Fünfzehn
Der Dezember war nicht mehr fern. Vor fast einem Jahr waren die Untoten auf dem amerikanischen Kontinent aufgetaucht. In den Nächten war die Luft nun kalt, und die Geräusche, die Doc und Billy hörten, klangen ganz anders als die in den Bergen Afghanistans.
Ein Taliban stöhnte nicht, um seine Position zu verkünden. Er saß auch nicht träge oder somnambul herum, solange man nicht abends an einem offenen Wagenfenster vorbeikam und er einen packte. Obwohl viele Menschen in Afghanistan dem russischen 5.45-Kaliber-Gewehr den Namen Giftpille gegeben hatten, hatte es nicht das Geringste mit dem Gift eines Untotenbisses gemein. Nichts konnte einen Infizierten retten. Die größten medizinischen Geister des Planeten waren ratlos. Selbst Spitzenchirurgen, die bereit waren, einen infizierten Arm oder ein infiziertes Bein zu amputieren, konnten das Fieber, den darauf folgenden Tod und die dem Tod folgende Wiederbelebung nicht verhindern.
Tote versteckten sich außerdem nicht in Gräbern und verscharrten auch keine Bomben auf Straßen. Doc dachte einen kurzen Augenblick darüber nach. Die Untoten sind wenigstens fair. Sie täuschten einen nicht. Wie bei der Fabel mit dem Skorpion und dem Frosch war alles nur eine Folge ihrer veränderten Natur. Sie waren Mörder. Sie vernichteten Seelen.
Doc dachte an die Zeit zurück, als Billy und er den Beschluss gefasst hatten, sich aus Afghanistan abzusetzen. Ihr Marsch durch die südlichen Provinzen des Landes, durch das riesige Pakistan und schließlich ans Meer war mit unzähligen Gefahren gepflastert gewesen. Es hätte noch viel schlimmer kommen können, aber die im Vergleich mit der Ersten Welt geringe Bevölkerungsdichte dieser Region hatte ihnen einen kleinen Vorteil verschafft. Sie hatten sich nicht hunderttausend untoten Kreaturen gegenüber gesehen – jedenfalls noch nicht.
Dies hatte sie jedoch nicht davon abgehalten, Untote in solchen Massen auszuschalten, dass es manchem Einsatz vom Anfang des Unternehmens Enduring Freedom gleichkam. Auf dem ganzen Weg nach Süden hatten die beiden untote Taliban umgelegt, bis ihnen auf halber Strecke die M-4-Munition ausgegangen war. Sie hatten drei AK-47-Gewehre eingesackt, die Flucht fortgesetzt und sich wochenlang durch dichter werdende Unmengen von Untoten geschlagen.
Das Gelände und die manchmal dünne Luft schenkten ihnen kein Mitleid. Während sie sich fortbewegten, wagten sie nie, länger als ein paar Stunden zu rasten. Je länger sie innehielten, umso wahrscheinlicher war es, dass untote Verfolger hinter Findlingen oder Büschen hervorstolperten. Seit der Grundausbildung waren sie nicht mehr so erschöpft gewesen. Sie hatten sich zu stundenlangen pausenlosen Märschen durch die kalte Mondlandschaft gezwungen.
Einmal, erinnerte sich Doc, war er beim Gehen eingeschlafen. Er war im felsigen Gelände voll aufs Maul gefallen und jäh in die Schlacht zurückgekehrt. Billy und er hatten ständig größer werdende Horden ausgeschaltet und nur innegehalten, um Tage oder Wochen zuvor gestorbenen Untoten die Magazine aus ihren noch umgehängten Gewehren zu ziehen. Die Menge der ihren Weg kreuzenden Untoten betrug manchmal mehrere Dutzend, aber auch schon mal hundert oder mehr.
Je näher sie der Küste kamen, umso dichter wurden die Horden. Die Seuche war jung, sodass die Untoten sich noch nicht von der Küste entfernt hatten. Der größte Teil der Weltbevölkerung lebte nun mal in Küstennähe, und diese Regionen beherrschten nun die Toten.
Von Gerüchten beflügelt, die Flotte ankere vielleicht noch vor der pakistanischen Küste im Arabischen Meer, zog es Billy und Doc nach Süden. Erst einen Tag bevor sie die Küste erreichten, empfingen ihre Handfunkgeräte jede Menge Tratsch. Schließlich nahmen sie Verbindung mit der USNS Pecos auf – ihrer Fahrkarte nach Hause.
