Einundzwanzigstes Kapitel

 

Mehr Glocken schrillten, als wir zu den Toren der inneren Mauer rannten, wobei wir die Karren mit dem Erz schoben. Feueralarm, allgemeiner Alarm, ich hatte keine Ahnung, was geschlagen wurde. Fast übertönte dieser Lärm den Schlag der Turmglocke. Vier Mal.

Die Lampen neben dem Tor leuchteten vor uns, dazu schwankten die Fackeln. Der Alarm hatte offensichtlich die Torwachen aufgeschreckt, sodass sie nach Verstärkung riefen. Ich zählte vier Fackeln. Demnach warteten wohl sechs Soldaten auf uns.

Ich hatte keine mit Schmerzen gefüllte Rüstung mehr. »Wer hat noch einen Pynviumstab?«

Zwei Männer holten ebenso viele heraus.

»Gebt mir einen!«

Sie zögerten.

Sorg versetzte dem ihm nächsten Mann einen Schlag auf den Kopf. »Gib ihn ihr!«

Er tat es.

»Bleibt hinter mir!« Ich rannte voraus, den Stab in der Hand, bereit zu blitzen, sobald ich Schmerz spürte. Oder bis ich sie sah, was immer zuerst kam. Ich ging davon aus, dass auch sie Stäbe hatten; vielleicht aber auch nicht.

Als erstes spürte ich die Stiche von geblasenem Sand. Vier Soldaten standen mit gezückten Schwertern in einer Linie. Ein fünfter hielt den Stab.

Ich machte eine schnelle Drehung mit dem Handgelenk und schickte Schmerzblitze zu den Soldaten hinüber. Vier fielen, der letzte taumelte, stürzte jedoch nicht zu Boden. Er griff an. Ich wich seitwärts aus, aber seine Klinge streifte meine Schulter. Ich biss die Zähne zusammen, als ich auf der Straße landete.

Danello schwang sein Schwert und stürzte sich auf den Soldaten. Dieser wehrte den Schlag ab, aber er brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Danello nützte den Vorteil, holte wieder aus und schlug dem Gegner das Schwert aus der Hand.

Ein Lehrling drängelte sich vor, rammte seinen Erzkarren in den Soldaten und presste ihn gegen das Tor.

»Holt die Schlüssel!«

Zee nahm sie, und die Torflügel flogen auf. Wir rannten die dunkle Straße entlang und bogen oft ab, um Verfolger abzuschütteln. Als wir sicher waren, dass uns niemand folgte, hielten wir in einer Seitengasse an und holten Luft.

»Seht euch all das Pynvium an«, sagte Quenji mit ehrfurchtsvoller Stimme. »Ich kann nicht glauben, dass du es wirklich getan hast.«

»Es ging nicht genau nach Plan, aber Ende gut, alles gut. Nimm einen Beutel und füll ihn. Wir können diese Karren nicht durch die Straßen schieben. Es wird nicht lange dauern, dann wimmelt es überall von Soldaten.«

Wir verteilten die Beutel und Rucksäcke und füllten so viel Erz hinein, wie sie fassten. Aber danach waren immer noch drei Karren übrig.

»Den Rest können wir verstecken«, sagte Quenji. Die Techniker schüttelten die Köpfe.

»Das gehört uns ebenso wie jedem anderen.«

Ich wurde zornig. »Mir ist gleich, wer es nimmt, solange der Herzog es nicht bekommt.«

Zee stellte sich hinter einen Karren. »Dann nehmen wir diesen hier.«

»Und wir nehmen diesen.« Die Techniker der Gießerei und die Waffenschmiede stellten sich hinter den zweiten Karren.

Sorg tätschelte den dritten. »Ich glaube, den schaffe ich.«

Quenji prüfte die Straße und gab Zee das Zeichen, sich in Bewegung zu setzen. »Schifterin, wenn du wieder Hilfe brauchst, weißt du, wo du uns findest.«

»Tu ich. Und vielen Dank.«

Er wuchtete die Pynviumbeutel auf die Schultern. »Es war es wert. Lass dich nicht erwischen.«

»Bleibt frei.«

Ceun blies mir einen Kuss zu und rannte mit dem Rest seiner Bande los. Ich wandte mich an meine Bande. Aylin, Danello, Enzie, Winvik, Jovan, Bahari, der Heilerjunge und zehn Techniker und Lehrlinge.

»Habt ihr einen Platz, wohin ihr gehen könnt?«, fragte sie Aylin.

