Zwanzig

Arktischer Norden

Crusow, Mark und die drei restlichen Überlebenden der Außenstation trafen sich im Konferenzraum gleich neben dem Kontrollzentrum. Bret und Larry, die Militärberater der Station, und He-Wei Chin, der Wissenschaftler, standen zusammen und trugen noch immer die schweren eisbedeckten Kaltwetterklamotten. He-Wei sprach nur gebrochenes Englisch und war für den Rest der Besatzung manchmal eine Quelle politisch inkorrekter Heiterkeit. Bevor der Chinese in die Arktis geschickt worden war, hatte er einen Antrag auf amerikanische Staatsbürgerschaft gestellt. Er hatte sich freiwillig für den Dienst in der Außenstation Vier gemeldet, um das Einbürgerungsverfahren zu beschleunigen. Es beschleunigte die Einbürgerung, wenn man an den arktischen Forschungsprogrammen der Vereinigten Staaten teilnahm. Alle nannten den Mann Kung Fu oder Kung, da er zudem noch eine große Ähnlichkeit mit dem Filmschauspieler Bruce Lee aufwies.

Obwohl Crusow, Mark und Kung die letzten Monate mit Larry und Bret an einem Ort verbracht hatten, der kaum größer war als eine moderne Raumstation, wussten sie nicht viel von ihnen – außer dass sie Militärs und schon für das Unternehmen tätig gewesen waren, bevor die Kacke zu dampfen angefangen hatte.

Viele amerikanische Arbeiter hatten schon vor der Zeit der Auferstehung der Toten vermutet, dass es auf der Welt Hunderte geheimer Stützpunkte gab, die so taten, als gingen sie irgendwelchen Aufgaben nach, um ihre wahren Ziele zu verschleiern. Außenstation Vier hatte vor dem Untergang der Menschheit offiziell Probebohrungen getätigt. Aber das galt auch für jede andere Außenstation auf dem Eis – Stützpunkte im Besitz vieler Dutzend anderer Länder.

Larry und Bret hatten zwar nie ein Wort über ihren militärischen Status verloren, doch ihre Frisur und ihr Auftreten hatten sie schon bei der Ankunft verraten. Wie alle Neulinge vor ihnen waren auch sie außerhalb des Überwinterungsmodus in einer umgebauten Maschine des Typs C-17 angekommen. Man sah ständig neue Gesichter, doch die Männer hatten immer den gleichen Haarschnitt und das gleiche Auftreten.

Nun war Larry sehr krank, und sein Zustand hatte sich in den letzten Wochen verschlechtert. Mark nahm an, dass Larry sich eine üble Lungenentzündung zugezogen hatte. Man hatte ihm bereits die Hälfte der in der Station vorhandenen Antibiotika gegeben, doch von einer sichtbaren Wirkung konnte keine Rede sein. Larry konnte sich die meiste Zeit über kaum auf den Beinen halten. Bret konnte man oft dabei beobachten, dass er Larry zu den verschiedensten Abteilungen der Außenstation hin und her half. Allerdings war Larry umsichtig genug, eine Atemmaske zu tragen.

Sie konnten es nicht riskieren, dass er jemanden ansteckte. Besonders Crusow nicht. Wenn Crusow ums Leben kam oder arbeitsunfähig wurde, würden wahrscheinlich alle innerhalb von achtzehn Stunden erfrieren. Er war derjenige, der die Motoren nach Plan laufen ließ und dem es auch irgendwie gelang, rudimentären Biotreibstoff anzusetzen, indem er die noch vorhandenen schrumpfenden Chemikalien und überzähligen Nahrungsfette verwendete. Definitiv gehörte er nicht zur Gruppe der Entbehrlichen.

»Okay, danke, dass ihr gekommen seid«, begrüßte Crusow das Grüppchen. »Ich mache es kurz: Wir haben Verbindung mit der Außenwelt.«

»Mit wem?«, fragte Bret aufgeregt.

»Mit der USS George Washington

»Wir sind gerettet, verdammt!«, rief Larry und hustete sofort hinter seiner Maske.

Crusow runzelte die Stirn. »Wohl kaum«, sagte er. »Das Schiff befindet sich im Golf von Mexiko und würde es, selbst wenn es wollte, nie bis hierher schaffen. Wir sind auf der pazifischen Seite des Polarkreises. Selbst wenn Frühling wäre und sie einen Eisbrecher hätten, würden sie zu lange dafür brauchen. Bis die hier sind, haben wir längst keinen Proviant mehr – und sind steif gefroren. Wir müssen über sämtliche Möglichkeiten nachdenken, die uns noch bleiben.«

Larry hustete und röchelte hinter seiner Atemmaske. Nachdem er ausgiebig geflucht und sich eine neue Maske umgebunden hatte, fragte er: »Was sollen das für Möglichkeiten sein? Wir könnten ebenso auf dem Mars hocken. Wenn uns niemand hier rausholt, sind wir in ein bis zwei Monaten Eisblöcke.«

»Yeah, das kann schon sein«, erwiderte Crusow. »Aber das bedeutet nicht, dass ich aufgebe.« Er war etwas lauter als beabsichtigt, riss sich zusammen und fuhr fort: »Es stimmt, dass wir wenig Brennstoff haben, aber ich habe einen Plan, der funktionieren könnte.«

»Wir sind ganz Ohr«, sagte Bret.

