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SIEBEN TAGE
Aschenputtel legte ihre Lumpen ab und schlüpfte in das Ballkleid – ich legte mein blaues Kleid ab und schlüpfte in die Zeit.
Ich ließ zu, dass Grogor einige Handvoll heißen Teers aus den Kesseln der Hölle auf meine Flügel schmierte, und als das Wasser aufhörte zu fließen und ich begann zu fühlen, schrie ich laut auf. Der heiße Teer schmerzte, und ich zitterte, weil die nasse Kälte der Badezimmerfliesen mir über die nackten Füße in den Körper kroch, und ich taumelte, weil mich mein eigenes Körpergewicht überraschte – als habe man aus großer Höhe einen Elefanten auf mich plumpsen lassen.
Ich bewegte mich also nicht ganz so anmutig wie Aschenputtel. Aber ich hinterließ einen gläsernen Schuh. Oder zumindest schrumpfte mein blaues Kleid, kaum dass ich es ausgezogen hatte, zu einem kleinen blauen Edelstein zusammen. Den versteckte ich in Margots Kommode. In dem Moment war ich bereits ein Spion in der Welt der Menschen. Ich musste alles verstecken, was ein Hinweis darauf sein könnte, was ich getan habe, bis ich das erreicht hatte, was ich erreichen wollte. Nämlich mich mit Theo zu versöhnen und seine Wunden zu heilen. Vielleicht ging ich die Sache mit einer naiven Arroganz an. Aber ich glaubte fest daran, dass ich trotz meines kläglichen Versagens als Mutter beim ersten Versuch jetzt bei einem zweiten Versuch in der Lage sein würde, seine Schmerzen mit dem Balsam mütterlicher Liebe zu lindern. Und dass ich gleichzeitig langfristig etwas bewirken könnte, indem ich Margot bewusst machte, wie sehr er sie brauchte, und sie dazu brachte, zu erkennen, wie verletzlich er war und wie sehr er litt.
Ich hatte den Zeitpunkt sehr sorgfältig gewählt. Ich sah dabei zu, wie Margots Scheidungsanwalt ihr riet, sich vier Wochen in eine Entzugsklinik zu begeben, um dem Richter zu beweisen, dass sie der Verantwortung als Mutter gewachsen war. Um zu beweisen, dass sie das alleinige Sorgerecht oder zumindest – schlimmstenfalls – das gemeinsame Sorgerecht verdient hatte. Kein Problem, sagte sie, obwohl sie nicht sicher war, ob sie das wirklich wollte. Sie wusste nur, dass sie etwas für sich erreichen wollte, irgendetwas, nur um zu beweisen, dass sie noch nicht alles verloren hatte.
Margot begab sich also in die Obhut von Riverstone, einer vornehmen Entzugsklinik in der Nähe der Hamptons, und ich befand mich auf einmal ganz allein in ihrer Wohnung, durchstöberte ihren Kleiderschrank, trank ihre Milch und nahm einfach ihren Platz in der Welt ein. Theo war bei Toby, der ganz in der Nähe wohnte. An jenem ersten Tag war ich vollkommen fasziniert davon, meine Haut und meine Haare zu spüren, warm und kalt, und das Gefühl von Hunger, während ich mir eine Pizza bestellte.
Als ich die große Pfannenpizza mit extra viel Peperoni und Käse zerschnitt, geriet meine Daumenspitze unter das Messer. Ich musste an ein Plath-Gedicht denken – »Kleiner Pilger, skalpiert von der Axt der Indianer« –, und dann quoll auch schon das Blut aus dem weißen Fleisch und lief mir wie rote Tinte am Arm hinab. Ich wusste kaum mehr, was ich dagegen tun sollte, bis mir die Vase mit den Sonnenblumen auf dem Esstisch auffiel und ich meine Hand hineinhielt. Die Wunde pochte und brannte.
Es war alles viel schwieriger. Wenn ich einen Tisch ansah, konnte ich nicht durch ihn hindurch ins Nachbarzimmer sehen. Ich sah auch nicht die Spuren der Menschen, die einst dort gesessen hatten, oder die Holzmaserung unter der Farbe. Ich sah die Zeit nicht wie einen Sandsturm aus Wellen und Teilchen. Hätte mich in der Nacht jemand beobachtet – er hätte ganz sicher die Männer in den weißen Kitteln geholt. Ich verbrachte eine Menge Zeit damit, mich Zentimeter für Zentimeter mit der Wange direkt an den Wänden entlangzuschieben, beeindruckt von der plötzlichen vertrauten Materialität dieser Welt. Ich klopfte gegen die Backsteine und erinnerte mich an die Illusion von Grenzen, die das sterbliche Leben durchziehen, und die tiefe, bedingungslose Akzeptanz, die man aufbringt, sobald man in einem Körper aus Fleisch und Blut steckt.
Vielleicht bestand mein größtes Verbrechen darin, Margot zu verlassen, sie in einer Zeit ihres Schutzengels zu berauben, in der sie ihn am nötigsten brauchte. Nur ungern wandte ich mich an Nan. Ich wusste ja genau, was mich da erwartete.
Ich hörte ihre Stimme wie aus einer weiten Entfernung – als befände die Sprecherin sich am Ende des langen Flurs.
»Begreifst du, was du getan hast?«
Ich sah mich um. »Wo bist du?«
»Neben dem Tisch.«
Ich blinzelte. »Warum kann ich dich nicht sehen?«
»Weil du einen Handel mit einem Dämon eingegangen bist. Einen Handel, der bedeuten kann, dass du alles verlierst und nichts gewinnst.«
Ihre Stimme bebte, so gefühlsgeladen war sie. Ich ging zum Tisch. Dann konnte ich sie endlich sehen. Sie stand hinter der Vase mit den Sonnenblumen und sah aus wie durchs Fenster fallendes Mondlicht.
