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DAS DUNKLER WERDENDE MEER
Ein Hinweis vorab: Wenn man ein Schutzengel wird (und das wird nicht jeder), erschließt sich einem eine völlig neue Dimension des Flugreisens. Business und First Class sind ein Dreck gegen die Angel Class. Dort sitzt man auf der Flugzeugnase oder, wenn man sich gerne ein bisschen strecken möchte, auf der Tragfläche. Und ich rede nicht vom Panoramablick, den Wolkenformationen und Sonnenuntergängen. Auf unserem Weg über Grönland und Neuschottland sah ich viel mehr als nur Wolken. Ich sah Jupiters Engel, so groß, dass seine Flügel – übrigens aus Wind, nicht aus Wasser – jenen gigantischen Planeten umspannten und dabei ständig Meteore abwehrten, die auf dem Weg zur Erde waren. Ein Blick nach unten, und ich sah Stratosphären von Engeln, die über der Erde schwebten, Gebete erhörten und ab und zu einschritten, um Schutzengeln zu helfen. Ich sah Gebetspfade und Entscheidungsbahnen sich zu riesigen Schnellstraßen winden. Ich sah Engel in Städten und Wüsten, die wie die nächtlichen Abbilder der Erde aus der Mondperspektive schienen: Die kopfstehende Birne Afrikas, erleuchtet von den Kerzen in Kapstadt und Johannesburg. Der Hundekopf Australiens, mit goldenen Flammen gesäumt. Die Hexe auf ihrem Besen – Irland –, die aus Dublin, Cork, Derry und Belfast den Glanz neuer Pennystücke sandte. Das alles waren keine Lichter der Großstadt, sondern die Lichter der Engel.
Als Margot nach New York flog, wollte sie zunächst den Sommer über dort bleiben. Der Schaden, den Seth angerichtet hatte, beschränkte sich nicht auf den Verlust des Babys, nicht auf die Demütigung, die Margot empfand, als die Schwestern im Krankenhaus von noch so einem schwangeren Flittchen tuschelten und sich weder um Patientenwürde noch um Schmerzlinderung scherten, als sie ihr die Gebärmutter ausschabten, und auch nicht auf die unendliche Trauer und das Gefühl, betrogen worden zu sein, nachdem sie erst begriffen hatte, was Seth ihr da angetan hatte. Nein, hinzu kam, dass er sie nicht geliebt hatte. Im Leben eines jeden Menschen gibt es einen Umstand, den er niemals komplett begreifen wird. Gewisse Lektionen müssen ihm immer wieder erteilt werden, gewisse Fehler muss er immer wieder machen, bis er es langsam kapiert. In Margots Fall war dieser Umstand ihre Unfähigkeit, zwischen Liebe und Hass zu unterscheiden. New York war die Stadt, in der alles zusammenkam – und in der alles auseinanderfiel.
Aber zunächst gingen merkwürdige Dinge mit mir vor. Als wir uns auf den Weg zum Flughafen machten, fiel mir auf, dass mein Kleid silbern schimmerte. Ich ging davon aus, dass es nur eine andere Farbe reflektierte, doch während des Flugs nach New York verfärbte es sich lila. Und das passierte so schnell, dass ich dabei zusehen konnte. Es durchlief jede Schattierung von Violett bis Himmelblau. Als wir in New York landeten, taumelte ich durch den Flughafen, raffte mein Kleid und wunderte mich, wieso es jetzt türkis war.