»Ich kann selbst sehr gut für mich sorgen«, antwortete der Techniker, der sich den zweiten Karren genommen hatte. »Wir machen uns auf den Weg. Danke für die Rettung.« Er schob mit dem Karren los, entgegen der Richtung, die Quenji eingeschlagen hatte. Die Waffenschmiede folgten ihm.

Sorg wandte sich an mich. »Sie werden innerhalb eines Tages erwischt werden, merk dir meine Worte. Wir bleiben bei dir.«

Danello grinste. »Ich kann es kaum erwarten, Siektes Gesicht zu sehen, wenn wir dort eintreffen.«

 

»Du kannst nicht einfach Fremde hierher mitbringen!«, rief Siekte, sobald wir den Hauptraum betreten hatten. Auch keiner der anderen schaute glücklich drein, uns wieder zu sehen. Enzie und die anderen setzten sich auf Stühle und den Boden. Wir hatten auf dem Weg drei Leute verloren - der letzte Techniker hatte beschlossen, die Stadt zu verlassen. Ein Lehrling verließ uns, als wir nahe der Herberge seiner Familie waren, und noch einer lief weg, als wir zur Villa kamen, weil er Angst vor Aristokraten hatte.

Ich leerte den Beutel Pynvium auf den Tisch. Danello stellte sechs Heilziegel daneben. Aylin legte eine komplette Pynviumrüstung hin. Der Beutel mit dem Metallsand, den ich mitgenommen hatte, stellte sich als feingemahlenes Pynvium heraus.

Siekte starrte mich an, dann den Tisch. »Wie habt ihr so viel bekommen?« Sie nahm einen Teil der Rüstung in die Hand. »Ist das ...?« Sie schaute mich mit offenem Mund an. »Heilige! Ist das die Rüstung eines Unsterblichen?«

»Sie war es.«

Die Leute hinter ihr begannen zu reden und einige sahen uns nicht mehr so missbilligend an.

»Wo habt ihr das her?«

»Aus der Gießerei.« Ich bemühte mich, nicht zu lächeln, als ich das sagte. »Und da ist noch ein Karren mit Pynviumerz in der Küche. Vielleicht schickst du jemand hinauf, um es zu holen«, sagte ich.

Sämtliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Was hast du getan?«

»Der Herzog wird eine Weile keine Waffen mehr herstellen.«

»O nein. O nein, das darf doch nicht wahr sein! Wie konntest du so dumm sein!«

Ich wich zurück. Danello trat vor. »Sie hat das getan, von dem du behauptet hast, es könne nicht getan werden.«

»Es durfte nie getan werden, du Idiot.« Sie wandte sich an die anderen. »Alarmiert sofort die anderen Häuser. Sorgt dafür, dass alle bewaffnet und bereit sind.«

Etliche nickten und gingen nach oben. Das Bücherregal knallte zu, und Schritte kamen herab. Onderaan betrat den Raum. Auf seinem Gesicht mischten sich Wut und Furcht.

»Du solltest doch nichts tun, bis Jeatar zurückkehrt«, sagte er zu mir.

»Warte«, rief Siekte. »Du hast davon gewusst? Mich hast du zurückgehalten, aber du hast sie die Gießerei angreifen lassen.«

Onderaan ignorierte sie. »Die halbe Garnison ist auf den Beinen und sucht dich. Hast du irgendeine Vorstellung, was du getan hast?«

»Sie hat uns befreit«, sagte Sorg. »Und dem Herzog eine ordentliche Schlappe zugefügt. Direkt ins Auge gestochen.«

Onderaan schaute ihn und seine Kameraden an, als hätte er sie soeben erst bemerkt. »Wer sind all diese Leute?«

»Die Schmerzlöser und Techniker, die der Herzog in der Gießerei gefangen hielt. Er hat sie gezwungen, für ihn zu arbeiten.«

Onderaan seufzte. »Du hast keine Ahnung, was du getan hast.«

Nein, aber offensichtlich war die Zerstörung der Gießerei nicht der Sieg, für den ich ihn gehalten hatte. »Ich habe gedacht, der Plan war, dem Herzog Einhalt zu gebieten.«

Siekte schnaubte. »Aber du hast ihn nur wütend gemacht und ihm einen Vorwand geliefert, uns zu jagen. Onderaan, was ist draußen los?«

