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DER PLAN

Als Allererstes musste ich mich an die Sache mit den Flügeln gewöhnen.

Ich erfuhr, dass in der Kunst erst ab dem vierten Jahrhundert Engel mit Flügeln dargestellt wurden. Oder genauer gesagt mit langen, fließenden Gebilden, die aus den Schultern austreten und sich bis zu den Füßen ergießen.

Diese Gebilde bestanden allerdings nicht aus Federn, sondern aus Wasser.

Die vielen Berichte über Begegnungen mit Engeln haben im Laufe der Geschichte das Bild eines fast vogelähnlichen Wesens erzeugt, das zwischen der sterblichen und der göttlichen Welt hin und her fliegen kann. In vereinzelten Berichten weichen die Beschreibungen der Flügel aber voneinander ab. So notierte ein Mann in Mexiko im sechzehnten Jahrhundert etwas von »dos ríos«, also »zwei Flüssen«, in sein Tagebuch, das seine Familie schleunigst verbrannte, kaum dass er das Zeitliche gesegnet hatte. Ein Mann in Serbien erzählte, bei dem Engel, der ihn besucht habe, hätten sich von den Schulterblättern aus zwei Wasserfälle über den Rücken ergossen. Und ein kleines Mädchen aus Nigeria malte reihenweise Bilder von einem wunderschönen himmlischen Boten, der statt Flügeln Bäche auf dem Rücken hatte, die in den Fluss mündeten, der ewig neben Gottes Thron fließt. Ihre Eltern waren sehr stolz auf ihre lebhafte Phantasie.

Doch das kleine Mädchen war einfach nur gut informiert. Was es allerdings nicht wusste, war, dass diese beiden Flüssigkeitsstrahle, die vom sechsten Wirbel eines Engels zu seinem Kreuzbein fließen, eine nabelschnurähnliche Verbindung zwischen dem Engel und seinem Schützling bilden. In diesen »Wasserflügeln« findet ständig ein Transkriptionsprozess jedes Gedankens und jeder Handlung statt – als würde der Engel alles niederschreiben. Doch diese Art der Dokumentation ist noch viel besser als die durch Überwachungskameras oder Webcams. In der Flüssigkeit werden nicht nur Wörter und Bilder aufgezeichnet, sondern es wird das komplette Erlebnis darin gespeichert – das Gefühl, sich zum ersten Mal zu verlieben, zum Beispiel. Mit dem ganzen Geflecht aus Gerüchen, Erinnerungen und biochemischen Reaktionen darauf, als Kind verlassen worden zu sein. Und so weiter. Das Tagebuch eines Engels befindet sich in seinen Flügeln. Zusammen mit seinem Instinkt, seiner Eingebung und seinem Wissen über jedes Lebewesen. Wenn er denn bereit ist, zuzuhören.

Dann musste ich mich an den Gedanken gewöhnen, mein eigenes Leben als schweigende Zuschauerin noch einmal zu durchleben.

Um es geradeheraus zu sagen: Ich habe ein pralles Leben geführt. Aber kein gutes Leben. Sie können sich also vorstellen, wie erpicht ich darauf war, es noch einmal zu durchleben.

Ich ging davon aus, dass es sich bei der ganzen Sache um eine Bestrafungsaktion handelte, um eine Art nur wenig verschleiertes Fegefeuer. Ich meine, wer sieht sich schon gerne selbst auf dem Bildschirm? Wer verzieht nicht das Gesicht, wenn er seine eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter hört? Diese unguten Gefühle multiplizieren Sie jetzt bitte mal mit einer Quadrillion, und dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie es mir ging. Spiegel, Videokamera, Gipsabdruck – das ist alles gar nichts im Vergleich dazu, auf einmal neben sich selbst zu stehen und sich selbst dabei zuzusehen, wie man konsequent sein eigenes Leben versaut.

Mir begegneten ständig andere Engel. Wir redeten nicht viel miteinander, nicht wie gute Kumpels oder Gefährten oder Schicksalsgenossen. Ich fand die meisten anderen Engel irgendwie düster und unnahbar, in meinen Augen waren das richtige Langweiler, die ihre Schützlinge so intensiv beobachteten, als würden diese sich an den Regenrinnen des Empire State Building entlanghangeln. Ich fühlte mich wieder wie damals in der Schule, als ich immer die Einzige war, die einen Rock trug, während alle anderen Mädchen Hosen anhatten. Oder wie damals als Teenager, als ich mir die Haare pink färbte – zwanzig Jahre, bevor es angesagt war. Ich kam mir vor wie Sisyphus: Ich war wieder genau da, wo ich immer gewesen war, und fragte mich gleichzeitig, wo genau das war, warum ich da war und wie ich von da wegkommen konnte.