»Ich wusste, dass du das nicht verstehen würdest, Nan«, seufzte ich. »Aber es ist ja nicht für die Ewigkeit. Ich habe sieben Tage Zeit, um gewisse Fehler zu korrigieren.«
»Möglicherweise hast du nicht einmal sieben Stunden Zeit«, entgegnete sie.
»Was?«
Das sie umgebende Licht zitterte, als sie einen tiefen Seufzer ausstieß. »Du bist so verletzlich wie ein Papierboot in einem Tsunami. Weißt du eigentlich, dass du dich zu einer Dämonen-Zielscheibe gemacht hast? Du kannst dich nicht mehr gegen sie zur Wehr setzen wie ein Engel, aber dir fehlt auch der gottgegebene Schutz eines Menschen, weil du jetzt nämlich weder Mensch noch Engel bist. Jetzt bist du nichts anderes als Grogors Marionette. Er wird nicht abwarten, ob Gott dich nun in die Hölle schickt oder nicht. Er wird höchstpersönlich versuchen, dich hineinzubefördern.«
Ich schwieg, um das Gesagte zu verdauen. Meine Knie gaben fast unter mir nach, als ich es endlich begriff.
»Hilf mir«, flüsterte ich.
Sie streckte den Arm aus und nahm meine Hand. Ihre stets dunkle und faltige Haut glitzerte wie feiner Nebel.
»Ich werde tun, was ich kann.«
Und damit ließ sie mich wieder allein, allein mit dem Blick über die Stadt, den ich hilflos wahrnahm, während ich mich nach der Anwesenheit von Erzengeln sehnte.
Ich schlief lange, manövrierte mich mühsam aus dem Bett und verbrannte mich dann unter der Dusche, weil ich vergessen hatte, dass Rot heiß bedeutete und Blau kalt. Ich zog mir ein Paar von Margots Jeans und ein schwarzes Hemd an und suchte dann nach Schminksachen. Ich blickte in den Spiegel: Ich sah jünger aus, als Margot es jetzt war. Etwas schlanker, etwas gesünder. Meine Haare waren länger und dunkler, meine Augenbrauen heller und leider breiter als ihre. Ich fand Lippenstift, eine Pinzette und Rouge. Dann kippte ich mir eine Flasche Bleichmittel auf den Kopf und konnte nur hoffen. Als Nächstes eine Schere. Als ich mit allem fertig war, hatte ich die drohende Dämonengefahr völlig vergessen und war fest entschlossen, mich an meinen Plan zu halten.
Ich trat hinaus in die kühle Manhattaner Morgenluft und wollte eigentlich mit dem Bus zu Theos Schule fahren, aber dann genoss ich die frische Brise in meinem Gesicht so sehr, dass ich die dreißig Blocks zu Fuß ging. Eine mir entgegenkommende Frau sagte »Guten Morgen« und ich erwiderte: »Ja, ein wunderbarer Morgen!« Ein Obdachloser bat um Kleingeld, und ich blieb stehen und sagte ihm, wie glücklich er sich schätzen könne, leben zu dürfen. Mit offenem Mund sah er mir nach, als ich lachend weiterging und mich daran erfreute, dass ich mit den Menschen reden konnte, dass sie mich hören konnten, mir zuhörten und antworteten.
Ich verlangsamte den Schritt, als ich mich dem Tor zu Theos Schule näherte. Ich musste mir sehr genau überlegen, was ich als Nächstes tat. Denn das hier war kein Traum mehr, kein Brief, den ich umschreiben, kein Auftritt, den ich wiederholen konnte. Es fühlte sich an, als würde jedes Wort, jede Handlung jetzt in Stein gemeißelt. Nein, es fühlte sich noch viel größer an, viel gewichtiger. Es fühlte sich an, als würde ich in den Stein schneiden, in den bereits gemeißelt wurde. Und wenn ich nicht aufpasste, könnte der Stein auseinanderbrechen.
Ich überlegte, bis Schulschluss zu warten, Theo am Tor abzufangen und ihn dann zu einem Spaziergang einzuladen. Aber was sollte ich tun, falls Toby aufkreuzte? Oder falls Theo mich sah und abhaute? Ich beschloss, doch ins Schulgebäude hineinzugehen und ihn aus der Klasse zu holen. Wenn sein Lehrer ihm sagte, dass er mit mir hinausgehen sollte, dann würde er es wahrscheinlich tun, wenn auch widerwillig.
Ich meldete mich im Sekretariat an. Ich erkannte Cassie wieder, die Schulsekretärin mit den schweren Augenlidern, und lächelte sie entwaffnend an. Sie erwiderte mein Lächeln nicht. Ich erinnerte mich, dass wir uns schon ein paarmal über den Weg gelaufen waren. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, schürzte die Lippen und sagte:
»Kann ich Ihnen helfen?«
Unwillkürlich musste ich kichern. Ich war immer noch ganz hin und weg, weil die Leute alle mit mir redeten. Aber sie dachte wahrscheinlich, ich sei high.
»Hallo, guten Tag! Äh. Ja. Ich bin Ruth … nein, Entschuldigung. Stimmt nicht. Ich bin Margot. Margot Poslusny.«
Sie sah mich aus weit aufgerissenen Augen an. Gut, ich habe gerade Mist gebaut. Ich bin Margot, Margot, Margot, bläute ich mir selbst ein. Und dann fiel mir auf, dass ich das wohl laut gesagt hatte, denn Cassie fiel fast die Kinnlade herunter.
