Achtundzwanzigstes Kapitel
Ich würde ihnen das nie und nimmer verzeihen.
»Macht die Tür auf! Sofort!« Ich hämmerte gegen die Kabinentür, aber sie hatten mich eingeschlossen. Zusammen mit meiner Schuld, meiner Wut und meiner Qual. Angeblich waren sie doch meine Freunde. Nicht einmal Onderaan hätte mir das angetan.
»Lasst mich heraus!«
Das taten sie nicht. Ich war nicht einmal sicher, ob jemand vor der Tür saß. In dem Ächzen des Bootsrumpfs, als das Boot vom Dock ablegte und auf den Wellen schaukelte, hörte ich niemanden. Eine lange Zeit lang vernahm ich Stimmen auf Deck und hörte Segel im Wind schlagen.
Und immer noch öffnete kein Mensch die Tür.
Ich sank auf eine Koje, als meine Hände zu wehtaten, um länger an die Tür zu hämmern. Nach einer Minute klopfte jemand leise von der anderen Seite.
»Hast du dich beruhigt?«, fragte Danello.
»Nein.«
»Wirst du mir wehtun, wenn ich hereinkomme?«
»Ja.«
Eine Pause. »In Ordnung. Wir warten hier draußen. Sag mir, wenn du gesprächsbereit bist.«
Niemals. Nicht nach dem, was sie mir angetan hatten. Ich packte einen Schemel und schleuderte ihn gegen die Tür.
»Ihr habt mich gezwungen, meine Schwester im Stich zu lassen.«
»Ich weiß, das tut uns auch wirklich leid. Es tut uns auch weh.«
Ich warf mit etwas anderem. Ich machte mir nicht die Mühe zu sehen, was es war. »Nicht genug, wenn ihr sie hiergelassen habt.«
»Wenn wir auch nur eine Minute lang geglaubt hätten, wir könnten sie retten, wären wir mit dir in Baseer geblieben.«
Ich wollte ihn einen Lügner nennen. Schreien, was die Lunge hergab. Aber Danello log niemanden an. Aylin schon, aber auch nicht mich.
Ich ließ mich wieder auf die Koje fallen. Warum taten sie das? Das musste ich wissen. Ich musste ihre Gesichter sehen, in ihre Augen schauen und fragen, warum sie Tali zurückgelassen hatten.
»Ich tue dir nicht mehr weh«, sagte ich und war beinahe sicher, dass ich es ernst meinte.
Danello hatte offenbar auch Zweifel, denn er wartete eine Minute, bis er die Tür öffnete. Er steckte den Kopf herein, vorsichtig und jederzeit bereit, zurückzuspringen.
»Ich kann hereinkommen?«
»Ja.«
Er wagte es und machte die Tür hinter sich zu. Ein anderer schloss sie ab.
Meine Wut flammte auf, aber nur für einen Herzschlag. Es tat zu weh, noch weiterzukämpfen. »Aylin kommt nicht herein?«
»Nein. Sie hat noch mehr Angst vor dir als ich.« Er lächelte misstrauisch. »Aber nicht viel.«
»Meine Entführung war ihre Idee?«
Er nickte.
»Und du hast zugestimmt.«
»Ich wusste, sie hatte recht. Du würdest nie wegfahren, wenn wir dich nicht dazu zwängen.« Er machte einen vorsichtigen Schritt, die Hände vor dem Körper verschränkt. »Ich wollte dich nicht verlieren.«
Stattdessen hatten wir Tali verloren.
»Wie konntest du mir das antun?«
Er zuckte zusammen, schaute zu Boden, dann wieder auf mich. In seinen Augen las ich Traurigkeit. »Wir wussten nicht, was wir sonst hätten tun sollen.«
»Also habt ihr beschlossen wegzufahren?« Ich spürte das Verlangen, wieder Dinge zu schleudern.
»Wir mussten eine Wahl treffen. Du oder Tali. Wir wussten, dass wir nicht euch beide retten konnten, und wir wussten, dass wir Tali nicht retten konnten. Wir haben das gemacht, was du getan hättest.«
Mir blieb die Luft weg.
Danello nickte langsam. »Es war hart, aber wir mussten für jemanden entscheiden, der dazu nicht imstande war. Du.«
Ich schloss die Augen und bekämpfte die Tränen. Es war nicht die Wahl, die ich getroffen hätte. Aber das hast du, als du entschieden hast, Aylin und Danello zuerst zu retten.