Doc passte ihren Kurs der übermittelten Position des Schiffes an, und sie legten die letzten Kilometer bis ans Meer zurück, was sie einiges an Kraft kostete. Als ihre Stiefel voller Meerwasser waren, ging die Sonne unter, und für ihre heiß geschossenen Knarren existierte keine Munition mehr. Sie flohen schwimmend vor den sich sammelnden Kreaturenmassen, die die Brandung mit untoten Schritten aufwühlten.
Die Pecos war das letzte vor Anker liegende Schiff, das amerikanische Evakuierte mitnahm. Billy und Doc erkannten bald, dass der Kommandant sich über die mehr Sicherheit bietenden Sondereinheitler freute. Nachdem Doc und Billy an Bord gegangen waren, etwas gegessen und geduscht hatten, erhielten sie einen Bericht über die gegenwärtige Lage.
Doc erfuhr, dass auf dem offenen Meer Piraten unterwegs waren. Sie profitierten von einem Mangel an Sicherheit auf See und griffen gesichtete Schiffe rücksichtslos an. Chinesen, Amerikaner, Briten – alle waren die Beute selbst ernannter somalischer Machthaber und anderen seefahrenden Abschaums. Die Piraten gingen bei ihren Angriffen kaltblütig vor und setzten gestohlene Militärgerätschaften ein, um Schiffe zu versenken, die ihre Forderungen nicht sofort erfüllten.
Als sie den Staaten entgegen nach Süden dampften, bestätigten sich beim tieferen Vorstoß in die Arabische See die schlimmsten Meldungen. Das GPS-Navigationssystem versagte. Dies und der Mangel an Seekarten zwangen den Kommandanten der Pecos, den Kurs nach Westen zu wechseln und mehr oder weniger ständig an der afrikanischen Küste entlangzufahren. Piraten waren schon vor dem Auftreten der Untoten ein Problem in der Region am Horn von Afrika gewesen, doch nun waren sie eine Macht auf Augenhöhe.
Lange bevor die Pecos etwas von Afrika sah, wurde sie angegriffen.
Das beweglichere Piratenschiff kam durch das wechselhafte blaue Gewässer schnell näher. Als es in Schussweite war, feuerten von Menschen bediente Maschinengewehre auf die Pecos und zielten knapp über der Wasserlinie aufs Heck. Zum Glück für die Pecos und ihre Mannschaft waren die Piraten keine ausgebildeten Schützen.
Doc, Billy und der Geschützoffizier des Schiffes machten das Piratenschiff mit einer Salve sauber gezielter Schüsse platt. Immer wenn über einem Laufsteg ein Kopf auftauchte, um ein MG zu bemannen oder durch ein Bullauge zu schauen, sorgte Billy dafür, dass seine Lichter ausgingen. Das Schiff ergab sich bald der überlegenen Feuerkraft der Pecos und wurde geentert.
Doc erinnerte sich, wie Billy und er vor vielen Monaten an Bord des Schiffes gegangen waren. Es war eines der Dinge, die man, wenn überhaupt, nur schwer vergessen konnte.
»Sieh dir das an, Doc.« Billy deutete auf einen fast zwei Meter hohen Schuhstapel, der am Bug des Schiffes lag.
»Schauen wir uns doch mal im Laderaum um«, sagte Doc in der Hoffnung, dass sein Instinkt ihn trog.
»Chief, machen Sie mal die Luke auf. Billy und ich sind gern bereit, alles einzusprühen, was da unten rumkriecht.«
»Aye, Sir.«
Der Geschützoffizier öffnete mit einem Ruck die Luke und enthüllte der Sonne Afrikas eine abscheuliche, zum Himmel stinkende Grube. Es roch so übel, dass er die Luke würgend wieder zufallen ließ. Bevor er den zweiten Versuch machte, kippte er eine Feldflasche über seinem Gesicht aus und bedeckte seinen Mund mit seinem Halstuch.
Doc trat an den Rand der Luke.