Sobald das Baby wieder atmete – sobald Margot wieder atmete –, stürzte ich aus der Wohnung und trat dem Betrunkenen, der immer noch zusammengerollt neben der Treppe lag, gegen die Schulter, um ihn zu wecken. Als er sich endlich zu mir umdrehte, sah ich, dass er viel jünger war, als ich erwartet hatte. Michael Allen Dwyer. Gerade einundzwanzig geworden. Studiert Chemie an der Queen’s University (oder auch nicht – mit den Noten wird er wohl keinen Abschluss schaffen). Hört auf den Namen Mick. All diese Informationen bekam ich mit dem Tritt gegen seine Schulter. Keine Ahnung, warum das eben bei der jungen Mutter nicht funktioniert hat. Hätte ihr das Leben retten können.

Ich half dem Jungen auf die Füße und flüsterte ihm dann ins Ohr, dass das Mädchen aus Wohnung 4 gestorben und ein Baby in der Wohnung sei. Langsam drehte er sich weg, dann schüttelte er den Kopf und wuschelte sich durchs Haar, als wolle er die Information abschütteln. Ich versuchte es noch einmal. Wohnung 4, du Vollidiot. Totes Mädchen. Baby. Braucht Hilfe. Jetzt. Er erstarrte. Ich hielt die Luft an. Er kann mich hören? Ich redete weiter. Ja, ja, genau, geh weiter. Plötzlich war er wie verwandelt. Als wären meine Worte bis in seine Blutkörperchen vorgedrungen und hätten dort seinen Instinkt geweckt.

Er nahm die erste Treppenstufe, wobei er krampfhaft überlegte, was er eigentlich hier machte. Als er die letzten beiden Stufen erklomm, sah ich Neuronen und Gliazellen wie winzige Blitze um seinen Kopf herumsausen, etwas langsamer als üblich zwar aufgrund des Alkohols, aber dennoch durchwirkt von synaptischen Fusionen.

Von dem Moment an überließ ich es seiner Neugier, die ihn in die Wohnung führen würde. Die schwarze Tür hatte ich sperrangelweit offen stehen lassen. Das Baby (das konnte nicht sein, oder? es konnte doch nicht wirklich ich sein?) weinte jetzt so erbarmungswürdig wie ein Katzenjunges, das ertränkt werden soll. Dieses Heulen suchte sich einen Weg direkt in Micks Gehör und machte ihn schlagartig nüchtern.

Ich war dabei, als er versuchte, die Mutter zu reanimieren. Ich wollte ihn davon abhalten, aber er bestand darauf, eine gute halbe Stunde darauf zu verwenden, ihre Hände zu rubbeln und sie immer wieder laut anzusprechen, bevor er endlich auf die Idee kam, den Notarzt zu rufen. Dann dämmerte es mir. Die beiden waren ein Paar gewesen. Dieses Kind war sein Kind. Er war mein Vater.

Dazu muss ich Ihnen kurz etwas erklären: Ich habe meine Eltern nie kennengelernt. Man hat mir erzählt, meine Eltern seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich noch ganz klein war, und dass die ganze Reihe von Pflegeeltern, in deren Obhut ich mich die ersten gut zehn Jahre meines Lebens befand, zwar verlauste Kriminelle verschiedenster Couleur gewesen seien, mich aber doch immerhin am Leben erhalten hätten. Wenn auch nur knapp.

Ich hatte also keine Ahnung, was an diesem Punkt meines noch so jungen Lebens passieren würde, und dementsprechend keinerlei Plan, wie ich zu einer besseren Entwicklung der Dinge beitragen könnte. Wenn mein Vater doch lebte und gesund war, wieso bin ich dann da gelandet, wo ich gelandet bin?

Ich setzte mich neben das Baby aufs Bett und beobachtete den jungen Mann dabei, wie er neben der Leiche der jungen Frau kauerte und schluchzte.

Zweiter Versuch: Ich setzte mich neben mich aufs Bett und beobachtete meinen Vater dabei, wie er den Tod meiner Mutter beweinte.

Hin und wieder stand er auf und schlug mit der Faust auf etwas Zerbrechliches ein, kickte die Spritzen durchs Zimmer und leerte zornig die Schubladen der Kommode.

Später erfuhr ich, dass sie sich vor wenigen Stunden gestritten hatten. Er war aus der Wohnung gestürmt und die Treppe hinuntergefallen. Sie hatte mit ihm Schluss gemacht. Aber es war nicht das erste Mal gewesen.