Leise Schritte kamen durch die Kabine. Ich machte die Augen auf.
»Was ist, wenn sie stirbt?« Es wäre meine Schuld.
Danello setzte sich neben mich, allerdings immer noch misstrauisch. »Wird sie nicht. Sie ist zäher als du glaubst. Du hast ihr beigebracht zu überleben, genau wie mir.«
»Was ist, wenn das nicht genug war?«
»Es wird genug sein.«
Ich schaute ihn an und hätte ihn am liebsten wieder mit den Fäusten bearbeitet, gleichzeitig sehnte ich mich danach, mich in seinen Armen zusammenzurollen.
»Es tut mir so, so leid, Nya.«
Ich barg mein Gesicht an seinem Hals und schluchzte. Er hielt mich, streichelte mein Haar und versicherte mir, alles würde gut werden.
Aber das stimmte nicht. Vielleicht würde es nie wieder gut werden.
Das Boot hielt an einem verwitterten Anlegesteg, der aussah, als hätte hier seit Jahren keiner mehr festgemacht. Aber bei näherem Hinsehen stellte man fest, dass das Holz massiv und verstärkt worden war. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, dass alles alt und unbenutzt aussah.
Sechs Wagen warteten auf uns, samt Fahrern und bewaffneten Wachen. Sie begrüßten Jeatar äußerst respektvoll, den Rest von uns höflich. Wir besaßen mehr Ausrüstung und Nachschub als ich erwartet hatte. Sobald wir Platz genommen hatten, wurde alles verstaut. Ich fragte mich, woher sie von unserer Ankunft wussten. Doch dann sah ich, dass ein kleiner Käfig mit Vogelboten ausgeladen wurde. Jeatar hatte ihnen offensichtlich mit Hilfe dieser Vögel mitgeteilt, dass wir kamen.
Er hatte immer einen Fluchtweg parat. Wahrscheinlich war er deshalb noch am Leben.
Auf der Fahrt sprach ich nicht. Aylin versuchte, mit mir zu reden, aber ich starrte nur auf das Marschland, die Felder und die sanften Hügel. Meilenweit, während wir tiefer ins Inland rollten. Nach einer Stunde erreichten wir eine Steinmauer mit einem schweren Tor. Einer von Jeatars Männern ließ uns herein. Die Mauer sah überhaupt nicht alt aus, aber massiv und befestigt. Sie erstreckte sich neben der Lehmstraße nach beiden Seiten so weit ich sehen konnte. Jeatars Bauernhof musste riesig sein, wenn das die Grenze war.
»Seht nur!«, sagte Aylin, als wir uns dem Bauernhof selbst näherten. »Das ist Wahnsinn.«
Ich musste ihr zustimmen. Das Haus war noch größer als die Villa, zwei Stockwerke hoch, mit riesigen Bäumen und einem großen Hof. Blütenranken schlängelten sich um einen Holzzaun, der das Hauptgrundstück begrenzte. Gepflegte Felder mit Silos und Scheunen und anderen Gebäuden, die ich nicht erkannte, erstreckten sich meilenweit. Ich war mit Mama ein paar Mal im Marschland gewesen, aber nicht oft genug, um viel darüber zu wissen.
»Man könnte ganz Geveg in diese Felder stellen«, sagte Aylin.
Ich nickte.
Männer und Frauen kamen aus dem Hof, um uns zu begrüßen und die Sachen hineinzutragen. Halima und einige der anderen Kinder rannten voraus und jagten Schmetterlinge in den Gärten. Die Mitglieder des Untergrunds musterten die Gegend, als wollten sie die Verteidigungsmöglichkeiten feststellen. Aber ich glaubte, dass sie sich deshalb keine Sorgen machen mussten. Jeatar schien mehr als genügend Wachen hier zu haben.
Ich stieg vom Wagen. Ich hatte nichts zu tragen, da ich nichts mehr besaß. Vögel sangen fröhlich und unwissend.
Tali würde es hier lieben.
Jeatar öffnete eine Doppeltür und betrat den Hof. Wir folgten. Eine hübsche, dralle Frau erschien dem Geruch nach aus der Küche und trat an Jeatars Seite. Zu alt, um seine Frau zu sein. Bis jetzt war mir noch nie der Gedanke gekommen, Jeatar könnte eine Frau haben.