Der Laderaum war voll mit halb nackten barfüßigen Untoten. Sie streckten die Hände dem Licht entgegen, als bäten sie um Hilfe. Doc spürte die aus dem Laderaum hochsteigende Hitze der siedenden und aufgedunsenen Leichen. Die Männer untersuchten den Rollenraum und den über der Luke angebrachten Flaschenzug; er stank ebenfalls und war von in der Sonne bratenden menschlichen Überresten bedeckt. Sein Zweck war klar.
Nachdem die Piraten ihre Opfer ausgeraubt, entkleidet, ihnen die Schuhe weggenommen und die Goldzähne gezogen hatten, hatten sie sie in die Grube hinabgelassen. Die Briganten hatten den Laderaum gewiss auch dazu verwendet, um Gefangene einzuschüchtern, damit sie verrieten, wo ihre Wertsachen versteckt waren. Doc, Billy und der Geschützoffizier verurteilten die überlebenden Piraten und exekutierten sie. Bevor sie die unter Deck befindlichen Ventilklappen öffneten und das Piratenschiff versenkten, wurde für die Toten an Bord ein Gottesdienst abgehalten.
Seitdem waren Monate vergangen, doch die Erinnerung an den grauenhaften finsteren Laderaum war nicht verblasst.
Als Doc und Billy in das texanische Ödland hinausrollten, war kein Mond zu sehen. Solange sie außerhalb der Umzäunung waren, saßen Disco und Hawse aus Sicherheitsgründen am Funkgerät. Während der Einsatzbesprechung, bevor sie an Bord der C-130 gegangen waren, hatte man der Kampfgruppe Phoenix auch Kartenmaterial gegeben, das die Position jener abgeworfenen Ausrüstungsgegenstände verzeichnete, die für den ehemaligen Hotel-23-Kommandanten bestimmt gewesen waren.
Auf der Grundlage dessen, was von anderen Abwürfen geborgen worden war, nahm Doc an, dass diese Gerätschaften seinem Team nützlich sein und vielleicht auch das erhellen konnten, was die Berichte der Aufklärung nicht verrieten: die Identität der Organisation, die für die Abwürfe gesorgt und das schreckliche Lärmchaos erzeugt hatte, unter dem die früheren Bewohner von Hotel 23 hatten leiden müssen.
Laut dieser Einsatzbesprechung waren die zuvor geborgenen Gerätschaften ziemlich hoch entwickelt gewesen. In einem Bericht wurden sie als »der gegenwärtigen Technik um zehn Jahre voraus« und »Dinge, die man vielleicht in einer Geheimdienst-Chefetage in Planung hat« klassifiziert.
Die Befehle der Kampfgruppe Phoenix waren unmissverständlich:
Primäres Ziel des Unternehmens: Inbesitznahme von Hotel 23; Überprüfung, ob die Stützpunktsysteme einsatzbereit sind; Überprüfung, ob der dort noch vorhandene nukleare Sprengkopf funktionsfähig ist und Kampfgruppe Sanduhr unterstützen kann.
Entdeckung ist zu vermeiden.
Sekundäres Unternehmensziel: Bergung liegen gebliebener Gerätschaften zum Zweck ihres Einsatzes; Feststellung der Adresse von Remote Six; Bergung von Vorräten zur nachhaltigen Unterstützung der Abschussaktivitäten von Hotel 23.
Für Unklarheiten blieb nicht viel übrig. Das Primärziel war erreicht und Hotel 23 in Besitz genommen worden. Man hatte eine funktionierende Verbindung aufgebaut, alle Gerätschaften liefen, und die nukleare Sprengkraft hatte alle Funktionsprüfungen bestanden.
Obwohl unklar blieb, worin genau das Unternehmensziel der Kampfgruppe Sanduhr bestand, wusste Doc, dass es etwas Großes war und mehr, als man einem popeligen Dienstgrad wie ihm mitteilte. Worin das Ziel der Kampfgruppe Sanduhr auch bestand, er und die Seinen hatten ebenfalls noch eigene Ziele, die es zu erreichen galt. Aufgaben zu vergeben hatte Doc jedenfalls mehr als genug.
Ihr Ziel für den heutigen Abend war ein etwa dreizehneinhalb Kilometer von Hotel 23 entfernter Abwurfsort, und zwar der auf der Landkarte am nächsten markierte. Sie arbeiteten sich nebeneinander nach Osten voran. Keine Vorhut, keine Nachhut. Da ihnen bewusst war, dass ihnen die Leute fehlten, um diesen Ausflug nach Vorschrift zu gestalten, entwickelten sie Vorgehensweisen, um sich der extremen Bedrohung je nach Lage zu stellen.