Ich sah mich um und bekam den Schock meines Lebens: Meine visuelle Wahrnehmung hatte sich offensichtlich geändert. Auf einmal konnte ich tatsächlich die gesamte spirituelle Welt ohne Einschränkungen sehen. Es war, als sei ein Vorhang beiseitegezogen worden, wodurch die beiden Welten – die menschliche und die spirituelle – vereint wurden. Hunderte, nein, Tausende von Engeln. Wie heißt es doch gleich in der Bibel? Scharen, genau. Heerscharen. Chöre. Massen. Legionen. Sie waren alle da und bildeten einen farbenprächtigen Schleier. Engel, die sich um Familien versammelten, wenn diese ihre Lieben am Gate begrüßten, Engel, die bierbäuchigen Geschäftsleuten dabei halfen, ihre schweren Koffer vom Gepäckband zu wuchten. Geister, die – ich mache keine Witze! – hin und wieder desorientiert und verloren an den seltsamsten Stellen auftauchten, ihren jeweiligen Engel im Schlepptau, der geduldig auf den Tag wartete, an dem der Schützling endlich einsah, dass er wirklich tot war und dass es wirklich Zeit war zu gehen. Und natürlich Dämonen.
Ich will kein Bild einer reibungslosen Koexistenz von Dämonen und Engeln zeichnen. Jetzt, da ich die spirituellen Gefilde so klar und deutlich erkannte, sah ich auch, dass die Dämonen unter uns lebten wie Ratten in einer Scheune: Jederzeit bereit, sich sterbliche Überreste unter den Nagel zu reißen und, wenn es ihnen gelang, entsetzlichen Schaden anzurichten.
Genau wie Engel unterschieden sich auch Dämonen in ihrem Erscheinungsbild. Ihre äußere Form – ganz gleich, ob es sich dabei um einen tintenschwarzen Schatten handelte, um eine dichte Nebelwolke, um eine verzerrte Fratze oder, wie in Grogors Fall, um ein komplett angezogenes Wesen mit einem Gesicht –, ihre äußere Form war immer direkt mit der Aura des Menschen verbunden, dem sie folgten. Ich beobachtete einen jungen Mann in Jeans und engem weißem T-Shirt, der durch den Flughafen ging. Er zog einen Koffer hinter sich her und kaute Kaugummi. Er schien aufgekratzt zu sein. Auf den ersten Blick hätte ich nicht gedacht, dass ihm überhaupt ein Teufel anhaftet. Und dann waren es gleich zwei! Sie gingen neben ihm her wie zwei Dobermänner. Und dann sah ich seine Aura – so dunkellila wie eine Aubergine. Was auch immer dieser junge Mann in seinem Leben bereits getan hatte, so etwas wie ein Gewissen besaß er nicht: Das Licht, das die meisten Menschen an ihrem Scheitel umgibt, war weg.
Margot zog ihre Tasche vom Gepäckband und sah sich um. Sie war ganz benommen von den vielen Menschen um sie herum und wusste nicht recht, wo sie als Nächstes hingehen sollte. Sie hatte die Adresse von dem Freund eines Freundes, bei dem sie unterkommen konnte, bis sie etwas zum Wohnen gefunden hatte. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern: Der Freund des Freundes hatte eine Buchhandlung und nutzte Margots Bereitwilligkeit, als Dank für die Unterkunft (ein kleines Zimmer über dem Laden, mit einem schwarzen Teppich aus Kakerlaken) umsonst im Laden zu arbeiten, schamlos aus. Darum stupste ich einen am Ausgang stehenden Engel an und bat um Hilfe. Zu meinem Entzücken schien er von hier zu sein. Er sagte, er würde mal mit seinem »Typen« reden, womit er wohl seinen Schützling meinte. Sein »Typ« war ein Taxifahrer. Ich lenkte Margot in seine Richtung.
Dem Taxifahrer fiel sofort etwas ein, wo Margot arbeiten und unterkommen konnte, und zwar mitten in der Stadt. Und was noch besser war: Es lag gleich um die Ecke vom besten kleinen typisch amerikanischen Café der Stadt. Mit den weltbesten Frittatas. Margot konnte ihr Glück kaum fassen. Als der Taxifahrer am Ziel hielt, strahlte sie bereits wie ein Halloween-Kürbis. Auch ich konnte es kaum fassen. Raten Sie mal, wo wir gelandet waren? Na los, machen Sie schon. Ist nicht schwer.