»Ich bin die Mutter von Theo Poslusny«, fuhr ich fort. Ganz langsam, als wäre Englisch eine Fremdsprache für mich. »Ich müsste ihn bitte mal eben aus dem Unterricht holen. Es geht um einen Notfall in der Familie.«
Ich presste die Lippen aufeinander. Reden ist verdammt gefährlich, dachte ich. Cassie nahm den Telefonhörer und wählte. Die Chancen standen fifty-fifty. Entweder rief sie in der Psychiatrie an oder in Theos Klassenzimmer.
»Ja, hier ist das Sekretariat. Theo Poslusnys Mutter steht hier und möchte gerne mit ihm reden. Hmhm. Schön.«
Sie legte auf, blinzelte mich an und sagte dann:
»Er ist auf dem Weg.«
Ich salutierte und schlug die Fersen gegeneinander. Fragen Sie mich nicht, wie ich zu solchen Faxen kam – Tourette-Syndrom? Ich sah mich um, entdeckte einen Stuhl, schoss darauf zu, setzte mich, schlug die Füße übereinander und verschränkte die Arme.
Und dann kam Theo. Der Rucksack hing ihm von einer Schulter, das blaue Hemd aus der Hose. Die roten Haare hatte er mit Pomade in Form gebracht. Theo hatte die gleichen fleckig verteilten Sommersprossen wie sein Vater, seine Nase war noch niedlich und weich, seine Turnschuhe waren schmutzig und kurz davor, auseinanderzufallen. Auf Theos zerknirschtem Gesicht zeichneten sich Verwirrung, Misstrauen und Härte ab.
Und ja, ich brach in Tränen aus. Und ich widerstand dem Drang, vor ihm auf die Knie zu fallen und ihn für alles um Verzeihung zu bitten, selbst für Dinge, die er noch gar nicht erlebt hatte. Ich zügelte auch die Woge des schlechten Gewissens, die ich vor ihm hatte ausschütten wollen, und zwang mich stattdessen mühsam zu einem einfachen »Hallo Theo«. Es kam mir vor, als würden die Worte gar nicht in meinen Mund passen. Als wären sie ganz sperrig vor lauter Sehnsucht und von den Jahren des Wartens und dem plötzlichen, unerträglichen Verlangen, ihn in den Arm zu nehmen.
Er sah mich einfach nur an. Cassie kam uns zur Hilfe.
»Hallo Theo.« Sie lächelte. »Deine Mutter hat gesagt, dass es einen Notfall in der Familie gibt. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst, okay? Mach dir keinen Druck. Du weißt, ich stehe hinter dir, ja?«
Sie zwinkerte.
Ich war dankbar für das kurze Zwischenspiel. Ich riss mich zusammen und schluckte meine Tränen herunter. Theo war immer noch völlig verwirrt und gestattete mir, die Hand auf seine Schulter zu legen. Gemeinsam gingen wir hinaus in die Sonne.
Wir waren bestimmt schon zwei Häuserblocks gegangen, als er schließlich etwas sagte.
»Ist Dad tot?«
Ach, meine Finte mit dem Notfall in der Familie. Hatte ich ganz vergessen. Ich blieb stehen.
»Nein, nein, Toby geht es gut. Ich wollte einfach nur … ein bisschen Zeit mit dir verbringen, weißt du?«
Theo schüttelte den Kopf und entfernte sich von mir. Ich lief ihm hinterher.
»Theo? Was ist denn?«
»Immer musst du so was machen.«
Ach, ja?
»Was denn?«, fragte ich. »Was machen?«
»Lass mich in Ruhe«, wehrte er ab und ging noch schneller. »Ich wusste genau, dass du lügst. Was willst du denn dieses Mal, he? Willst du mich entführen, um Dad eins auszuwischen? Willst du mich gegen ihn aufhetzen? Ist es das? Vergiss es.«
Er marschierte weiter. Jedes einzelne Wort fühlte sich an wie ein Tritt in den Brustkorb. Ich stand da und sah ihm eine Weile nach, dann kam ich wieder zu mir und rannte ihm hinterher.
»Theo, hör mir bitte zu.«
Er blieb stehen, atmete tief und weigerte sich, mich direkt anzusehen.
»Was, wenn ich dir sagen würde, dass wir alles machen können, alles, wonach uns der Sinn steht in dieser Welt? Was würdest du dir wünschen? Was würdest du mehr als alles andere auf der Welt tun wollen?«
Nun sah er mich doch an, um sicherzugehen, dass ich es ernst meinte.
»Ich hätte gerne hundert Dollar.«
Ich dachte kurz nach. »Gebongt. Was noch?«
»Einen Nintendo. Mit zehn Spielen.«
»Gut. Was noch?«
»Ich will ein Luke-Skywalker-Kostüm mit Cape, Stiefeln, Schwert und allem!«
»Gute Wahl. Sonst noch was?«
Er dachte nach. Ich versuchte, ihn in die richtige Richtung zu lenken.
»Gibt es etwas, was du gerne machen würdest? Zusammen mit mir? Einen Ausflug in den Zoo oder so? Abendessen und ins Kino gehen? Komm schon, ich lad dich ein.«
Er zuckte mit den Schultern. »Nö.« Dann ging er wieder weiter. Und ich sah ihm wieder nach. Dann fiel mir ein, dass James sicher ganz in der Nähe war.