Ihr Schlafrhythmus und ihre inneren Uhren hatten sich längst an nächtliche Unternehmen angepasst. Die Anpassung des Körpers an die neuen Lebensumstände war nötig, bevor man hinausging. Für nächtliche Aufklärungsmanöver dieser Art musste man absolut hellwach sein. Ihre Nachtsichtgeräte funktionierten optimal, denn sie waren mit neuen Lithiumbatterien bestückt, von denen sie mehrere in Reserve hatten. Weder Doc noch Billy beobachteten am Nachthimmel irgendetwas Ungewöhnliches. Sie suchten ihn von Zeit zu Zeit ab und waren sich ständig bewusst, dass dort oben vielleicht Dinge unterwegs waren, die sie aus der Höhe bespitzelten.
Sie hatten nicht genug Wasser dabei, da sie es nicht für den gesamten siebenundzwanzig Kilometer langen Weg mitschleppen wollten. Die Jodtabletten, die sie mitgenommen hatten, würden alle Bazillen in den Bächen umbringen, an denen sie unterwegs vorbeikamen.
Fünfhundert Meter von Hotel 23 entfernt hatten sie eine erste Begegnung.
Billy tippte auf Docs Schulter und sagte leise: »Drei Nasen gesichtet; im Zaun dreihundert Meter von hier.«
Das Gelände war so geformt, dass die Männer, wenn sie den Kurs nicht ändern wollten, keine andere Wahl hatten, als dicht an den Kreaturen vorbeizugehen. Die andere Option war, ihnen aus dem Weg zu gehen, indem sie den daneben liegenden Pfad durch den Wald nahmen. Darauf waren sie allerdings beide nicht aus, denn sie wussten, dass diese Option viel gefährlicher war als eine Auseinandersetzung mit den drei unbeweglichen Untoten. Ließ man sie jedoch zurück und weiter auf den Zaun einschlagen, erregten sie zu viel Aufmerksamkeit. Ihre einzige Option bestand darin, sie schnellstens auszuschalten.
Die Männer näherten sich den Untoten vorsichtig aus westlicher Richtung, schalteten die Laser ein und nahmen Ziel. Billy Boy erledigte die beiden auf der linken, Doc den auf der rechten Seite. Es gab zwar keinen Grund, bis drei zu zählen und sein Ding bei Null zu machen, aber sie taten es aus Gewohnheit trotzdem.
»Drei, zwei …«, murmelte Doc.
Pitsch, patsch.
Die ersten beiden Schüsse erfolgten simultan. Billy schoss dann noch mal auf die dritte Gestalt. Alles funktionierte wie ein Uhrwerk. Die drei Gestalten lagen in der Stacheldrahtumzäunung gefangen und würden dort liegen bleiben, bis sie zu Staub zerfielen. Eigenartigerweise fraßen Raubtiere im Allgemeinen keine Untoten.
Doc drückte den unteren Draht mit dem Stiefel hinunter und zog den zweiten mit einem Arbeitshandschuh hoch, denn er war nicht darauf aus, sich einen Wundstarrkrampf oder auch nur eine simple Infektion einzuhandeln. Billy schob sich geduckt an den spitzen Drähten vorbei und hielt sie für Doc auseinander. Dann setzten sie ihren Weg fort.
»Wie viele Schritte machst du, Billy?«
»Etwa sechshundert, und du?«
»Yeah, ich auch ungefähr.«
Sie gingen nach Osten, registrierten mögliche Unterschlüpfe und Ausweichrouten für den Fall, dass sich eine Horde an ihre Fersen heftete oder ein lebendiger oder untoter Gegner ihnen folgte. Als Doc an die Einsatzbesprechung dachte, fiel ihm noch etwas ein: Bleibt von Straßen weg. Es ist in Ordnung, sie als Landmarkierung zu nutzen, aber nähert euch ihnen nur bis auf fünfundzwanzig Meter. Straßen sind einfach nicht sicher. Die Toten versammeln sich dort.