»Babbington Books« wirkte eher wie ein Pfandhaus, nicht wie eine Buchhandlung. Bob Babbington – der faule, kettenrauchende, ausbeuterische Besitzer, den ich bereits erwähnte – hatte das Geschäft von seinem Vater geerbt. Seine Entscheidung, das Geschäft weiterzuführen, hatte weniger mit einer eventuellen Leidenschaft für Bücher zu tun – er las in erster Linie Bedienungsanleitungen für Autos – oder gar dem Wunsch, die Babbington-Buchhändler-Reihe in dritter Generation fortzusetzen. Nein, Bob gab vielmehr seiner Vorliebe für mietfreies Wohnen und eine sitzende Tätigkeit nach, während derer er rauchen konnte. Dass Bob sich nicht mit Herzblut für das Geschäft engagierte, konnte sozusagen ein Blinder mit Krückstock sehen. Schwarz gestrichene Blumenkästen, aus denen vertrocknetes Unkraut und leere Bierdosen quollen, machten den Laden in etwa so einladend wie ein offenes Grab. Und drinnen sah es noch schlimmer aus.
Margot ließ sich nicht abschrecken, drückte die Tür auf und rief »Hallo?« So traten übrigens die meisten Kunden ein: leicht verunsichert, ob sie vielleicht störten … In der hinteren Ecke des Ladens konnte sie ein Büschel schwarzer Haare ausmachen sowie einen Schnauzbart, vor dem Rauch aufstieg, und ein enorm breites, weißes Grinsen, das sich bei genauerem Hinsehen als Bobs Bierbauch entpuppte, der unter dem engen T-Shirt hervorquoll. Sein erster Gedanke, als er die blonde Zigeunerin im Schottenkaro sah, war: Handschellen. Oh-oh.
Wie dem auch sei. Bob hielt Wort und überließ Margot ein Zimmer dafür, dass sie ihm unten im Laden half. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen, meinen Frust hin und wieder an Pirate – Bobs blinder, leprakranker Katze – auszulassen und mit ein bisschen Licht die Kakerlaken und Ratten zu vertreiben.
Margot legte sich auf das Schlafsofa zwischen die schmuddeligen Laken, dachte an Graham und daran, wie sehr sie ihn jetzt schon vermisste, und weinte sich in den Schlaf. Ich für meinen Teil ging unruhig im Zimmer auf und ab und beobachtete mein Kleid bei einem neuerlichen Farbwechsel. Wie das Meer, dessen Blau sich vertieft, wenn die Sonne untergeht. Ich wartete auf Nan – normalerweise tauchte sie ja auf, wenn sich in meiner Welt etwas veränderte. Tat sie aber nicht. Also musste ich selbst drauf kommen.
So furchtbar schwer fiel es mir dann auch nicht. Schließlich gab es ja ein paar Anhaltspunkte. Die spirituelle Welt hatte mir nur wenige Stunden zuvor ihre Türen geöffnet – jetzt tat die natürliche Welt es ihr nach. Als ich auf die Straße hinunterblickte, sah ich etwas, was mir zunächst wie Staubwolken vorkam, die etwa zwei Meter über dem Bürgersteig schwebten. Dann erkannte ich, dass diese »Wolken« ganze Schwärme von Krankheitserregern waren, in die ahnungslose Passanten reihenweise hineinliefen. Ich saß da und beobachtete entsetzt, wie ein Mann durch die Wolke marschierte und sich ein Kaposisarkom einfing, das sich über sein Zahnfleisch und um seine Knie herum verteilte wie Billardkugeln nach dem Anstoß. Und dann, wie eine Frau rasch vorbeilief und eine Portion hundert Jahre alter Pockenkeime mitnahm. Ich versuchte, ihren Engeln Zeichen zu geben, doch jedes Mal hörte ich ihre Antworten so deutlich wie Nachrichten auf einem Anrufbeantworter in meinem Kopf: Sieh doch mal genauer hin, Grünschnabel. Jedes Virus birgt eine Lektion.