»James«, flüsterte ich. »Kannst du mir nicht helfen?«
Da hörte ich eine Stimme: »Er will mit dir und Toby Karten spielen.«
Karten spielen? Das war alles? Und dann blitzte eine Erinnerung an uns drei auf. Von einem Versuch, alles wieder geradezubiegen. Da war Theo kaum älter als sechs. Toby hatte mithilfe eines Kartenspiels versucht, Theo das kleine Einmaleins beizubringen, und ehe wir es uns versahen, saßen wir auf dem Wohnzimmerfußboden, brachten Theo die Grundregeln des Poker bei und lachten Tränen, als er uns beide binnen einer Stunde eiskalt abgezockt hatte.
Es war nur ein einziger Abend gewesen, und trotzdem wollte dieser Junge lieber Karten spielen als einen Ausflug ins Disneyland oder zu Sea World machen. Das spricht wohl Bände.
»Wie wär’s mit einer Runde Karten?«, rief ich ihm hinterher. Er blieb stehen. Schnell lief ich auf ihn zu. »Du weißt schon, du, ich und Dad. Wie in alten Zeiten.«
»Du und Dad.« Er fixierte mich. »Du hasst Dad.«
Ich trat einen Schritt zurück. Wenn du wüsstest, dachte ich. »Ich hasse ihn nicht«, war die beste Antwort, die mir einfiel. »Ich liebe deinen Vater.«
Er sah mir an, dass ich die Wahrheit sagte. »Kann gar nicht sein.« Ich wiederholte es, und er glaubte mir. Ich glaube, das rüttelte ihn ein wenig auf, ließ Möglichkeiten in seinem Kopf herumsausen wie Murmeln, entzündete eine Kerze tief in ihm drin.
»Die anderen Sachen will ich gar nicht«, sagte er. »Ich will nur Karten spielen.«
Puh, dachte ich. Ich hatte nämlich absolut keine Ahnung, wo ich die hundert Dollar hätte herzaubern sollen.
Wir gingen nach Hause. Nan war da, als ich meinen Mantel aufhängte, sie glich wieder einem schimmernden Nebel und stand neben der Treppe. Ich machte einen erleichterten Stoßseufzer. Sie gab mir Rückendeckung. Trotzdem zerbrach ich mir den Kopf, denn ich hatte eigentlich nicht geplant, mich auf diesem Ausflug auch mit Toby zu befassen. Es war mir einzig und allein darum gegangen, etwas für Theo zu tun, ihn zu verändern, die Dinge zu sagen und zu tun, die die Wunden heilen würden, die ich ihm in jungen Jahren zugefügt hatte.
Aber natürlich hätte ich es wissen sollen. Wer sonst, wenn nicht ich? Manchmal bricht der Stein eben erst Jahrhunderte nach dem Schlag entzwei.
Ich rief Toby in seiner Wohnung an – ich wusste, dass er dort arbeitete, er lag in den letzten Zügen mit seinem neuesten Buch. Er hörte den Unterton in meiner Stimme und fragte sofort:
»Was ist los?« Er klang steif und misstrauisch.
»Ähm, nichts, wirklich nicht. Theo und ich wollten bloß fragen, ob du heute Abend vielleicht eine Runde Poker mit uns spielen möchtest?«
Kurze Pause. »Soll das ein Witz sein?«
Ich blinzelte. Theo lächelte, das machte mir Mut. Dann gestikulierte er, als würde er essen. »Und … ich glaube, Theo möchte, dass wir uns irgendwo was zu essen holen.« Theo machte eine Kung-Fu-Bewegung. »Was Asiatisches.«
»Margot.« Toby klang hart und ungeduldig. »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du einen Monat in eine Entzugsklinik gehst. Oder hast du auch dieses Versprechen gebrochen?«
Die Wut in seiner Stimme brachte mich aus dem Konzept. Ich zögerte. Gaia, dachte ich. Bitte sorg dafür, dass er mir eine Chance gibt. Nur eine. Dieses eine Mal.
»Toby«, sagte ich leise. »Es tut mir leid. Es tut mir leid.«
Ich sah, wie sich Theos Miene vor unbändiger Freude schlagartig veränderte – sie schmolz dahin. Am anderen Ende der Leitung hörte ich Toby immer langsamer atmen. Ich konnte mir vorstellen, was ihm alles durch den Kopf ging – Ist sie high? Schwanger? Todkrank? –, bis er zu dem Schluss kam, dass ich es ernst meinte.
»Hör zu, Margot«, sagte er, doch da fiel ich ihm ins Wort.
»In die Klinik gehe ich nächste Woche, Toby, ich geb dir mein Wort. Ich verspreche es. Nächste Woche verschwinde ich, um clean zu werden.« Ich lachte. »Und jetzt komm her, bevor Theo und ich ohne dich anfangen zu zocken!«
So kam es, dass ich zum ersten Mal seit über dreißig Jahren mit meinem Sohn und meinem Mann zusammensaß und Poker spielte – ein Spiel, das ich so lange nicht gespielt hatte, dass die beiden den Großteil der Zeit damit verbrachten, mir die Regeln neu beizubringen, mir den Sinn des Spiels wie einer Zweijährigen zu erklären und sich königlich darüber zu amüsieren, wie doof ich geworden war. Und ich aß chinesisches Essen – mit einer Gabel statt mit Stäbchen, was zu mehr Erheiterung führte –, und dann tat ich alles, aber auch alles, um Theo zum Lachen zu bringen, um seiner Stimme einen federleichten, sorgenfreien Klang zu geben, und ich fing Gespräche an über Themen, von denen ich wusste, dass sie ihn interessierten. Die Adern an seinen Schläfen schwollen an vor freudiger Erregung, als es um den neuen Spielberg-Film ging. Er erklärte, dass er auch Schauspieler werden wollte. Toby sah wie beim Tennis von einem zum anderen, hielt dabei die Karten hoch wie ein Pfauenrad, lächelte und dachte sich seinen Teil.
