerne demnächst einmal einen Besuch abstatten und ihn in die Grundlagen der Echokardiografie einweisen würde – welches Gerät benötigt wurde, wie man vorging usw. Er schrieb außerdem, dass er nach Kyles Schilderung von Margots Symptomen darauf tippte, dass das Kind an einer Verengung der Aortenklappe litt – was wiederum gut behandelbar war.

Karina war im Esszimmer und demonstrierte Margot, wie man Jive tanzt. Lou war einkaufen. Da ertönte eine Stimme aus dem Garten: »Margot! Margot! Komm raus, spielen!«

Es war Kate. Sie grinste. Kyle hob den Blick, sah seine Tochter und sprang auf. Vor Freude darüber, dass Kate endlich einmal lächelte. Er eilte ins Esszimmer. »Margot!«, rief er. »Komm und spiel mit Katie!« Karina blickte düster. »Mit Katie und was? Dolchen? Oder mit Tieren, die sie quält?« Kyle runzelte die Stirn. »Hör bitte auf damit, Karina. Komm schon, Margot!«

Er nahm sie bei der Hand und ging mit ihr in den Garten. Margot zierte sich, als sie Kate sah. Erst guckte sie zu Kyle, dann zu mir. Ich nickte. Ja, Kleines, ich bleibe bei dir. Mach dir keine Sorgen.

Kate winkte und lud Margot ein, mit ihr im Schuppen zu spielen.

»Will nicht«, sagte Margot.

»Nun komm schon, Dummerchen«, lächelte Kate. »Da gibt’s Schokolade. Und die Beatles.«

»Beatles?«

»Ja, Beatles.«

Und schon hüpfte Margot vergnügt in Richtung Schuppen.

Kaum war sie drin, verriegelte Kate die Tür. Mit einem Blick durchs Fenster vergewisserte sie sich, dass ihr Vater immer noch im Haus war, dann zog sie die Vorhänge zu, um die Sonne auszuschließen. Aufgewirbelter Staub legte sich auf ein paar alte Fahrräder und einen auseinandergenommenen Rasenmäher. Ich verzog mich in eine Ecke und wartete. Kate sah mich an, dann wieder Margot. Was hat das Mädchen bloß vor?

»Also, Margot«, sagte sie. »Wir spielen jetzt ein kleines Spiel. Spiele machen doch Spaß, oder?«

Margot nickte und wirbelte herum, dass ihr Rock sich hob. Sie wartete auf die Beatles. Kate legte das Spielbrett auf den Boden, und in dem Moment gingen mir zwei Dinge auf:

1. Das war das Spielbrett, an das ich mich erinnern konnte.

2. Es war kein Spielbrett. Es war ein Ouija-Brett.

Kate setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Margot tat es ihr nach.

Blitzschnell überlegte ich, ob ich ins Haus gehen und Kyles Aufmerksamkeit erhaschen oder ob ich bleiben und zusehen sollte, was Kate vorhatte.

Sie drückte mit einem Finger auf das Pappdreieck, dessen eine Spitze auf die Buchstaben auf dem Brett zeigte.

»Das hier wird uns verraten, wie dein Engel heißt«, erklärte sie Margot.

Margot antwortete mit einem Lächeln. Sie drehte sich direkt zu mir um und sah mich freudig erregt an.

»Wie heißt dieser Engel hier?« Kates Stimme klang hart und kalt.

Eine seltsame Dunkelheit legte sich über den Schuppen. Margot sah sich um und schauderte. »Ich will zu Karina«, sagte sie leise.

»Nein«, sagte Kate. »Wir spielen jetzt ein Spiel. Schon vergessen?«

Sie ließ das Pappdreieck los. Wie von Geisterhand fing es an, sich langsam zu bewegen. Erst zum R. Dann zum U. Dann zum T. Dann zum H. Tag auch. Freut mich gar nicht, Ihre Bekanntschaft zu machen.

»Ruth«, sagte Kate mit funkelnden Augen. »Verschwinde.«

Ich rührte mich nicht. Mehrere Sekunden fixierten wir einander. Ich nahm am hinteren Ende des Schuppens einige dunkle Gestalten wahr. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit verspürte ich Angst. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete.

»Gut«, sagte Kate. »Diener des Teufels, schafft Ruth hier weg.«

Margot erhob sich. »Ich will raus«, sagte sie mit bebenden Lippen. Auch sie konnte die dunklen Mächte spüren. Ich musste sie hier wegschaffen. Ich tat einen Schritt nach vorn, um sie abzuschirmen. Dann sah ich die große schwarze Gestalt, die sich auf mich zubewegte. Kate fing an, düstere Beschwörungsformeln zu schreien, die jenem üblen Zeug entspringen mussten, mit dem sie sich heimlich beschäftigte.

Ich sprach laut und deutlich zu ihr: »Kate, du hast keine Ahnung, womit du es hier zu tun hast ...«

Ich hatte den Satz noch nicht beendet, da wurde auch schon etwas nach mir geworfen. Ich hob die Hand und erzeugte einen grellen Lichtstrahl, der den ganzen Raum erleuchtete. Als das Licht auf das fliegende Objekt traf, veränderte es dessen Flugrichtung und ließ es zu Boden stürzen. Doch was oder wer auch immer das Ding nach mir geworfen hatte, kam jetzt mit so schweren Schritten auf mich zu, dass der gesamte Schuppen vibrierte.

Ich versuchte, noch einen Lichtstrahl auszusenden, aber es gelang mir nicht. Ich spürte, wie dieses Etwas auf mich zuraste, groß wie ein Elefant. Margot schrie. Ich stand vor ihr, schloss die Augen und konzentrierte mich irrsinnig. Plötzlich schoss mit einer solchen Wucht Licht aus meiner Hand, dass ich ins Taumeln geriet. Es machte laut »puff«, und damit löste sich die Dunkelheit, die sich beinahe auf uns gelegt hätte, in Rauch auf.

Die Tür flog auf, Sonnenlicht durchflutete das Innere des Schuppens. Gerade eben hatte es noch geregnet. Jetzt war der Himmel strahlend blau, und die Sonne schien so grell, dass sie die Dunkelheit wie ein weißes Messer durchschnitt.

Margot rannte weinend zum Haus. Ich blieb stehen, wo ich war, während Kate verdutzt auf dem Boden lag. Und neben ihr eine in tausend Stücke zerborstene Porzellanlampe.

»Ich würde dir empfehlen, dir ein neues Spiel zu suchen«, sagte ich zu Kate, bevor ich Margot ins Haus folgte.

Kate rührte das Ouija-Brett nicht wieder an.