Vierundfünfzig

Dreißig Kilometer südlich von Key West

Fehlschlag, dachte Admiral Goettleman. Die kürzlich erfolgten fünf Versuche, die entscheidenden Kommunikationszentren des Schiffes einzunehmen, hatten nichts als schwere Verluste erbracht. Die Untoten rissen die Mannschaft auseinander. Die Krankheit hatte sich wie ein Steppenbrand ausgebreitet und war nur ganz knapp mit Kopfschüssen bezwungen worden. Viele Kreaturen wurden einfach über Bord geworfen und fielen zwanzig Meter tief in den Golf von Mexiko.

Nun wurde ein sehr drastischer letzter Rettungsversuch gefahren, um das Schiff zurückzuerobern.

»Geschwindigkeit auf dreißig Knoten erhöhen und Marinebasis Key West ansteuern!«, befahl der Admiral dem Deckoffizier. Von der Brücke aus konnte er Key West vor dem Bug seines Schiffes aus dem Wasser ragen sehen. Er schaltete das 5MC-System ein und räusperte sich. »Hier Flugdeck, der Admiral spricht. Kampfeinheiten, Bodenluken und Backskisten bemannen. Die Geschwindigkeit wird auf fünfunddreißig Knoten erhöht. Wir sind momentan dreißig Kilometer vom Aufschlagort entfernt. Nähern uns dem Flugplatz der Marinebasis Key West. Alle Mann an und unter Deck bereiten sich auf mein Zeichen hin auf den Aufschlag vor. Ende der Durchsage.«

Neunzigtausend Tonnen Stahl rasten mit einer Geschwindigkeit von dreißig Knoten auf Key West zu. Die Kampfgruppen sollten sich abstützen, bis das Schiff auf Grund lief und die kostbaren Sekunden danach nutzen, in die Funkstation vorzudringen und die Untoten auf dem Weg dorthin zu eliminieren. Die, so hoffte man, würden dann aufs Maul gefallen und desorientiert sein.

John und Ramirez gehörten zur Kampfgruppe Backbord vorn.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte Ramirez zu John. »Es riecht schon nach Piña Colada.«

»Sehr witzig«, sagte John. »Ich rieche leider nichts. Pass jetzt auf. Dreißig Knoten klingt nach nicht viel, aber wenn man von dreißig auf null geht, fliegt dein Arsch über Bord. Ich drücke mich an die Wand. Sich am Geländer festhalten wird nicht reichen.«

»Deswegen habe ich dich doch mitgenommen, Alter. Damit ich ein Hirn dabeihabe. Sieht so aus, als würde ich nie, wie du, ’ne Chance kriegen, ’n College zu besuchen. Purdue ist wahrscheinlich geschlossen, was?«

»Ja, Klugscheißer. Purdue ist wahrscheinlich für die nächsten hundert Jahre geschlossen. Wenn’s auch nichts mehr bringt, eines kann ich dir sagen: Nichts von dem, was ich auf diesem College gelernt habe, hat mich darauf vorbereitet, dass ich einst an Bord eines Flugzeugträgers stehe, der aufs Festland zurast, und dass ich Gänge voller Dinger angreife, die mich fressen wollen. Ich glaube, deine Ausbildungsjahre bei den Marines könnten in der schönen neuen Welt eine Qualifikation sein, die man in dieser ruppigen neuen Wirtschaftsform gut vermarkten kann.«

»Glaubst du, dass Kil in diesem Moment auch so viel Spaß hat?«

»Gott, ich hoffe nicht.«

Die beiden Männer saßen mit dem Rücken an der Wand und schauten zum Heck hin, fort vom Bug des Schiffes. Das Meer klatschte gegen den stählernen Rumpf, und die USS George Washington fuhr mit Maximalgeschwindigkeit. John konnte die Untoten am Ende der Treppe, über der sie saßen, gegen die Luke schlagen hören.

Sie wollten raus. Sie wollten ihm an den Hals.

Die 5MC-Rundrufanlage auf dem Flugdeck rauschte.

»Abstützen, Männer! Aufschlag in zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei …«

Das Schiff verlangsamte, als hätte jemand eine Art Zauberbremse betätigt oder die Stellschrauben umgekehrt. Momente später schrammte der Flugzeugträger auf die Sandbank vor Florida. Stahl zerriss und warf Menschen und Gegenstände in einem chaotischen Wirbelsturm aus Fleisch und Metall umher. Schwere Ausrüstungsgegenstände für Landaktionen, Gabelstapler und Düsenflugzeuge zerrissen ihre Verkettung, rutschten über das Deck und krachten in hochgeklappte Düsendeflektoren und Laufstege. Viele Menschen wurden über die Seite ins klare blaue Wasser geworfen.

Ramirez’ schreiende Stimme riss John in die Wirklichkeit zurück. »Los, Alter, wir müssen! Beweg dich!«

John stolperte hoch und schaute nach hinten. Er schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen, um deutlicher sehen zu können. Tara winkte in der Ferne genau so, wie sie es vor dem Aufprall ausgemacht hatten. Sein Clan war gesund, außer Will, der noch immer vermisst wurde.

Ramirez legte den Lukenhebel um und riss schnell die Tür auf. Keine Sekunde später hatte er bereits den Schädel einer auf dem nun dunklen Deck liegenden Kreatur zerschmettert.

»Waffenlicht einschalten, John. Es könnte finster werden.«

Wieder wurde ein Schuss abgegeben, diesmal hinter John, wo eine Kreatur nach dem kürzlich erfolgten Aufschlag wankend versuchte, wieder auf die Beine zu gelangen.