Als es zehn Uhr war und Theos kleiner Körper kurz davor war, wie eine Tüte Popcorn vor Aufregung zu platzen, brachte Toby ihn ins Bett. Wenige Minuten später kam er wieder nach unten. Er nahm seinen Mantel vom Sessel, hängte ihn sich über die dünnen Schultern und sagte: »Na, dann gute Nacht.«
»Moment«, sagte ich.
Er legte die Hand auf die Türklinke und wartete.
»Musst du wirklich schon wieder los?«, fragte ich, und es klang gekünstelt. Ich rang mir ein Lachen ab.
Er drehte sich um. »Was willst du, Margot?«
Ich faltete die Hände. »Ich will, dass du weißt, dass es mir leid tut.«
Er biss die Zähne aufeinander.
»Und was genau? Dass du dich seit Wochen jeden Tag den ganzen Tag vor deinem Kind besäufst? Dass du mit seinem Lehrer ins Bett gegangen bist und den Jungen damit zum Gespött der ganzen Schule gemacht hast? Dass du ihn in schmutzigen Klamotten aus dem Haus schickst, dass du nicht mit ihm zum Arzt gegangen bist, als sein Blinddarm entzündet war, oder was?«
Ich machte den Mund auf, aber es kam kein Laut heraus. Toby sprach weiter.
»Oder meinst du vielleicht, wie du mich behandelt hast, Margot? Wir könnten uns eine ganze Nacht um die Ohren schlagen, um das alles aufzulisten. Ich sag dir was: Mir tut es leid. Wie klingt das?«
»Was tut dir leid?«
»Es tut mir leid, dass ich deine Entschuldigung nicht annehmen kann. Ich glaube dir nämlich nicht. Ich kann nicht.«
Ohne mich noch einmal anzusehen, verließ er die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.
Am nächsten Morgen brachte ich Theo zur Schule. Ich wachte in einem nassen Bett auf, was nur eins bedeuten konnte: Meine Flügel kamen wieder. Ich hatte nicht mehr viel Zeit.
Toby ging – nein, er sprang – neben mir her und plapperte von einer zweiten Runde Poker mit Dad und mir, davon, wie cool es gewesen war, dass er drei Asse und einen Buben hatte, während ich bloß mit ein paar Dreien und Neunen dasaß, davon, dass wir an seinem Geburtstag vielleicht alle zusammen in den Zoo gehen könnten … Und ich dachte an Margot. Meine Aktion musste dringend von Dauer sein. Ich würde sie irgendwie konfrontieren und dafür sorgen müssen, dass sie nicht wieder zerstörte, was ich während meines kurzen Besuches hier erreichte. Ich hatte Angst, nein, ich hatte panische Angst, dass Margot nach allem, was ich getan hatte, nach allem, was ich geopfert hatte, alles wieder zunichtemachen würde, indem sie zum Beispiel ganz schlicht nachfragte, wer Theo an jenem Tag von der Schule abgeholt hatte. Was, wenn alles, was ich tat, Theos und Tobys Erwartungen so hochschraubte, dass Margot sie mit einem Handstreich abstürzen und irreparabel am Boden zerschellen lassen konnte?
Ich ging zur Riverstone-Klinik. Das weiße Gebäude breitete sich groß und ufoförmig auf einer Wiese aus, zwischen seinen weißen Säulen saßen friedliche Bronzebuddhas, und hinter den umgebenden Sträuchern glitzerte ein Ententeich. Ich folgte den Schildern zur Rezeption.
Meine Erinnerung an Riverstone war, gelinde gesagt, vage. Nur sehr kurze Szenen blitzen in meinem Gedächtnis auf: eine herablassende Therapeutin in einem Zimmer, das nach Schwimmbad roch. Ein morgendlicher Blick auf meine Hände, der mir offenbarte, dass mir an jeder Hand zwei zusätzliche Finger gewachsen waren. (Das waren sicher die Nebenwirkungen der Beruhigungsmittel, denn die zusätzlichen Finger fielen mir auch bald wieder ab.) Eine Frau, die lächelte, mich bei der Hand nahm und mir etwas über Kängurus erzählte.
Die Frau an der Rezeption saß in einem hypermodernen Kasten, der sich unter einer Glaskuppel befand. Ich stellte mich als Ruth vor und war richtig erleichtert, endlich mal meinen eigenen Namen benutzen zu können.
»Und Sie sind Ms. Poslusnys … Schwester?«
Ich hatte mir viel Mühe gegeben, um mein Äußeres zu verändern. Ich trug eine Brille. Eine Baskenmütze. War stark geschminkt. Aber das hatte offenbar nicht viel gebracht.
»Cousine«, sagte ich.
»Hab ich doch gleich gesehen.« Sie lächelte. »Also, normalerweise lassen wir eigentlich keinen Besuch …«
»Es ist ein Notfall«, sagte ich. Und das stimmte ja. Es war ein Notfall. »Eine Verwandte von uns liegt im Sterben, und ich möchte gerne, dass sie es jetzt erfährt und nicht einen Monat, nachdem sie gestorben ist.«
Die Frau wirkte erschrocken. »Oh. Äh, gut. Ich rufe ihre Therapeutin. Aber versprechen kann ich nichts.«
Man geleitete mich in die Gemeinschaftsräume, wo Margot und die anderen »Gäste« offenbar eine »stille Stunde« verbrachten. Es sah todlangweilig aus. Margot drehte hier wahrscheinlich durch. Das würde ich an ihrer Stelle jedenfalls. An den Wänden hingen große, in Gold gerahmte Bilder mit Wörtern wie »Akzeptanz« und knackigen Sprüchen wie »Haltung durch Gestaltung« darunter. Ich verdrehte die Augen und stellte mir vor, die Texte auszutauschen mit »Zynismus« und »Versagen ist die Regel«. Es geht doch nichts über einen ausgeprägten Realitätssinn, wenn es darum geht, die Genesung zu unterstützen. Insgesamt war davon auszugehen, dass wer auch immer diese Räumlichkeiten entworfen hatte, »Genesung« mit massenweise weißen Veloursofas, gläsernen Couchtischen, zahllosen Teelichtern und Tulpen gleichsetzte. Aus unsichtbaren Lautsprechern rieselte klassische Musik. Ich sah auf die große Uhr à la Big Ben, die über der Tür hing, und schon klopfte mein Herz schneller. Wenn sie mir jetzt sagten, ich solle morgen wiederkommen, war ich erledigt.
