Fünfzehntes Kapitel

 

Ich beugte mich ganz tief über meinen Teller, das Gesicht nach unten und zur Seite. »Hat sie

uns gesehen?«

»Nein, sie redet mit diesem Hünen, den sie früher schon bei sich hatte.«

Stewwig.

»Benehmt euch völlig normal«, sagte Jeatar und trank einen Schluck. »Gebt ihr keinen Grund herüberzuschauen.«

»Was macht sie jetzt?« Ich saß mit dem Rücken zur Straße.

»Ich glaube, sie ist zum Mittagessen hergekommen.« Danello senkte den Kopf. »Sie sitzt zwei Tische weiter«, flüsterte er so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte.

Aber ich konnte Vyand hören.

»... egal, was er denkt - sie wird kommen.«

Stewwig grunzte eine Antwort, aber nicht laut genug, dass ich sie hören konnte.

»Sie ist ins Gefängnis eingedrungen, richtig? Glaube mir, sie wird nie zulassen, dass ihre ... « Vyand brach ab, als die Bedienung am Tisch erschien.

Ich blickte kurz zu Jeatar. Sprach sie über mich? Ich war ins Gefängnis eingedrungen, und es gab eigentlich keinen Grund, dass ein Greifer sich bei der Gießerei herumtrieb. Höchst unwahrscheinlich, dass Schmerzlöser hier waren. Es sei denn ... Glaube mir, sie wird sie nicht im Stich lassen - wen im Stich lassen? Schwester? Freunde?

O Heilige! Tali ist vielleicht hinter diesen Mauern, fünfzig Fuß entfernt.

»Sie ist zäh, und sie rennt nicht weg«, fuhr Vyand fort, nachdem die Bedienung mit der Bestellung gegangen war. »Sie muss immer noch in der Stadt sein. Wirf hier und da ein paar Krümel aus und stell fest, ob sie ihnen folgt. Sage unseren Verbindungsleuten, sie sollen in der Stadt verbreiten, dass wir ihre Schwester haben. Das führt sie uns direkt in die Arme.«

Ich packte meine Gabel fester. Danello und Aylin schauten mich mit großen, hoffnungsvollen Augen an. Jeatar blickte mich ebenfalls an, aber er schien besorgt zu sein.

Hatte sie Tali tatsächlich, oder war es eine Falle? Was scherte es mich? Wir mussten uns Zugang verschaffen, ganz gleich wie - selbst wenn alles ein Trick sein sollte.

Nachdem Vyand zurück in die Gießerei gegangen war, gingen auch wir. Ich kämpfte gegen den Impuls zu rennen an. Ich wollte unbedingt hinein und betete, dass Vyand nicht gelogen hatte.

»Glaubst du, dass Bahari und Jovan auch drinnen sind?«, fragte Danello, wahrscheinlich mit dem gleichen Ausdruck wie ich.

»Durchaus möglich.«

»Es muss eine Falle sein«, sagte Jeatar. »Warum sollten sie Schmerzlöser in einer Gießerei gefangen halten?«

Aylin zuckte mit den Schultern. »Das sind nicht nur Löser, sie dienen als Köder. Und es ist schwierig, dort hineinzugelangen.«

»Deshalb muss es eine Falle sein.«

Wir waren alle still, als wir zum Tor kamen und unsere Siegel aushändigten. Danach gingen wir noch ein paar Blocks, bis Jeatar uns auf eine Straßenseite zog.

»Nya, ich verstehe, dass du das unbedingt glauben willst, aber denk nach. Es gibt andere Orte, wo Vyand ihren Hinterhalt legen könnte und wo es für dich viel leichter wäre hineinzutappen.«

»Ich bin sicher, Nya würde misstrauisch werden, wenn es zu leicht erschiene«, warf Danello ein. »Ich weiß, dass ich misstrauisch wäre.«

Jeatar räusperte sich. »Wenn es um Tali geht, nein; da würde sie nicht auf ihr Misstrauen hören.«

»Ich glaube nicht, dass alles eine Lüge ist«, sagte ich, verärgert über Jeatar, auch wenn seine Bemerkung mehr als nur ein bisschen Wahrheit enthielt. »Weil es schwierig ist, hineinzukommen. Und Vyand weiß genau, dass wir es versuchen werden, ganz gleich wie schwierig es ist. Sie hätte die Gießerei nicht gewählt, wenn dort nicht etwas wäre, das ich wollte.«