»Die Gießerei steht in Flammen. Geschmolzenes Pynvium soll überall auf dem Boden sein. Die Garnison ist alarmiert. Sie schließen die Tore, alle. Niemand kann in die Stadt gelangen oder sie verlassen.«

»Ist das nicht der perfekte Zeitpunkt, den Herzog anzugreifen?« fragte Danello. »Seine Männer sind überall verteilt, und er ist durch die Gießerei abgelenkt.«

»Wenn wir bereit wären«, sagte Siekte. »Sind wir aber nicht, und keiner ist an seinem Platz.«

»Ich dachte, du hättest die Leute einsatzbereit. Neulich hast du dich damit gebrüstet.«

Sie erstarrte und warf einen Blick auf Onderaan, der darüber noch weniger als über mich glücklich zu sein schien.

»Was redet er?«

»Er ist verwirrt.«

Danello runzelte die Stirn. »Kaum. Sie hat behauptet, sie hätte ihre Leute einsatzbereit, den Herzog zu ermorden.«

Siekte sah aus, als würde sie jeden Moment explodieren. Onderaan kam ihr zuvor.

»Ermorden?«, brüllte er. »Wie oft habe ich dir gesagt, nein. Wenn ihr den Herzog umbringt, zerbricht Baseer und ihr löst einen Bürgerkrieg aus. Wir können ihn nur loswerden, wenn wir ihn bloßstellen, ihn diskreditieren.«

»Kaum«, höhnte sie mit einem Blick auf Danello. »Glaubst du wirklich, dass sich irgendjemand dafür interessiert, was er macht? Sie wissen Bescheid und tun nichts.«

»Die Menschen wissen nicht Bescheid«, widersprach Onderaan. »Und nicht alle Aristokraten und prominenten Familien kennen die Wahrheit.«

»Das werden sie, wenn er tot ist.«

»Was einen Aufstand entfacht. Du schaffst ein Loch, das jeder machthungrige Aristokrat in Baseer füllen möchte. Es wird Krieg geben, und die Menschen werden leiden. So gewinnt man nicht. Der Herzog hat den Thron gestohlen. Wir müssen daher das Hohe Gericht dazu bringen, ihn des Hochverrats zu überführen ...«

»Der Herzog besitzt das Hohe Gericht ...«

»... und der legitime Erbe wird ...«

»Ach, das wieder? Wen interessieren schon legitime Erben? Haben sie etwas getan, um uns zu helfen? Du versuchst nur zu beweisen, dass deine Familie im Recht war, als sie den wahren Herzog unterstützte, und dass die sich irrten, die ihren Ratschlag ignorierten.«

»Sie haben sich geirrt!«

»Na und? Von dieser Seite der Familie ist keiner mehr übrig.«

»O doch!«

»Gerüchte, nichts weiter. Mythen, um die Moral zu heben. Du warst nie imstande, sie herbeizuschaffen oder einen Beweis zu liefern, dass es sie gibt. Warum sollten wir dir glauben?«

»Weil es die Wahrheit ist.«

Siekte schnaubte.

»Wenn du Beweise brauchst über das, was der Herzog tut, haben wir die Beweise direkt hier«, erklärte ich wütend.

Alle starrten mich an.

»Ich habe bewiesen, dass der Erhabene Gevegs Pynvium gestohlen hat, und dass der Herzog Experimente an den Schmerzlösern vornimmt. Ich habe sie befreit und sie ihre Geschichte erzählen lassen. Diese Techniker und Löser können euch mehr darüber sagen, was er getan hat, als irgendjemand sonst. Sie sind deine Beweise. Lass sie vor dem Hohen Gericht aussagen.«

Siekte verschränkte die Arme. »Sie würden es niemals lebend schaffen, und selbst wenn, niemand würde ihnen glauben.«

»Warum nicht?«

»Niemand traut Lösern oder Technikern mehr. Nicht nach dem, was der Herzog mit ihnen angestellt hat.«

Onderaan widersprach ihr nicht. Auch kein anderer, nicht einmal die Techniker, die wir befreit hatten.

»Ihr seid Narren«, sagte ich. »Den Fisch zurückwerfen, weil ihr Appetit auf Geflügel habt. Wen interessiert es, ob sie ihnen trauen oder nicht. Sie können die Geschichten hören, hören, was geschieht, und vielleicht werden dann einige anfangen zuzuhören. Man kann niemanden überzeugen, wenn er nicht weiß, was tatsächlich geschieht.«

»Und was geschieht tatsächlich?«, fragte Jeatar vom Fuß der Treppe. Er sah müde, abgekämpft und schmutzig aus.