Sie hatten jetzt nicht mehr viel Zeit. Die Kreaturen erholten sich von dem Aufprall.

»Die Funkbude ist nur ein paar Räume weiter«, sagte John und feuerte weiter auf jene Gestalten, die noch am Boden lagen.

Er bewegte sich konzentriert voran, schoss mit System und bemühte sich, den Querschlägern zu entgehen, die Ramirez’ Gewehr erzeugte. Er hob die Waffe, um eine Kreatur auszuschalten, die vor ihm aus einem Bereitschaftszimmer sprang – und zögerte.

Es war William.

»Oh, Gott, Will. Tut mir leid.« John stellte sich für den Bruchteil einer Sekunde vor, in ihm könnte noch ein winziger Intelligenzrest vorhanden sein. Wills gespitzte Lippen und sein heulender Schrei nach Fleisch verfestigte jedoch die Unmöglichkeit dessen. John drückte ab und verspritzte Wills Hirn zusammen mit seinen Erinnerungen und seiner Liebe zu Janet und der kleinen Laura über das ganze Schott.

Bevor Wills erschlaffter Leichnam aufs stählerne Deck klatschte, fiel Johns Blick auf einen blutigen Papierfetzen, der aus seiner Hemdtasche hervorlugte. Ohne nachzudenken, riss John ihn heraus und stopfte ihn in seine Gesäßtasche. Er hatte nicht vor, das, was auf dem Zettel stand, zu lesen. Es war nicht für ihn bestimmt.

Vor der Funkbude kämpfte John einen Tränenschwall nieder und gab Zahlen in den Nummernblock ein. Der magnetische Schließmechanismus klickte. Die beiden Männer traten die Tür weit auf und feuerten in einen Raum voller Untoter. Fleischklumpen flogen, Kreaturen klatschten auf den eisernen Boden. Beide Männer dachten an Rückzug, doch sie wussten, dass das Leben aller davon abhing, dass sie diesen Raum zurückeroberten. Schuss für Schuss mähten sie die Untoten nieder. John betrat den nächsten Abschnitt des Funkraums, den er ohne großen Widerstand sichern konnte. Die SATcom-Transceiver des Schiffes waren bei körperlichen Auseinandersetzungen und vorherigen Schießereien beschädigt worden.

»Wir müssen hier eine Menge Reparaturen vornehmen, Ramirez. Wir säubern jetzt das Deck und machen dann Meldung nach oben.«

»Verstanden. Bin ganz deiner Meinung.«

Die Männer merkten bald, dass sie die meisten Kreaturen schon beim Eintreten getötet hatten. Nach der Meldung des ersten Ausbruchs hatte die Mannschaft den größten Teil des Schiffes erfolgreich abschotten können. Reinigungsteams mussten nun nach und nach sämtliche Räumlichkeiten säubern.

Obwohl auf dieser Ebene des Schiffes keine Untoten mehr waren und sie relativ sicher war, konnten John und Ramirez sich sehr glücklich schätzen, die Sonne Floridas wieder auf der Haut zu spüren. Sie hörten das Klopfen der Untotenfäuste hinter schweren Türen und nahen Schotten. John stieg zuerst die Leiter hinauf und eilte dann schnellstens zur Hotel-23-Lagersektion auf dem Flugdeck.

Als er zu Janet kam, brannte Williams Zettel in seiner Gesäßtasche.

»Jan, wo sind die anderen?«, fragte er.

»Hast du es nicht gehört? Es wurde Befehl erteilt, das Schiff zu verlassen. Sie sind an Land unterwegs. Die Letzten von der Mannschaft sind schon im Aufzug. Ich bin nur hiergeblieben, um zu sehen, ob es dir gut geht. Mach dir keine Sorgen. Annabelle ist bei Tara und Laura.«

Bei der Vorstellung, dass Janet seinetwegen an Bord geblieben war, stieg ihm angesichts dessen, was er ihr nun mitteilen musste, das Wasser in die Augen. Die Nachricht würde sie umwerfen. Doch sie wusste es bereits. Irgendwie hatte sie ihn aus großer Entfernung durchschaut.

»Tut mir leid, Jan. Ich hatte keine Wahl.«

Jan brach auf dem rauen, rutschsicheren Deck zusammen, schnitt sich das Knie auf, heulte sich die Augen aus und verwünschte Gott und alles, was gut war.

»Tut mir leid, Janet. Tut mir wirklich leid«, sagte John fortwährend, als er sie an sich drückte und alles tat, von dem er glaubte, sie würde sich danach irgendwann besser fühlen.

»Ich würde mit ihm tauschen, wenn ich könnte. Ich weiß, wie es ist, wenn man jemanden verliert, den man liebt«, strömte es aus ihm heraus. »Ich würde sofort mit Will tauschen.« Und er meinte jede Silbe ernst.

Einige Minuten vergingen, bis Janet wieder in der Lage war, sich so weit zusammenzureißen, dass sie allein stehen konnte. John versorgte ihr Knie mit dem Erste-Hilfe-Päckchen aus seinem Tornister, dann nahmen sie den letzten Aufzug hinunter, um das Schiff zu verlassen.

Als der Aufzug quietschend nach unten fuhr, sagte John: »Hör mal, ich weiß, dass jetzt wohl kaum die richtige Zeit dafür ist, aber ich habe etwas, das mir nicht gehört. Ich hab’s mir nicht angeschaut, aber es war in seiner Tasche.« Und er händigte Janet den Zettel aus.

Sie wollte ihn zwar nicht sehen, aber dann zwang sie sich doch dazu, den zerknüllten Papierfetzen zu entfalten.

Note.eps

Die Evakuierung der USS George Washington war vollendet.