»Es sei denn, sie lügt.«

»Nein, wartet«, sagte Aylin und hob die Hand. »Nya hat recht. Wenn sie herausfindet, wo Tali tatsächlich festgehalten wird, geht sie auch dorthin. Der einzige Grund, weshalb Vyand in der Gießerei ist, ist, dass sie annimmt, Nya wird unter allen Umständen dort hineingehen.«

Danello nickte. »Nya hat uns im Gefängnis gefunden. Es ergibt Sinn, dass Vyand glaubt, sie habe eine Möglichkeit herauszufinden, wo Tali und meine Brüder sind.«

Jeatar antwortete nicht sogleich. Dann stieß er entnervt die Luft aus. »Du könntest recht haben. Aber ich halte es trotzdem noch immer für eine Falle.«

»Naja, das ist nicht zu übersehen«, sagte Aylin.

Er runzelte die Stirn, schaute jedoch mich an. »Ich kann dir das nicht ausreden, oder?«

»Keine Chance.«

»Sie weiß, dass du kommst.«

»Aber nicht, dass ich weiß, dass sie dort ist.« Ich lächelte. »Das bringt uns einen Vorteil.« Wieviel Vorteil, wusste ich nicht, aber er musste etwas zählen.

Aylin grinste. »Soooo, wie lautet der Plan?«

Ich schaute zum Aquädukt hinauf. »Du hast gesagt, er führt zu einem See?«, fragte ich Jeatar.

»Ja. Er beginnt dort und bringt frisches Wasser in die Stadt hinab. Es gibt zwei Zisternen; eine bei der Zitadelle und die zweite auf der anderen Seite von Baseer.«

»Können wir hinaufklettern?«

»Auf den Aquädukt?« Er schien allein über meine Frage schockiert zu sein. »Das sind gut fünfzig, sechzig Fuß bis dort oben und die Wasserleitung selbst kann nicht mehr als vier Fuß breit sein.«

Ich war schon auf höheren und schmaleren Felskanten gelaufen.

»Vyand hat wahrscheinlich in der ganzen Gießerei Wachen aufgestellt«, sagte Danello.

»Wir könnten hier auf sie warten«, sagte Aylin. »Irgendwann muss sie aufgeben und fortgehen, richtig? Dann müssten wir zwar an den beinahe unbezwingbaren Wachen vorbei, die rechnen dann aber nicht mehr mit uns.«

Keiner sagte etwas. Sie konnten warten, bis Vyand herauskam, aber ich hatte nicht so viel Zeit. Und Tali und die Zwillinge ebenso wenig, wenn man sie als Köder benutzte. Der Herzog ließ Vyand sie vielleicht ein Weilchen benutzen, um mich zu bekommen, aber er hatte eigene Pläne mit ihnen.

»So geht das nicht«, sagte ich. »Vielleicht verlegen sie Tali und die Zwillinge, und selbst wenn nicht, bin ich in ein oder zwei Tagen kaum noch eine Hilfe.«

»Und wenn wir die Schmerzen teilen?«, fragte Aylin.

»Sie würden jeden töten, der sie aufnimmt.«

Aylin schüttelte den Kopf. »Ich meine nicht, dass wir sie alle gleichzeitig nehmen. Ich nehme sie heute, Danello morgen. Jeatar am Tag danach, dann wieder zurück zu dir. Sobald die Schmerzen weg sind, geht es dir doch gut, oder? Dann nehmen wir sie jeder für einen Tag.«

»Würde das funktionieren?«, fragte Danello und schaute wieder hoffnungsvoll drein.

»Ich weiß nicht.« Schmerzen überbeanspruchten den Körper, doch sobald sie weg waren, hatte der Körper keine Belastung mehr. »Aber sie würden jedes Mal etwas Schaden anrichten, den ich jedes Mal heilen müsste, wenn ich schifte. Und das wird schlimmer, je länger wir sie ertragen.«

»Aber eine Zeitlang würde es funktionieren, oder?«

»Ich glaube schon.«

»Ich bin bereit, es zu versuchen«, erklärte Danello.

Aylin nickte. »Ich ebenfalls. Machen wir es. Bringt mir ein paar Kissen und ein paar Bücher, dann bin ich für einen Tag ausgerüstet.«

Lieber wollte ich nein sagen, aber Aylins entschiedener Blick verriet mir, dass sie das nicht zulassen würde. Und ich wollte wirklich nicht sterben, selbst, wenn das bedeutete, meinen Freunden Schmerzen zuzufügen. Mir wäre eine andere Möglichkeit lieber gewesen, mein Leben zu retten; aber ein Ertrinkender greift nach dem nächsten Ast.