Auch die Informationen des ehemaligen Hotel-23-Kommandanten waren sehr nützlich. Einige entsprangen einfach gesundem Menschenverstand, kamen Doc aber sehr gelegen. Die Berichte enthielten wertvolle Informationen, die seinem Team nützlich waren, etwa die detaillierte Schilderung des Hubschrauberabsturzes des Kommandanten und sein anschließender Rückmarsch hierher. Bei der Lektüre hatte Doc zahlreiche interessante Denkmuster in der Einstellung des Mannes und seiner Überlebensmethodik gefunden.
Es war fast Mitternacht. Sie hielten sich an ihre festgelegte Route. Doc wollte nicht das Risiko einer Entdeckung durch die unbekannten Kräfte eingehen, die Hotel 23 angegriffen hatten. Dies bedeutete, dass ihre Funkgeräte ausgeschaltet waren und keine rundstrahlende Hochfrequenzverbindung bestand. Die am Hotel 23 stehende Hochgeschwindigkeitseinheit entzog sich jeder Entdeckung, wenn man Funkdisziplin hielt, doch ihre Motorola-Bursteinheiten waren leicht abhörbar und unterlagen der Richtungsfindung durch einfachste FA-Sammler.
Dies war der Grund, warum Doc so dicht an der geplanten Route blieb. Waren Billy und er nicht im Morgengrauen zurück, würden Disco und Hawse den Bunker zusperren, ihrer Spur zum Einbruch der nächsten Dunkelheit folgen und sie suchen.
Doc war nicht begeistert, dass er nichts über die Natur dieses Ortes und anderer auf der Karte markierter Abwürfe wusste, doch Auftrag war Auftrag.
»Pssst«, machte Billy.
Mittels Handzeichen teilte er Doc mit, hinter einem großen Haufen Trümmer in Deckung zu gehen. Ein Sturm hatte ihn zusammengetragen. Doc kam der Aufforderung ohne zu zögern nach, und Billy folgte ihm, wobei er sich geduckt rückwärts bewegte. Sie hatten sich kaum versteckt, als ein Heulen und Stöhnen hörbar wurde. Es war ein Gebell wie ein nächtlicher Dämonenchor zu Halloween.
»Es sind mindestens hundert«, sagte Billy leise zu Doc.
»Unmöglich, Billy. Ich würde sagen, es sind ungefähr hundertvier.«
Billy boxte Doc spontan fest gegen den Arm, sodass Doc sich, um nicht aufzuschreien, auf die Zunge beißen musste.
»Danke, Arschloch.«
»Kein Problem, Dummfick.«
»Wir sind noch ungefähr einskommafünf von der Abwurfstelle entfernt«, meinte Doc.
Billy erwiderte lächelnd: »Nee, weiter. Ich würde sagen, es sind hundert Meter mehr.«
Sie blieben hinter ihrer Deckung, bis die Untotenhorde vorbei war. Als sie sich weit genug entfernt hatte, kam Doc hervor und überquerte die Straße dort, wo die Biester gerade noch gewesen waren. Der Wind blies ihre leiser werdenden hungrigen Töne vor sich her.
USS Virginia
Der einzige Mensch an Bord, der weiß, dass ich Tagebuch führe, ist Saien. Trotzdem empfinde ich bei der Dokumentation mancher Dinge die Besorgnis, es könnte verloren gehen oder gestohlen werden. Es ist noch nicht lange her, da wurden Saien und ich mit gewissen historischen und gegenwärtigen Tatsachen bekannt gemacht, die, wenn sie stimmen, zumindest für mich alles ändern. Man hat mir erzählt, dass die Vereinigten Staaten im Besitz eines großen Teils eines Raumfahrzeugs sind, das in den 1940er-Jahren zusammen mit den Leichnamen von vier außerirdischen Lebewesen geborgen wurde. Mein erster Gedanke war: Was für ein dämlicher Scheiß. Beim nochmaligen Nachdenken dachte ich: Ganz schön gerissen, die Sache mit den Wetterballontrümmern am Absturzort bei Roswell, um die Aufmerksamkeit von der echten Absturzstelle in Utah abzulenken.
Das Raumschiff wurde angeblich von Wissenschaftlern im Auftrag der Regierung untersucht, bis sie in den 1950er-Jahren technisch nicht mehr weiterwussten. Niemand konnte die Technologie hinter den grundlegenden Schaltschemata, Laser- und nicht einsehbaren sonstigen Eigenschaften erschließen. In dem Wissen, nur einen Bruchteil von dem entschlüsselt zu haben, was die Gerätschaften wirklich konnten, wandte man sich an den militärisch-industriellen Komplex.