Die Therapeutin – eine kleine, schwarzhaarige, drahtige Kanadierin namens Dr. Gale – empfing mich bei den weißen Türen zum Gemeinschaftsraum, nahm mich beim Arm und sah mir durch ihre Brille tief in die Augen.
»Es tut mir leid, aber ich kann sie nicht zu Margot lassen«, sagte sie. »Das verstößt gegen unsere Politik. Ich kann ihr aber gerne eine Nachricht von Ihnen überbringen.«
Ich dachte kurz nach.
»Ich muss sie aber persönlich sehen«, erklärte ich. »Verstehen Sie das nicht? Sie wird nie richtig gesund werden, wenn sie herausfindet, dass … Nan gestorben ist, während sie hier war. Wahrscheinlich wird es sie sogar völlig aus der Bahn werfen …«
»Tut mir leid«, entgegnete Dr. Gale voller Mitgefühl. »Aber Margot hat bereits eine Erklärung unterschrieben, eine Geschäftsordnung, wenn Sie so wollen, und damit auch mögliche Notfälle in der Familie abgedeckt. Das ist sehr wichtig für ihren Genesungsprozess. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
Ein Lächeln, kaum länger als ein Zwinkern. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging davon.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Das war ein Rückschlag, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich dachte scharf nach: Wie konnte ich an Margot herankommen, ohne die ganze Klinik in Aufruhr zu versetzen? Okay, dachte ich. Und fing an zu beten. Mach, dass der Engel dieser Frau sie in die richtige Richtung stupst.
»Dr. Gale?«, rief ich ihr quer durch den Raum zu. Auf den Sofas drehten sich diverse Köpfe unsicher nach mir um.
Dr. Gale blieb stehen. »Wenn Sie bitte nicht so laut reden würden«, ermahnte sie mich schroff.
»Ich muss Margot unbedingt sehen«, sagte ich. »Ich verspreche Ihnen, dass ich mich nicht in ihre Behandlung einmischen werde. Aber es gibt da etwas, das sie wissen muss. Ich bin es, die nicht mehr da sein wird, wenn sie die Klinik verlässt. Ich muss sie noch ein letztes Mal sehen. Bitte.«
Dr. Gale sah sich um. Einige ihrer Kollegen glotzten bereits. Ihr rechter Fuß zeigte schon in Richtung Tür, aber dann bewegte sie sich doch langsam auf mich zu.
Sie blieb vor mir stehen und musterte mich. »Okay«, sagte sie. »Sie haben zehn Minuten.« Sie schwieg kurz, dann flüsterte sie: »Wir haben Margot seit ihrer Ankunft mehrmals sedieren müssen, darum kann es sein, dass sie Ihnen etwas schläfrig vorkommt. Das ist normal. Sprechen Sie also nicht zu schnell oder zu laut.«
Ich nickte. Dr. Gale drückte die Tür auf und rief Margot. Keine Antwort. Noch mal. Aus einem Sessel in der Nähe des Fensters erhob sich langsam eine Gestalt, die sich dann ebenso langsam auf uns zu bewegte.
»Margot«, erklärte Dr. Gale ganz ruhig. »Ihre Cousine ist hier. Sie hat leider schlechte Nachrichten.«
»Meine … Cousine?« Margot war nicht ganz da. Sie blinzelte langsam und sah mich an.
Dr. Gale nickte. »Ich werde Sie in den Familienraum bringen.«
Kaum war die Tür hinter uns zu, griff ich nach Margots Hand. Sie zog sie weg und versenkte den Blick in ihren Schoß. Margot in Fleisch und Blut vor mir sitzen zu sehen raubte mir fast den Atem. Es rührte mich zu Tränen, ihre – oder meine – Körperlichkeit so deutlich spüren zu können. Sie wirkte so zerbrechlich, so tot von den Drogen und der Verzweiflung. Und ich schämte mich dafür, dass ich sie nicht besser beschützt hatte. Dass ich sie nicht hatte zusammenfügen, reparieren, heilen können.
Dann nahm ich doch noch ihre Hand. Schlapp wie ein Blatt lag sie in meiner.
»Margot, du musst mir bitte gut zuhören«, mahnte ich sie. Sie hob den Kopf, um mich anzusehen. Ich sprach weiter. »Ich muss dir etwas sehr, sehr Wichtiges sagen, und ich möchte, dass du mir ganz genau zuhörst, ja?«
Sie kniff die Augen zusammen. Ihr Kopf wackelte. »Kenne ich Sie?«
»Gewissermaßen.«
Kurze Pause. Sie kicherte.
»Sie haben einen ulkigen Akzent. Woher kommen Sie?«
Da ging mir auf, dass ich ab und zu wieder auf den australischen Tonfall verfiel, den ich mir in den Jahren, in denen ich Down Under gelebt habe, angeeignet hatte. Jahre, die Margot noch bevorstanden.
»Sydney«, sagte ich.