»In Ordnung. Danke.«

»Wozu hat man Freunde?«

Jeatar schloss die Villa auf und wir gingen hinein, durch die extravagante Küche und dann die Wendeltreppe hinunter. Heute war der Hauptraum sehr voll; dreißig, vielleicht vierzig Menschen standen in Trauben da. Siekte stand auf, als wir hereinkamen, gefolgt von drei anderen.

»So früh schon zurück?«, fragte sie und verschränkte die Arme. Die anderen ahmten sie nach.

»Wir haben herausgefunden, was wir brauchten«, erklärte Jeatar.

»Da bin ich sicher. Diese Schifterin ist hier nicht willkommen.«

Niemand sollte über mich Bescheid wissen, und sie hatte es soeben dem gesamten Untergrund kundgetan. Aufgrund der stummen Reaktion schloss ich, dass alle es bereits wussten.

»Nett von dir«, sagte Jeatar. »Aber da Onderaans Stimme die einzige ist, die zählt, bleibt sie.«

»Der Herzog sucht sie. Das macht uns verwundbar.«

»Der Herzog sucht auch Onderaan. Willst du ihn auch rauswerfen?«

Der Anflug eines Lächelns huschte um ihre Lippen. »Selbstverständlich nicht. Er ist ein guter Führer«, sagte sie. Allerdings bezweifelte ich, dass sie das wirklich meinte. »Aber er bringt uns alle in Gefahr, indem er sie schützt.«

»Wir sind alle in Gefahr, indem wir hier sind.«

Sie funkelte ihn an. »Du weißt, was ich meine. Warum dem Herzog einen legalen Vorwand liefern, alle Häuser zu durchsuchen, die seiner Meinung nach zum Untergrund gehören?«

Wie viele gab es? Ich war davon ausgegangen, dieses wäre das einzige Haus, aber wenn sie in der ganzen Stadt Villen hatten, konnten das Hunderte von Menschen sein, wenn nicht Tausende. Waren das nicht genug, um sich gegen den Herzog zu empören und ihn vom Thron zu zerren?

»Siekte, du kannst nicht ...«

»Doch, ich kann! Das ist keine persönliche Vendetta für uns. Wir versuchen nicht, Missstände aufzudecken oder zu beweisen, dass unsere Familie die ganze Zeit recht hatte. Wir wollen, dass der Herzog geht, und es gibt leichtere Möglichkeiten, das zu erreichen.«

Jeatar runzelte die Stirn. »Wir werden den Herzog nicht ermorden.«

»Wir haben Leute vor Ort, die das tun können.«

Ich blickte Danello an. Den Herzog ermorden? Vielleicht war Siekte doch nicht so übel.

Jeatar schüttelte den Kopf. »Wir haben darüber gesprochen, Siekte. Ihn bloßzustellen, ist die einzige Möglichkeit, um Blutvergießen zu vermeiden.«

»Sie zu schützen, schützt auch uns«, sagte Neeme aus einer Ecke heraus. Ich hatte sie vorher nicht auf dem Sofa gesehen, ebenso wenig ihre Freundin Ellis. »Wenn wir sie rauswerfen, kann der Herzog sie viel leichter finden.«

»Er weiß bereits, dass sie in Baseer ist! Sie hat geschiftet und geblitzt und alles, was sie sonst noch tut. Die ganze Stadt flüstert darüber. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie herausfinden, wohin sie gegangen ist.«

»Sie weiß, wo wir sind«, meinte Neeme nur. »Selbst ein herzloser Aal wie du sollte begreifen, dass es ein Problem ist, wenn sie erwischt wird. Sie hier zu behalten, ist für uns alle sicherer.«

Moment mal ... Ich war ja völlig dafür, beschützt zu werden, aber mich hier behalten? Ich musste Aquädukte erklettern und Schmerzlöser retten. Ich konnte nicht hier festsitzen.

Die anderen begannen zu flüstern und nervös um sich zu schauen. Ich schätze, niemand hatte diesen Aspekt bedacht. Selbst Siekte zögerte.

»Na gut, wenn sie keinen Fuß vor die Tür setzt.«

Ich trat vor. »Das ist nicht ...«

»Verlang alles, was dich glücklich macht, Siekte«, sagte Jeatar und legte seine Hand über meinen Mund. »Letztendlich entscheidet doch Onderaan.«

»Schwöre, dass du nicht hinausgehst«, sagte Siekte zu mir, als sei ich die Schuldige.