»Dort ist der Gästeflügel«, sagte er und deutete auf einen langen Gang nach rechts. Dunkle Holzböden glänzten in dem Licht, das durch die hohen Fenster fiel. Alle standen offen, und eine Brise trug den Duft von Geißblatt herein. »Ouea zeigt euch eure Zimmer und wird sich um alles kümmern, was ihr braucht. Am Ende des Ganges ist ein Badebereich, allerdings können den zurzeit immer nur vier auf einmal nutzen. Ihr müsst euch abwechseln. Abendessen gibt es in ein paar Stunden, aber wenn jemand jetzt Hunger hat, steht in der Küche etwas zu essen bereit.«
Die Leute zögerten. Sie waren hin- und hergerissen zwischen einem Bad und einem weichen Bett.
»Es bleibt stehen, ganz gleich, wann ihr fertig seid.«
Einige lachten und folgten Ouea den Gang hinunter. Andere gingen zum Badebereich oder in die Küche. Jeatar fing Aylin, Danello und mich ab, ehe wir gingen.
»Eure Zimmer sind oben«, sagte er und zeigte über die Schulter. »Dort ist es sicherer, mehr Wachen.«
»Danke«, sagte ich. Danello lächelte und lief schnell den Zwillingen und seiner Schwester hinterher, die bereits auf dem Weg zum Essen waren. Aylin blieb zurück, aber nach einem Moment verließ sie uns und ging die Treppe hinauf. Auf halbem Weg blieb sie stehen.
»Teilen wir uns ein Zimmer?«, fragte sie mich mit zitternder Stimme. Ich hatte seit unserer Abfahrt von Baseer nicht mit ihr gesprochen - Tali, du hast Tali zurückgelassen -, aber sie hatte es immer wieder versucht.
Sie hatte getan, wozu ich nicht imstande gewesen war. Ich hasste es, aber Aylin sah Dinge, die ich nicht sah. Sie besaß eine viel bessere Menschenkenntnis als ich. Oft wusste sie, was das Richtige war, ganz gleich, wie kompliziert es zu sein schien.
»Ja, nur ein Zimmer«, antwortete ich. Ich wollte lächeln, konnte es aber nicht. Noch nicht.
Aylin tat es für mich. Ihre Erleichterung war so groß wie ihr Lächeln. »In Ordnung. Dann habe ich auch eine gute Aussicht. Die beste auf dem Stockwerk, mach dir keine Sorgen.« Sie rannte nach oben. Ich hörte, wie Türen geöffnet und geschlossen wurden.
»Sie wusste, dass du wütend wärest, aber sie hat es dennoch getan«, sagte Jeatar mit mehr als nur einem Hauch von Achtung in der Stimme. »Ich bin froh, dass sie es getan hat. Ich glaube nicht, dass eine andere dich hätte aufhalten können.«
»Nein, wahrscheinlich nicht.« Ich hätte Danello überreden können, mich laufen zu lassen, wenn er allein gewesen wäre. Aber er hätte es von Anfang an gar nicht versucht. Wahrscheinlich hätte er versucht, mich zur Abfahrt zu überreden, wäre dann aber bei mir geblieben, wenn ich Baseer nicht verlassen hätte. Ich hätte uns beide in den Tod geführt. »Aylin hat öfter recht als nicht.«
Er nickte, schaute aber immer noch traurig drein. »Ich wünschte, ich hätte mehr tun können.«
»Eine helfende Hand ist nie verschwendet.«
Er lachte kurz. »Die heilige Nya, Schwester des Optimismus.«
Ich? Eine Heilige? Wohl kaum.
Der Wind blies den Vorhang beiseite, sodass ein Lichtstrahl über seine Augen fiel. Er blinzelte und verzog unmutig das Gesicht. Einen Herzschlag lang sah er wie der Herzog aus. Er hatte sogar die gleichen Augen.
Siektes Stimme hallte in meinem Kopf nach. Wen interessieren legitime Erben? Von der Familie ist keiner mehr übrig.
Und Jeatars leises Flüstern. Drei. Es waren drei Brüder.
Vielleicht war ich nicht die einzige mit einem Baseeri-Onkel.
»Bist du ...« Ich biss mir auf die Zunge und verschluckte die Frage. Es war verrückt, das auch nur zu denken. Verrückter als die Vorstellung, dass ich eine Heilige sei.
»Was bin ich?«
»Du bist reicher, als ich gedacht habe«, sagte ich schnell. »Dieser Bauernhof. Die Villa.« Es war nur eine Vermutung, aber er hatte es sein Haus genannt, und obwohl Onderaan die Führung zu haben schien, hatte er stets Jeatar den Vortritt gelassen, ihn beschützt und verteidigt.