»Ich habe die Schneekatze so modifiziert, dass sie mit Biodiesel läuft. Das bedeutet, dass wir mehr von dem noch vorhandenen normalen Brennstoff dazu verwenden können, den Laden zumindest so zu wärmen, dass wir nicht krepieren. So um die zehn Grad Celsius. Wir müssen nun in unserem gefütterten Zeug schlafen, um Brennstoff zu sparen und die Nebengebäude dieses Stützpunktes abzureißen. Wir nehmen zu viel Platz ein, und das kostet uns eine Menge Öl. Larry, du und Bret müsst in den sauren Apfel beißen. Ihr müsst in den Mannschaftsflügel umziehen und euren Stationsbereich versiegeln.«

»Warte, verdammt noch mal!«, rief Bret. »Wieso sollen wir hierherziehen? Warum zieht ihr nicht bei uns ein?«

»Hör zu«, erwiderte Crusow. »Entweder zieht ihr bei uns ein, oder ihr erfriert! Ich steuere Wärme, Finsternis und Licht, und ich schalte in achtundvierzig Stunden bei euch alles ab. Es ist nichts Persönliches, aber ich muss in der Nähe der technischen Gerätschaften sein. Deswegen ziehe ich nicht zu dir und Freund Eiserne Lunge in den militärischen Flügel um.«

Weder Larry noch Bret zeigten eine Reaktion. Sie kannten ihre Karten. Crusow sah, dass sie sich anschauten. Die beiden waren Militärs und berechneten jetzt wahrscheinlich, wie es ihnen gelingen konnte, die Lage zu ihren Gunsten zu verändern. Crusow traute ihnen nicht, und daran würde sich vermutlich auch in nächster Zukunft nichts ändern.

Nach einer Weile hustete Larry und fragte: »Wir haben weniger Biodiesel als regulären Brennstoff. Wie willst du genügend aufbereiten, damit die Schneekatze richtig läuft?«

»Das ist der Teil, der leicht bizarr und vielleicht auch gefährlich ist. Bis jetzt haben wir Biodiesel aus altem Speiseöl hergestellt. Es wird aber knapp, weil ich einen der Generatoren damit angetrieben habe, um das wirklich gute Zeug zu sparen. Ich glaube, dass ich wahrscheinlich auf eine tierische Fettquelle gestoßen bin, die uns genug Brennstoff gibt, um mit der Schneekatze auf dünnem Eis hundertfünfzig Kilometer weit zu fahren, und vielleicht, wenn sich irgendwo innerhalb der Reichweite eines tragbaren Funkgeräts jemand …«

»Wenn du damit meinst, dass du die Schlittenhunde töten willst«, fiel Bret ihm ins Wort, »bin ich …«

Crusow ließ ihn nicht ausreden. »Nein, wir töten die Hunde nicht. Wir brauchen sie vielleicht noch. Mach dir keine Sorgen mehr über die Verpflegung, Bret. Wir haben genug am Lager, um uns zu versorgen, bis wir entweder alle hier verschwunden oder tot sind. An den Hunden ist nämlich nicht genug Fett dran, um uns mit dem Brennstoff zu versorgen, den wir brauchen, damit es uns spürbar besser geht.«

»Was ist es dann?«, fragte Larry ungeduldig.

Crusow schaute ihm in die Augen und sagte: »Wir seilen uns in die Schlucht ab und besuchen einige unserer alten Freunde. Einige von ihnen waren übergewichtig. Ihr Fett ist eingefroren und erhalten. Da unten liegen wahrscheinlich mehrere Zentner Fett herum. Aus dem können wir genug Dieselöl herstellen, um von hier zu verschwinden. Und wenn wir Glück haben, sogar ein paar Liter mehr.«

»Du hast ja nicht alle Tassen im Schrank, Crusow«, sagte Larry.

»Kann schon sein, aber solange dir nichts Besseres einfällt, wie wir die Generatoren mit genügend Treibstoff am Laufen halten können, um die Schneekatze vom diesem Schelf runterzufahren, würde ich an deiner Stelle die Klappe halten. Außerdem bist du ohnehin zu schwach, um dich abzuseilen und wieder hochzuklettern, also hast du nichts zu melden. Die Schlucht ist fast siebzig Meter tief und geht fast nur steil runter. Wir brauchen zwei Mann unten, um die Leichen anzubinden, und zwei Mann mit Hunden oben, die sie raufziehen.«

Die Männer sahen sich an. Alle warteten darauf, dass jemand den Plan kommentierte. Crusow gab ihnen keine Zeit, darüber nachzudenken.