Ich streckte die Hand aus. »Wie wär's, wenn wir uns darauf die Hand gäben?«

Sie trat mit großen Augen zurück. »Verlass einfach nicht das Haus!«

»Nur mein Zimmer.« Für jetzt. Nie im Leben würde ich zulassen, dass sie mir sagte, was ich tun und lassen dürfe. Und aufgrund Jeatars Ausdruck galt dies wohl auch für ihn, selbst wenn er hier zurückgesteckt hatte. Siekte hatte eindeutig ihre Grenzen überschritten, aber Jeatar konnte es ohne Onderaan oder seine eigenen Anhänger nicht mit ihr aufnehmen.

Jeatar ging mit uns bis zur Tür zu den Gästezimmern. »Bleibt fürs erste dort. Ich sage Onderaan, was los ist, und er wird sich mit ihr befassen. Sie meint es gut, aber sie ist in ihrer Taktik ein bisschen aggressiv.«

»Das ist die Untertreibung des Jahres«, meinte Aylin.

»Wie viele sichere Häuser hat der Untergrund?«, fragte ich.

»Dreiundzwanzig. Manche größer, manche kleiner.«

»Können wir in eins umziehen?«

»Mir ist es lieber, wenn ihr bei mir bleibt.« Etwas in seiner Stimme machte mir Sorgen.

»Warum?«

»Siekte ist nicht die einzige, die unzufrieden ist, wie Onderaan handelt. Sie glauben, er sei zu passiv.«

»Sie alle wollen den Herzog umbringen?«

»Nicht alle, aber mehr, als mir lieb ist.«

»Verliert Onderaan die Kontrolle über den Untergrund?«

Jeatar nickte. »Wir haben eine Menge Kontrolle verloren, als die Unsterblichen auftauchten. Onderaan wurde völlig kalt erwischt. Wir haben nicht einmal gewusst, dass der Herzog sie schuf. Das hat ... für Schwierigkeiten gesorgt.«

Mehr als das, wie ich bisher gesehen hatte. Onderaan hatte anscheinend seinen eigenen Bürgerkrieg zu bewältigen, ehe er versuchen konnte, einen in Baseer zu verhindern. »Was ist mit Tali?«

»Wir bleiben vorerst bei unserem Plan. Wir überlegen, wie wir hineinkommen können, und vielleicht kann Onderaan bis dahin Siekte beruhigen. Wenn es uns gelingt, Pynvium und ein paar Heiler zu bekommen, ist das ein Riesenschritt, zu beweisen, dass Onderaan den Herzog tatsächlich aufhalten kann.«

»Und wenn Siekte zuerst zuschlägt?«, fragte Danello.

Jeatar schaute grimmig drein. »Dann bekommt Nya jede Menge Möglichkeiten, die Schmerzen loszuwerden.«

 

Ich fuhr mit dem Kamm durch mein Haar. Mein Magen verkrampfte sich aus mehr Gründen als nur wegen der Schmerzen, die ich in mir trug. Über Nacht waren sie schlimmer geworden, und heute Morgen hatte ich das Gefühl, als hätte ich verdorbene Speisen gegessen. »Ich hasse das. Ehrlich.«

»Wir mussten es tun«, sagte Aylin. »Vyand weiß, wie du aussiehst. Du brauchtest eine neue Verkleidung.«

»Ich habe nicht von meinen Haaren geredet.« Obgleich ich auch das hasste. Aylin hatte die letzte Farbe benutzt, um mein Haar zu schwärzen. Ich gab mir Mühe, nicht zu registrieren, dass es ebenso schwarz war wie das Onderaans.

Aylin winkte meine Sorgen beiseite. »Einen Tag lang kann ich ein bisschen Schmerzen aushalten.«

»Und was ist, wenn mir etwas zustößt? Du hast keine Möglichkeit, sie loszuwerden.«

»Ich werde es überleben«, meinte sie, obgleich sie wusste, dass das nicht möglich war, falls dieser Fall eintrat.

»Was ist, wenn Siekte uns tatsächlich nicht von hier fortgehen lässt?«, fragte Danello.

»Hoffentlich erfüllt Nyas neue Tarnung ihren Zweck.« Aylin flocht ihr langes Haar. »Gib mir die Schnur.«

Ich nahm die Lederschnur und reichte sie ihr. »Bei den Kopfjägern wusste ich wenigstens, dass ich eine Gefangene war. Ich bin nicht sicher, wie das jetzt hier ist.«

»Jeatar wird sich etwas ausdenken oder uns an einen sichereren Ort bringen«, sagte Danello. »Er muss irgendwo in Baseer ein Heim haben. Oder glaubt ihr, dass er die ganze Zeit hier wohnt?«

»Keine Ahnung. Ich denke, er reist sehr viel, also wäre das schon möglich.«

»Ein Messer, bitte«, sagte Aylin.