Es dauerte noch ziemlich lange, bis ich lernte, so genau hinzusehen.
Natürlich war Margots Zimmer ein Eldorado für alle möglichen Keime. Die Nacht über sorgte ich dafür, dass sich keine Sporen in Margots Lungen festsetzten, und ich wehrte eine ziemlich üble Grippe ab, die in dem Kissen schlummerte, auf dem Margot jetzt schlief. Dies waren aber noch harmlose Aufgaben im Vergleich zu meiner Hauptbeschäftigung: Wie bei einem Schachspiel funkte ich immer wieder dazwischen, um einen Weg, den drei gesichtslose Dämonen für Margot vorzeichnen wollten, zu ändern.
Hierzu eine Erklärung: Dämonen bedienen sich nicht geflüsterter Hinweise und Stupsern mit dem Ellbogen. Dämonen sind Experten, wenn es um menschliche Schwächen geht. Sie ermuntern Seelenverwandte, zu heiraten, spüren aber gleichzeitig selbst die feinsten Risse in der Verbindung auf und trampeln dann jahrelang darauf herum, bis irgendwann die Scheidung nicht nur die Seelenverwandten zerreißt, sondern auch ihre Kinder und Kindeskinder, immer weiter, bis sich der Riss durch mehrere Generationen zieht. Dämonen stecken sich ihre Ziele lange im Voraus. Und sie sind Rudeljäger. Zu dritt wollten sie in jener Nacht den Plan ausführen, den sie schon seit Jahren auf dem Reißbrett hatten: Sie wollten Margot dazu bringen, Selbstmord zu begehen.
Ich sah die Hinweise auf den von den Dämonen vorgezeichneten Weg im gleichen Moment, in dem ich den Buchladen betrat. Der erste Hinweis war Bob. Er sah Margot und dachte an Handschellen. Dann gab er sich einem weiteren Gedanken hin, der wie ein Film in seinem Kopf ablief: Er würde Margot wochen-, monate- oder gar jahrelang in der Wohnung über dem Laden festhalten. Sie würde für ihn kochen und putzen, und er würde sie mit so viel Gras versorgen, wie sie benötigte, um jeden Gedanken an Flucht zu betäuben. Sein krankes Gewissen schaffte es, die Vorstellung zu verscheuchen, aber sie kehrte immer wieder zurück. Zehn andere Engel und ich stellten uns in einem Kreis um sein Bett auf und sorgten dafür, dass er von seiner Mutter träumte. Als das Licht um seinen Kopf herum stärker wurde, tauchten die drei anderen Wesen auf. Und das war der Moment, in dem ich erfuhr, dass es unter Engeln eine Rangordnung gibt: Vier Engel zogen Schwerter hervor. Die Klingen sandten gleißendes Licht aus. Bei genauerem Hinsehen hätte man meinen können, sie seien aus Quarz gefertigt. Woraus auch immer sie waren, es funktionierte. Die Dämonen verzogen sich, und ihr Plan ging nicht auf. Aber ich wollte nichts riskieren. Den Rest der Nacht setzte ich mich mit den anderen Engeln zusammen und plante eine neue Route für Margot. Sie entfernten sich, um zu tun, was zu tun war.
Am nächsten Morgen war mein Kleid indigoblau, und ich war orientierungslos, verängstigt und aufgeregt. Aus irgendeinem Grund hatte sich das Kleid noch einmal verfärbt, als ich endgültig den Vorhang zur spirituellen Welt weggerissen hatte. Hätte ich gewusst, wie viel mehr Verantwortung auf mir lasten würde – wie viel mehr Schutz Margot brauchen würde –, hätte ich den Vorhang wohl hübsch da gelassen, wo er war.
Aber jetzt war es zu spät.