Sie haben sich dem Herzog widersetzt, ihn zum Handeln gezwungen. Alles, was sie hätten tun sollen, war eine Übergabe.
Eine Übergabe. Was? Oder wahrscheinlicher, wen? Jeatars Vater? Jeatar war nur mit knapper Not aus Sorille entkommen, als der Herzog es niederbrannte. Der Herzog war nach Sorille gezogen, weil sein Rivale dort war.
Jeatar besaß Geld, sogar Macht, selbst wenn er sich augenscheinlich versteckt hielt. Es lag ihm am Herzen, was mit den Menschen geschah, und er bemühte sich, ihre Lebenssituation zu verbessern, obwohl er sich doch auf diesem Hof für immer verstecken und alles ignorieren konnte. Doch das tat er nicht. Er kämpfte für etwas, an das er glaubte, ganz gleich, welchen Preis es kostete.
Was ist, wenn Tali der Preis war?
Das würde ich nicht zulassen. Onderaan war mit Jeatar verbunden, Großpapa mit Sorille. Meine Familie war mit seiner verbunden, und obwohl ich nicht wusste wie, so wusste ich doch warum. Wir alle wollten dem Herzog Einhalt gebieten. Wir alle waren bereit, dafür Opfer zu bringen.
»Es ist Geld der Familie«, sagte er. Seine Traurigkeit war zurückgekehrt. »Viel ist nicht mehr übrig.«
»Oh.« Weil er es ausgegeben hatte, um den Herzog aufzuhalten? Dem Untergrund geholfen hatte; den Menschen Essen, Waffen und so viel Sicherheit wie möglich gegeben hatte?
»Komm, gehen wir, damit du etwas zu essen bekommst«, sagte er. »Ich weiß, dass du Hunger hast.«
»Ich habe immer Hunger.« Ich folgte ihm in die Küche, die sonnig und hell wie der Rest des Hofes war.
In meinem Verstand drehte sich alles. Nein, es musste ein Zufall sein, ein Trick des Lichts. Wenn Jeatar der legitime Erbe war, hätte Onderaan das gewusst. Er hätte es den Leuten gesagt und Jeatar eingesetzt, um sowohl den Untergrund als auch die, die insgeheim gegen den Herzog waren, zu sammeln. Er hätte ihn dem Hohen Gericht vorgestellt und die Verbrechen des Herzogs aufgedeckt.
Es sei denn, Onderaan wusste es nicht.
Jeatar versteckte sich vielleicht vor uns allen und versuchte insgeheim, das zu tun, was dem Rest seiner Familie nicht gelungen war - dem Herzog Einhalt zu gebieten, den drei Territorien die Unabhängigkeit zurückzugeben und die Kriege zu beenden. Sich zu verstecken, war klug, denn der Herzog würde Jeatar mit Sicherheit nach dem Leben trachten, wenn er entdeckte, dass dieser noch lebte.
Aber Verstecken funktionierte nicht. Der Herzog würde nicht aufhören, und wenn er doch mit Hilfe der Heiligen in dem Blitz gestorben war, würden die falschen Leute nach dem Thron gieren, und nichts würde sich für uns ändern, außer, dass ein anderer uns den Stiefel in den Nacken drückte.
Keiner von uns war sicher. Nicht ich, nicht Tali, niemand.
Jeatar reichte mir einen Teller mit Obstschnitten. »Du hast wieder diesen Blick«, sagte er, als würde ihm das Sorge bereiten.
Vielleicht sollte es das. »Ich habe nur nachgedacht.«
Er nickte mit Mitgefühl in den Augen. »Wir gehen zurück und suchen Tali - wenn es sicher ist. Das verspreche ich.«
»Ich weiß. Ich habe über etwas anderes nachgedacht.«
Er zog die Bauen hoch. »Wirklich?«
Ich nickte. »Wirklich.«
Zum Beispiel an eine Zukunft, in der wir uns nicht verstecken mussten, sondern direkt nach Baseer marschieren konnten; in die Lager, wo wir Tali und jeden, den der Herzog je entführt hatte, befreien würden. Wenn die Unsterblichen von ihrem Bann erlöst wären, und niemand wieder Experimente mit Schmerzlösern durchführte. Wenn die Menschen von Geveg, Verlatta und sogar Baseer in Sicherheit arbeiten, spielen und leben könnten.
Eine Zukunft mit Jeatar auf dem Thron.