»Australien?«
»Hmhm.«
Lange Pause. »Da gibt’s Rus, stimmt’s?«
»Ruß?«
Sie zog ihre Hand zurück und hielt sich beide Hände vors Gesicht wie Pfoten.
»Ach, so! Kängurus.«
Sie nickte.
»Ja, da gibt’s Kängurus.«
Ich dachte sorgfältig darüber nach, was ich ihr sagen sollte. Ich zog kurz in Erwägung, ihr zu erklären, dass ich sie war und sie aus der Zukunft kommend besuchte. Aber dann schaltete ich meinen Verstand ein. Ich konnte auf gar keinen Fall voraussetzen, dass sie mir vertraute. Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben lang niemandem vertraut. Nicht einmal meinem Mann. Nicht einmal mir selbst.
Also hielt ich mich an das, was auch bei mir funktioniert hatte.
Ich erzählte ihr, was Theo im Jugendknast passiert war. In allen Einzelheiten. Bis ich weinte und Margot mit leerem Blick aus dem Fenster starrte. Sie nickte hin und wieder, wenn ich sie etwas fragte, und fasste sich ans Gesicht, wenn ich präzisierte, was Theo durchgemacht hatte und was sie tun musste, um ihm all das zu ersparen.
Und schließlich kam ich zum Punkt. Zum wahren Grund meines Besuches.
»Und du musst Toby verzeihen«, sagte ich.
Sie sah mich an, ihr Kopf wackelte schon wieder. Was auch immer man ihr gegeben hatte, sie stand total unter Drogen. »Er hat mich hintergangen. Mit meiner besten Freundin.«
»Nein, hat er nicht, Margot. Ich verspreche es dir. Das hat er nicht.«
Sie starrte mich an. Ich hätte sie am liebsten geschüttelt. Sie war sehr still. Ich überlegte, was ich sagen könnte, um durch die Wand aus Medikamenten zu ihr durchzudringen, etwas, das all die Jahre des Misstrauens und des Zweifels überwinden und die vielen Schichten des Selbstschutzes und der Verletzungen hinter sich lassen würde.
Und noch bevor mir etwas Passendes eingefallen war, sagte sie:
»Wissen Sie, als Kind habe ich manchmal Engel gesehen. Das ist schon lange her. Glauben Sie an Engel?«
Es dauerte ein paar Sekunden, dann nickte ich, völlig vor den Kopf gestoßen.
Dann sagte sie lange nichts mehr und sah einfach nur aus dem Fenster, als hinge sie irgendwelchen Erinnerungen nach.
Ich nahm ihre Hand.
»Toby liebt dich immer noch. Du hast eine Chance – eine einzige –, um diese Liebe zu gewinnen. Aber wenn du diese Chance vertust, verlierst du sie für immer.«
Ich wollte Theo von der Schule abholen, und ich rannte, nachdem ich den Bus verpasst hatte, den Großteil des Weges. Ich schaffte es rechtzeitig, aber ich spürte, wie meine Flügel den Rücken meines Hemdes durchnässten. Jetzt zählte jede Sekunde, und darum gab ich mir ganz besonders viel Mühe, unsere gemeinsame Zeit schön zu gestalten. Wir aßen bei IHOP zu Abend und sahen uns dann im Kino am Union Square Young Guns 2 an. Ich kaufte ihm einen ganzen Schrank voller neuer Klamotten – alles auf Margots Kreditkarte –, und wir blieben bis spät in die Nacht auf, weil wir sein Zimmer aufräumten, Batman-Poster aufhängten, den Teppich wuschen, Bettwäsche wechselten und die losen Bretter seines Kleiderschranks festschraubten, damit das Ding nicht mehr so aussah, als würde es jeden Moment zusammenfallen. Dann reparierte ich noch seine Fensterläden und legte alle seine Kleider ordentlich zusammen. Ich sagte ihm, dass er schon ins Bett springen sollte, ich würde ihm noch ein Glas Wasser holen – doch als ich zurückkam, schlief er bereits tief und fest.
Ich ging in Margots Schlafzimmer. Am Ende des Flurs schien ein Licht. Nan, dachte ich. Ich ging darauf zu. In dem Moment hörte ich Nans Stimme aus dem Zimmer links von mir.
Ruth!
Eine Sekunde später knallte ich auf den Boden auf. Mein Gesicht blutete und brannte – keine Ahnung, was mich da getroffen hatte –, und meine Lungen fühlten sich so zusammengestaucht an, dass ich kaum atmen konnte. Ich keuchte und rappelte mich auf. Direkt vor mir standen Ram, Luciana und Pui. Dicht gedrängt beieinander, sahen sie zunächst aus wie drei Schattensäulen. Ram hielt einen mit Nägeln und Eisenspitzen versehenen Flegel am Ende einer Kette.
Mir blieb nur eins: weglaufen.
Ram holte aus und wollte mir noch eins mit dem Flegel verpassen. Ich stürzte ins Wohnzimmer, und als er mich einholte, hob ich die Hände zu den Schläfen und wappnete mich gegen den nächsten Schlag auf meinen Kopf. Aus dem Augenwinkel sah ich Nan, die den Arm ausstreckte und den Schlag abfing. Während sie das tat, bemerkte ich zwei Arme, die sich unter den Achseln um meinen Brustkorb schoben und mich hochhielten. Luciana hielt mich, und Pui rammte mir ihre Hand in die Brust. Es fühlte sich an, als würde ich entzweigeschnitten. Ich schrie. Ich hörte Theos Stimme aus seinem Zimmer. James erschien neben mir und wollte in Theos Zimmer gehen. Aber Luciana und Pui hatten ihn gesehen. »Untersteht euch!«, schrie ich. Pui lächelte mich direkt an, lehnte sich ein wenig nach vorne und spazierte in mich herein, als würde er einen Schrank betreten.