Ich gab es ihr. »Ich glaube nicht, dass er uns hier lassen würde, wenn wir seiner Meinung nach in Gefahr wären. Und Siekte kann uns nicht zwingen - Aylin, was machst du?«

Sie hatte das Messer an ihrer Schädelbasis angesetzt, direkt unter dem Anfang des Zopfs. Dann presste sie die Augen zu und säbelte ihn ab.

»Aylin!«, stieß ich atemlos hervor.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du eine neue Tarnung brauchst.« Sie brachte den Zopf zu mir. »Halt still, bis ich ihn in deine Haare gebunden habe. Es ist lang genug, um ihn zu halten.«

»Aber du liebst deine langen Haare.«

»Es wächst wieder.« Sie klang nicht so gleichgültig, wie sie gehofft hatte. Ich hörte es deutlich und sah den Tränenschleier in ihren Augen, als sie den Zopf in ihren Händen betrachtete. Ein kleines Opfer, verglichen mit allem anderen, was sie für mich tat.

»Das musstest du nicht tun.« Ich meinte viel mehr als ihren Zopf.

»Für deine Sicherheit würde ich mir den ganzen Kopf kahl scheren.«

Ich umarmte sie und bemühte mich, nicht zu weinen. »Danke.«

»Finde Tali und Danellos Brüder, dann sind wir quitt.«

»Abgemacht.«

Ich saß still, während sie den Zopf in meine Haare flocht. Ein kräftiger Ruck würde ihn abreißen, aber ansonsten würde er halten. Außerdem färbte sie mir die Brauen dunkel und umrandete die Augen mit schwarzem Puder.

»Woher hast du das alles?«

»Von Neeme. Sie ist die einzige hier, die wirklich nett ist.« Aylin hielt einen Spiegel hoch. »Was meinst du?«

»Wahnsinn!« Danello pfiff. »Sieht überhaupt nicht wie du aus.«

Ich sah älter aus, dunkler - Baseeri. »Ist das gut oder schlecht?«

»Gut für die Tarnung, aber mir gefällt besser, wie du richtig aussiehst.«

Aylin nahm die Kissen von meinem Bett und bockte sie auf ihrem auf. »In Ordnung. So, und jetzt füll mich ab, ehe du dich für heute wegschleichst.« Sie schob den Ärmel hoch und streckte den bloßen Arm aus.

Ich nahm ihre Hand und legte meine andere Hand auf ihren Arm. »Bist du ...«

»Mach schon. Mal sehen, worüber Danello ständig jammert.«

Ich drückte, anfangs langsam, damit sie sich daran gewöhnte, ehe ich mehr hinzufügte. Sie schrie kurz auf, biss dann die Zähne zusammen, hielt aber den Arm still. Ich drückte, bis alles in ihr war.

»Wie fühlst du dich?«, fragte ich.

»Vielleicht war Danellos Jammern berechtigt.«

»Ich kann es zurücknehmen.«

»Nein!« Sie hielt eine Hand hoch, zuckte zusammen und legte sich hin. »Du musst einen Weg in die Gießerei finden, und dazu brauchst du einen klaren Kopf und einen starken Rücken. Danello und Jeatar helfen dir sowieso mehr als ich. Ich werde sehen, was ich hier ausrichten kann. Vielleicht weiß Neeme etwas. Die anderen ignorieren sie die meiste Zeit, aber ich habe das Gefühl, dass sie das nicht besonders stört.«

»Wir sind bald wieder da«, tröstete ich sie. »Und wenn es zu viel wird, kann ich es zurücknehmen.«

»Geht schon! Ihr verschwendet nur Zeit, die ihr besser fürs Anschleichen gebrauchen könntet.«

Wir verließen das Zimmer und schlossen die Tür.

»Ich habe Halima gebeten, nach ihr zu sehen«, sagte Danello.

»Danke.«

»So, wie lautet nun der Plan?«, fragte er mit traurigem Lächeln.

Ich lächelte zurück. Aylin hätte diese Frage stellen müssen. »Ich will sehen, ob wir auf den Aquädukt hinaufklettern können. Das ist unser bester Weg an den Wachen vorbei, und wenn wir einen Baum hinuntersteigen oder uns auf ein Dach hinablassen können, kommen wir vielleicht hinein, ohne einen Fuß auf den Boden zu setzen.«

»Dann gehört das Pynvium so gut wie sicher uns.«

Und mit Glück unsere Familien auch.