»Du bist zurück!«, sagte ich erleichtert. Er hatte gesehen, wie es in Geveg funktioniert hatte. Er konnte diese Idioten hier überzeugen, dass ich recht hatte.

»Nya hat die Gießerei zerstört«, sagte Siekte. »Und bei Morgengrauen wird die gesamte Armee Baseeris nach uns fahnden, wenn sie das nicht schon jetzt tut.«

»Sie sind jetzt schon ausgerückt. Ich bin gerade noch durch die Tore gekommen, ehe sie dicht gemacht wurden. Vom Landeplatz im Hafen kann man Rauch und Flammen sehen.« Er kam zu mir und musterte die besorgten Techniker und Schmerzlöser, die sich in einer Ecke geschart hatten.

»Er wird uns erledigen«, sagte Siekte. »Den gesamten Untergrund. Niemand wird sicher sein.«

»Wir waren vorher auch nicht sicher.«

»Dann kämpfen wir«, sagte ich.

»Kämpfen?« wiederholte Siekte. »Er schickt keine regulären Soldaten gegen uns. Er schickt die Unsterblichen. Planst du, gegen sie zu kämpfen?«

Ich lächelte. »Tatsächlich ziehe ich es vor, gegen sie zu kämpfen. Viel leichter zu besiegen.«

Alle starrten mich an, als sei ich verrückt geworden, abgesehen von denen, die mich kannten. Die grinsten nur.

»Du hast den Verstand verloren.«

Jeatar seufzte. »Nein, Siekte. Sie ist nur sehr viel klüger, härter und schwerer umzubringen als du.«

Aber Tali war nicht so schwer zu töten. Der Herzog mochte ja seine gesamte Garnison ausschicken, um mich zu suchen, aber sie war viel leichter zu finden. »Jeatar, wenn die Unsterblichen gegen uns ausgeschickt wurden, heißt das doch, dass das Lager der Schmerzlöser unverteidigt ist. Oder nur schwach bewacht?«

Er zog die Brauen in die Höhe, und ich schwöre, er hatte Mühe, nicht zu lachen. »Das meinst du nicht ernst.«

»Ich muss meine Schwester da herausholen.«

Er lachte kurz. »Nein, du kannst nicht hineingehen. Die Lager sind außerhalb der Mauern, und niemand kommt zurzeit durch die Tore.« Er deutete auf die Uniformen, die wir noch trugen. »Sie haben diese Uniformen jetzt gesehen und lassen sich von ihnen nicht mehr täuschen. Sie überprüfen jeden Soldaten zwei Mal, um sicherzugehen, dass er tatsächlich ein Soldat ist.«

»Sie hat sogar das für uns ruiniert«, fügte Siekte hinzu.

»Sie hat überhaupt nichts ruiniert«, widersprach Onderaan. »Wir können das ausnutzen und Gelegenheiten schaffen, um für unsere Seite Unterstützung zu gewinnen. Die Menschen sind bereits zornig, und wenn der Herzog anfängt, Türen einzubrechen und unschuldige Familien zu einem Verhör wegzuschleppen, werden diejenigen, die jetzt noch nicht sicher sind, überzeugt werden und sich uns anschließen.«

Siekte schüttelte den Kopf. »Diese Methoden funktionieren nicht. Der Junge hatte recht wegen des Angriffs. Wir müssen diese Schweinerei ausnutzen und den Herzog umbringen, solange wir können.«

»Das löst einen Krieg aus.«

»Und was sie getan hat, nicht?«

»Wenn Krieg ist, muss ich Tali herausholen«, erklärte ich. »Sie ist in größerer Gefahr als wir.«

Onderaan zuckte zusammen und musterte mich scharf. »Deine Schwester heißt Tali?«

In seinen Augen sah ich die Bestätigung, als hätte er endlich herausgefunden, was ich seit Wochen abgestritten hatte. Meine Hände und Finger wurden kalt. Ich wollte diese Frage wirklich nicht beantworten. Nicht ihm, nicht mir. Ich wollte der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen. »Ja«, flüsterte ich.

»Heilige! Ihr seid Pelevens Töchter?«

Ich nickte.

Onderaan rang nach Luft. Dann streckte er mir die Hände entgegen. »Er war mein Bruder«, sagte er leise. »Ich bin dein Onkel.«