Ich glaube, in dem Moment sah ich die Hölle. Pui nahm mich dorthin mit. Zerrte mich aus meinem Körper heraus und durch einen düsteren Schacht in eine Welt, die so furchtbar war, dass ich ihre Grausamkeit förmlich in den Knochen spürte.
Und dann wurde es dunkel.
Ich hörte dumpfe Schläge, Gebrüll und Geschrei. Aber ganz weit weg, so, als würde ich an einen anderen Ort und in eine andere Zeit gebracht.
Als ich aufwachte, lag ich auf dem Fußboden eines völlig weißen Raumes, nackt. Ich hatte Angst. War es das jetzt? War ich in der Hölle?
Ich zog die Knie an die Brust und bibberte. »Nan?«, rief ich. Dann: »Theo? Toby?« Hinter mir hörte ich Schritte.
Ich drehte mich um. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass die schimmernde Gestalt vor mir Nan war. Ihr Gesicht strahlte wie die Mittagssonne, und ihre Flügel waren wie breite rote Lichtbänder ausgestreckt. Ihr Kleid war nicht mehr weiß und auch nicht stofflich. Es wirkte, als habe sie die Oberfläche eines stillen Sees, in dem sich der Sonnenuntergang spiegelt, angehoben und sich übergezogen.
»Und jetzt?« Ich zitterte so sehr, dass auch meine Stimme merkwürdig ratterte. »Komme ich jetzt in die Hölle?«
»Ich glaube kaum«, entgegnete Nan ruhig. »Ich habe dich gerade davor bewahrt, ihr neuester Gast zu werden.«
»Aber ich komme in die Hölle, oder? Irgendwann mal?«
»Gott allein entscheidet, welche Folgen deine Entscheidungen haben werden.«
Das war ein schwacher Trost. Ich wusste, dass Nan mich nicht anlügen würde. Aber ich musste den Tatsachen ins Auge sehen. Nan hatte mich nicht vor der Hölle bewahrt. Jedenfalls nicht für immer. Sie hatte lediglich meine Reise dorthin hinausgezögert.
Ich stand auf. Streckte die Hand aus und berührte ihr Kleid. »Warum hast du dich verändert?«
»Wir alle verändern uns«, sagte sie nach einer ganzen Weile. »Genau wie du dich von einem Säugling zu einem Erwachsenen verändert hast, als du noch gelebt hast. Als ich dich vor der Hölle bewahrte, wurde ich zu einem Erzengel.«
»Warum?«
»Jeder Typ Engel hat im Dienste Gottes eine ganz bestimmte Rolle. Einige von uns werden zu Mächten, andere zu Tugenden. Einige wenige werden zu Cherubim, die Menschen beschützen und ihnen helfen, Gott zu finden. Und noch weniger werden zu Seraphim.«
»Und die wenigstens landen in der Hölle, was?«
Ein flüchtiges Lächeln. »Hier«, sagte sie, und ich musste mir schützend die Hand vor die Augen halten, als ich zu ihrer erhobenen Hand aufsah. Sie reichte mir ein weißes Kleid.
»Was ist mit dem blauen?«
»Das kann man nicht mehr anziehen. Das hier ist alles, was davon übrig geblieben ist.« Und damit reichte sie mir einen kleinen blauen Edelstein an einer goldenen Kette. Ich schlüpfte in das weiße Kleid und legte mir dann die Kette um.
»Und jetzt?«, fragte ich. »Habe ich Theos Leben verändert?«
Sie streckte die Hand aus, in der eine schneekugelgroße Parallelwelt erschien und bis auf Melonengröße anwuchs. Ich ging näher ran und sah hinein. In der Kugel erschien wie ein Spiegelbild auf einer Pfütze ein Bild von Theo im Alter von zirka achtzehn Jahren. Brutal und missmutig. Zuerst dachte ich, der Holzschreibtisch, an dem er saß, stünde in einem Büro, aber dann ging mir auf, dass es sich um eine Szene vor Gericht handelte. Er trug die übliche orangefarbene Häftlingsuniform. Und er ließ den Kopf hängen, als das Urteil gesprochen wurde. Eine Frauenstimme rief: »Schuldig!« Theo wurde von seinem Stuhl hochgerissen und abgeführt.
»Nein!«, rief ich. »Nach allem, was ich getan habe, bekommt Theo trotzdem lebenslänglich, und ich komme in die Hölle?« Fragend sah ich Nan an. Sie hatte darauf keine Antwort.
Ich fiel auf die Knie.
Und so weinte ich eine ganze Weile auf allen vieren und ließ meine Tränen auf den weißen Boden laufen. Es war alles umsonst gewesen.
Irgendwann wischte ich mir das Gesicht ab, stand auf und sah Nan an.
»Und was mache ich jetzt? Habe ich überhaupt irgendetwas verändert?«
»Ja«, sagte Nan. »Und es wird dir nicht alles gefallen. Es kann passieren, dass du Margot Entscheidungen treffen siehst, die alle deine Pläne durchkreuzen.«
»Ich habe keine Pläne mehr, Nan. Ich komme doch sowieso in die Hölle, schon vergessen?«
»Es ist so, wie ich es dir am Anfang sagte«, erklärte sie sehr ernst. »Nichts ist sicher.«
Ich trocknete mir die Augen. Sie gab mir Hoffnung. Aber dieses Mal fand ich das einfach nur grausam.
»Und was mache ich jetzt?«
Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte Nan. »Du hast einen Auftrag. Sieh zu, dass du ihn erfüllst.«