»In Ordnung. Wer von euch Säcken geht mit mir da runter?«

Eine Woche vor Oahu

Immerhin haben Saien und ich einiges über die an Bord eines U-Bootes herrschende Routine gelernt. Wir verstehen die Hierarchie der Privilegien, und obwohl ich aufgrund meiner auf Marineschiffen verbrachten Zeit eigentlich kein Neuling bin, ist der Dienst auf einem U-Boot doch ein gänzlich anderes Kaliber. Ich habe, wenn auch hauptsächlich aus selbstsüchtigen Gründen, in der Funkbude ausgeholfen. Ich habe den Zugang zur Depeschenkommunikation zur USS George Washington dazu benutzt, um meiner Hotel-23-Familie mitzuteilen, dass es mir gut geht. Bislang hat sich niemand an Bord irgendwie gegenteilig geäußert.

Die neueste Meldung von John:

»Tara liebt dich.«

Obwohl die Botschaft nur drei Worte umfasst, wirkt sie doch äußerst aufbauend. Ich bin noch nicht mal zwei Wochen fort, aber es kommt mir länger vor. Ohne E-Mail fühle ich mich wie in den Zeiten, in denen die Verständigung viel persönlicher war und mehr zählte.

Ich frage mich, wie viele junge Leute der »Ich-Generation« während des Seuchenausbruchs gestorben sind, als sie auf ihre Smartphones geglotzt oder irgendein dämliches Update auf Fratzenbuch gepostet haben.

Vielleicht etwas in dieser Art:

OMG, sie schlagen die Tür ein!

So ichbezogen diese Gören auch waren, es wäre mir lieber, sie hätten überlebt. Leider habe ich einen Haufen magerer hosentragender Wichte in den Dreck zurückgeschickt, aus dem sie, seit all dies angefangen hat, gekommen sind.

Der Captain hat mich vor einigen Tagen über den Auftrag aufgeklärt, der uns zur Insel Oahu bringt. Ich bin, ehrlich gesagt, nicht überrascht über die Einzelheiten, sondern nur darüber, welches Risiko wir eingehen, obwohl noch längst nicht feststeht, ob sich unsere »Investition« überhaupt lohnt. Laut Militärgeheimdienst war der gegen Honolulu gerichtete Atomschlag erfolgreich, denn er hat die ganze Stadt und all ihre Vororte ausradiert.

Larsen wirkt sehr optimistisch. Er glaubt, dass der gegen Hawaii gerichtete Atomschlag wirkungsvoller in der Vernichtung der Untoten war als die Bombardements in den Vereinigten Staaten. Er wettet, dass sich die Masse der Kreaturen zur Zeit der Detonation in der Stadt befand. Meine berufliche Meinung: Seine Bewertung ist leichtsinnig. Aber er ist der Captain dieses Bootes, und ich bin hier an Bord nur ein beratender Gast. Ich habe mich allerdings nicht zurückgehalten, ihm meine Bewertung der Sachlage zu erläutern.

Meine persönliche Meinung ist, dass wir unseren chinesischen Übersetzer an Bord behalten und ihm die Aufgabe übertragen sollten, den an Bord befindlichen Funkaufklärungssammler zu bedienen, um für Selbstschutz und etwaige Warnungen chinesischer Militäraktivitäten zu sorgen. Die Möglichkeit, dass wir den Übersetzer an die Kreaturen verlieren, wenn wir ihn auf der Insel lassen und uns nach Westen, nach China, begeben, ist sehr hoch. Außerdem gibt es keine Garantie, dass die Kunia-Sensoren noch funktionieren, nachdem Hawaii so lange ohne Strom ist. Das größte Wagnis: Wir haben überhaupt keine Vorstellung, in welcher Lage sich Kunia befindet. Der größte Teil des Stützpunktes liegt unter der Erde und könnte überspült, von verstrahlten Untoten überrannt oder sogar von einer fehlgeleiteten Atomrakete plattgemacht worden sein. Das erfahren wir erst, wenn wir auf der Hauptinsel an Land stiefeln, was wiederum ein Vorhaben ist, das ich weder im Moment noch sonst irgendwann gutheißen kann.

Maximale Klimmzüge: 5

Liegestütze: 65

1 km Laufband: 4:58.

Ich hoffe, dass das Laufband weiterhin funktioniert. Ich bin von dem Luxus verwöhnt, aus sportlichen Gründen zu rennen – statt um meinen Hals zu retten.