Dann, endlich, kam die Polizei. Wer auch immer die gerufen hatte. Ein älterer Beamter nahm Mick beim Arm und führte ihn hinaus. Es handelte sich um Inspektor Hinds, dem am selben Morgen von seiner französischen Frau die Scheidungspapiere überreicht worden waren, in erster Linie aufgrund einer größeren Geldsumme, die er wegen eines Pferdes, das das letzte Hindernis riss, verloren hatte, sowie aufgrund des immer noch leeren Kinderzimmers. Inspektor Hinds hatte Mitleid mit Mick. Im Flur wurde darüber gestritten, ob man ihm Handschellen anlegen sollte oder nicht. Es sei doch völlig offensichtlich, dass das Mädchen drogenabhängig gewesen sei, herrschte Inspektor Hinds seine Kollegin an. Und sie sei ebenso offensichtlich bei der Geburt des Kindes gestorben. Die Kollegin bestand darauf, dass vorschriftsgemäß mit dem jungen Mann verfahren werde. Und die Vorschriften sahen Handschellen vor. Sowie ein mindestens einstündiges Verhör. Außerdem ein lückenloses Protokoll, mit dem man sich spätere disziplinarische Maßnahmen ersparen würde.

Papierkram. Mein Vater und ich wurden getrennt, weil der Papierkram stimmen musste. Ich habe die Richtung, in die sich mein Leben entwickelte, einem lückenlosen Protokoll zu verdanken. Oberinspektor Hinds schloss die Augen und massierte sich die Augenbrauen. Ich ging zu ihm hin und wollte ihm am liebsten ins Ohr schreien, wer ich war, dass Mick mein Vater war, dass er das Baby ins Krankenhaus bringen musste. Aber es nützte nichts. Und jetzt konnte ich auch sehen, was der Unterschied war zwischen Mick und Oberinspektor Hinds, was der Grund dafür war, dass ich zu dem einen durchdringen konnte und zu dem anderen nicht: Die Mick umgebende Hülle aus Gefühlen, Selbst und Erinnerungen hatte einen Riss bekommen, und zwar genau in dem Moment, in dem ich mit ihm redete. Und so, wie ein Windstoß kleine Steinchen in einem Mauerspalt bewegt und kurzfristig Regentropfen eindringen lässt, sodass die Nässe sich mit dem Stein verbindet, so war ich zu Mick durchgedrungen. Aber Oberinspektor Hinds war eine harte Nuss. Das begegnete mir immer wieder. Manche Menschen konnten mich hören, andere nicht. Meist war es reine Glückssache.

Margot fing an zu schreien. Inspektor Hinds beschloss, die Chefkeule zu schwingen.

»Okay«, bellte er die Polizisten an, die sich im Flur versammelt hatten. »Sie da.« Er zeigte auf den ersten Beamten zu seiner Rechten. »Sie bringen den Jungen zum Verhör auf die Wache. Und Sie da.« Er zeigte auf den nächsten Beamten zu seiner Rechten. »Sie rufen schnellstens einen Krankenwagen.« Die Polizistin sah ihn erwartungsvoll an. Er seufzte. »Oder besser gleich einen Leichenwagen.«

Vor lauter Frust beschimpfte ich Inspektor Hinds und seine Leute und bettelte, sie mögen Mick nicht mitnehmen. Dann schrie ich vor lauter Verzweiflung darüber, dass mich keiner hören konnte und dass ich tot war. Und dann sah ich, wie sie Mick Handschellen anlegten und ihn für immer von Margot trennten. Gleichzeitig sah ich bereits in einer Art Parallelfilm über die Zukunft, den ich durch einen Riss in der Gegenwart flimmern sah, wie er am nächsten Morgen entlassen und von seinem Vater abgeholt wurde, und ich sah auch, wie Tage, Wochen und Monate vergingen, in denen Mick den Gedanken an Margot immer weiter verdrängte, bis sie weiter nichts mehr war als ein verlassenes Kind, das im Kinderkrankenhaus über eine Sonde ernährt wurde und ein Plastikarmband trug, auf dem sein Name stand: Baby X.

In diesem Moment fasste ich einen Plan. Wenn es stimmte, was Nan gesagt hatte – wenn nichts endgültig war –, dann würde ich jetzt mein Leben von Grund auf ändern: meine Ausbildung, die Männer, für die ich mich entschied, den Sumpf der Armut, durch den ich bis jenseits der vierzig watete. Und die lebenslängliche Haftstrafe wegen Mordes, die mein Sohn zum Zeitpunkt meines Todes absaß. O ja, all das würde jetzt anders laufen.