Laut dem, was ich heute erfahren habe, war das Fahrzeug mehr als sechzig Jahre im Besitz der Firma Lockheed Martin, die daraufhin riesige technische Fortschritte machte. Sie resultierten in der Entwicklung eines besonders geheimen US-Flugzeugs, das unter der Typenbezeichnung Aurora bekannt ist. Ich weiß noch, dass ich, bevor all dies passierte, in der Presse und den einschlägigen Videotausch-Foren von fliegenden Dreiecken gelesen habe. Es kam zwar nicht oft vor, aber hin und wieder erwischte jemand mit einer Nachtsichtkamera ein lautlos am dunklen Himmel entlang fliegendes Dreieck und stellte es ins Netz.
Obwohl niemand beweisen konnte, dass es eine Aurora war, war die Existenz der Flugmaschine in den Korridoren des Pentagons ein so gut wie offenes Geheimnis. Obwohl Aurora mir heute offenbart wurde, durfte niemand je erfahren und wird nie jemand glauben, dass dieses Lumpenprojekt ein Ergebnis des Nachbaus einer fortgeschrittenen außerirdischen Technik der Firma Lockheed Martin ist.
Die dem Projekt Aurora entstammenden Erkenntnisse haben zur Bildung der Kampfgruppe Sanduhr geführt (der Mission, der Saien und ich nun auch angehören). Vor dem Ausbruch der Seuche im Januar überflog eine Maschine vom Typ Aurora siebenundvierzigmal China und führte heikle Aufklärungsunternehmen durch. Sie hat Tausende hochaufgelöster Fotos von einer Absturzstelle geschossen, die das chinesische Militär erst Wochen vor dem Ausbruch der Seuche und dem ersten kommunistischen Opfer entdeckt hatte.
In den ersten Tagen der von unseren Geheimdiensten vorgenommenen Aufklärung über der Absturzstelle hatten die hypersonischen Triebwerke und die extreme Flughöhe die Aurora davor bewahrt, von den noch einsatzfähigen chinesischen SA-20-Wasserspeier-Land-Luft-Raketenbataillonen abgeschossen zu werden.
Die HUMINT-Meldungen aus der VR China, die Aurora-Aufnahmen und Funkaufklärung hatten unseren Geheimdiensten ein sehr gutes Bild der Lage am Boden rund um die Absturzstelle am Mingyong-Gletscher übermittelt.
Die Chinesen hatten ihren eigenen »Roswell«-Absturzort entdeckt und waren im Dezember letzten Jahres noch mit Ausgrabungen beschäftigt. Die Information, in welcher Beziehung die Anomalie (wie nun alle die Seuche nennen) zum Absturzort am Mingyong steht, ist unvollständig oder wird uns vorenthalten. Commander Monday behauptet, wir seien auf dem Weg nach China, um den Ursprung der Anomalie zu studieren und zu ermitteln, was wir tun können, um sie aufzuhalten. Ich wäre ein Lügner, würde ich sagen, dass ich ihm vertraue. Ich glaube nicht mal die Hälfte von dem, was mir heute mitgeteilt wurde.
Regierungen und ihre gewählten Vertreter mussten, wenn man sie bei frechen Lügen ertappte, schon immer mit allerlei diplomatischem Gehampel aufwarten. Der Golf von Tonkin, das Unternehmen Northwoods, Watergate, Massenvernichtungswaffen im Irak und andere offensichtliche Verfassungsbrüche, die dann zum Patriot Act führten, sind einige Beispiele, an die ich mich erinnere. Leider kann man nicht mehr mal eben mehrere Hundert oder Tausend Beispiele via Google herankarren. Aber ob man’s glaubt oder nicht: Nachdem uns die Scheiße um die Ohren flog, sind die Lügen die gleichen geblieben.
»Bleiben Sie daheim, die Lage ist unter Kontrolle.«
Die gleiche Geschichte, eine andere Lüge.
Falls sich dieses uralte chinesische Geheimnis als wahr erweist (eine weit hergeholte Vermutung), kann ich es problemlos der langen Liste der Komplottfakten hinzufügen.
Ein zynischer Marineoffizier