Sechsundvierzig

0ahu

Rex und Rico bildeten die Front des Sicherheitsdreiecks, dessen Nachhut Huck war und in dem Commie die Mitte einnahm. Sie drangen langsam in die aktive Zone vor. Für jeden Beobachter hätte die Bedrohungslage der Insel einem Taifun geähnelt. Radioaktive Untote bildeten einen Kreis um ihren Rand. Der einzige Anflug von Frieden war das Landesinnere. Zum Glück schirmte die Finsternis sie vor den nachtblinden Toten ab, doch es war zu befürchten, dass sie diesmal nicht ausreichen würde. Es waren einfach zu viele. Rico hatte seinen Schutzanzug schon einmal mit einer großzügigen Menge Klebeband geflickt: eine nüchterne Ermahnung an alle, dass die radioaktive Strahlung ausreichte, um jeden zu töten, der keine sofortigen Schutzmaßnahmen einleitete.

»Commie, du schießt nur, wenn sie ins Dreieck einbrechen«, sagte Rex. »Sonst legst du vielleicht noch einen von uns um.«

»Verstanden.«

Sie wagten sich weiter vor und prüften alle naselang ihre Armbandkompasse, um auf Kurs zu bleiben. Die Kreaturen hier waren bei Weitem schneller als die auf dem Festland. Sie reagierten auf jede Wendung.

Eine riesenhafte Gestalt näherte sich der Gruppe von hinten. Als sie sich anschickte, Huck wie ein radioaktiver Bär mit den Armen zu umschlingen, versetzte er ihr einen Schlag mit dem Knauf seines Gewehres. Das Ding, das drei Zentner zu wiegen schien und wie ein Sumo-Ringer aussah, reagierte auf den Hieb, indem es Huck die Waffe entriss. Da sie mit einem Gurt an Huck befestigt war, musste Huck sich hektisch bemühen, den Riemen zu lösen, um sie fallen lassen zu können. Dann griff er nach seiner Pistole. Alles passierte so schnell, dass Rex und Rico keine Zeit hatten, ihm zu helfen oder ihn vor dem Einsatz der Handfeuerwaffe zu warnen.

Hucks ungedämpfte Pistole knallte laut. Im gleichen Moment riss das Ding ihm die Maske und das NSG vom Gesicht. Der massige Untote fiel in den Dreck, und seine zuschnappenden Kiefer bissen in Hucks Strahlungsmaske.

»Gottverdammt!«, schrie Huck und schlang sein Halstuch um Gesicht und Kopf.

Der Rest der Untoten reagierte sofort auf den Pistolenknall. Sie wandten sich im Umkreis von hundert Metern um. Huck entriss der dicken Gestalt die Brille, wischte sie schnell ab und setzte sie wieder auf. Die anderen gaben ihm Deckung. Die Schüsse der halb automatischen M-4er klangen wie Automatiksalven, als die riesige Schar von Untoten zum Nachtmahl auf sie zukam.

»Der Wichser hat meine Haube zerrissen!«

»Anpassen und aufsplittern, Bruder«, sagte Rex ruhig. »Wir müssen in Bewegung bleiben. Beiß in den Lappen und spuck rein. Vielleicht filtert er dann die Niederschlagspartikel besser.« Er feuerte zwischendurch, blieb nicht stehen, behielt das Ziel im Auge.

Rex kannte die Wahrheit, aber er verdrängte sie.

Im Moment.

Huck war eindeutig erledigt. Rex hatte den Reaktoroffizieren während der Einweisung auf dem U-Boot aufmerksam zugehört. Er hatte sogar den Hiroshima-Bericht gelesen, der im LAN des Bootes gespeichert war. Die auf Oahu niedergegangene Strahlungsdosis hatte die örtliche Umwelt verwüstet, wie man am Nichtvorhandensein der meisten einst hier heimischen Tiere sah.

Aufgrund seiner Beobachtungen wusste Rex, dass im Kunia-Tunnel keine Ratten lebten. Dementsprechend übel war die hiesige Lage. Huck hatte wahrscheinlich mehr abbekommen, als gut für ihn war. Von nun an war es für alle ein Entblößungsrennen. Sie mussten von der Insel runter und fort von den Toten – von denen jeder ein wandelndes Fukushima war.

Als die Gruppe zur Küste rannte, brannten und tränten Hucks Augen. Die Waffen der Männer waren von den Auswurfschlitzen bis zu den Schalldämpferspitzen heiß. Sie hielten sie wie weißglühende Brandeisen und taten alles, um sich nicht gegenseitig mit dem Metall zu berühren. Sie wichen den Untoten aus, indem sie im Zickzack liefen, sich duckten, unter verstrahlten Autos herkrochen und alles taten, um ihnen zu entgehen, da sie aus allen Richtungen kamen und sie jagten.

Rico ging die Munition aus. Er ließ seine Waffe einfach an ihrem Gurt herabhängen. Eine weitere korpulente Kreatur kam auf ihn zu, zwar nicht ganz so dick wie der Sumo, ihm aber ziemlich ähnlich. Rico griff nach seiner persönlichen Notwaffe, einer abgesägten Pumpgun. Er richtete die Knarre fast vertikal unter das Kinn der Kreatur, drückte ab und blies ihr Hirn hoch zum Himmel hinauf. Verweste Fetzen fielen überall um sie herum zu Boden.

»Pass auf, Rico!«, sagte Huck. »Ich habe keine Maske auf!« Er wischte sich graue Masse aus dem Haar und von den Wangen.

»Tut mir leid, Alter. Hatte keine Wahl. Meine Knarre ist leer.«

Das Funkgerät rauschte und piepste und kündigte an, dass die USS Virginia eine Nachricht für sie hatte.

»Sanduhr, Kurskorrektur drei-vier-null Grad«, meldete Kils Stimme durch das Gerät. »Ihr seid dreihundert Meter daneben. Jetzt müsstet ihr die Brandung hören können.«

»Wir können die Brandung nicht hören, weil Ricos Kracher das ganze Team taub gemacht hat«, sagte Rex. »Aber ich glaube dir auch so, Kil.« Er prüfte seinen Armbandkompass und justierte seinen magnetischen Kurs über dem Boden. »Nehmt schon mal die Granaten in die Hand«, sagte er zu seinen Leuten. »Damit ihr sie auch findet, wenn ihr sie braucht.«

Die vier Männer griffen in Westen und Taschen, um sich zu versichern, dass sie wussten, wo die Splittergranaten waren, falls sie sie einsetzen mussten.

Als sie an den Strand kamen, betete Rico darum, dass er seine Granaten nicht ebenso einsetzen musste wie Griff.

Durch die Maskenfilter konnte man nun einen Anflug von Salzwasser riechen. Als die Männer aufschauten, bemerkten sie alle gleichzeitig, dass sie dem Wasser viel näher waren als vermutet. Sie waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, durch die Zielfernrohre ihrer Gewehre zu blicken. Die Infrarotimpulse pulsierten – das Boot war höchstens hundert Meter weit entfernt.

Wer sagt denn, dass man GPS braucht, um sich an Land zu orientieren?, dachte Rex und bedankte sich bei seinem simplen mechanischen Kompass dafür, dass er ihn und seine Kameraden ans Ziel gebracht hatte.

Huck hatte Probleme mit der Atmung. Seine Kehle war trocken vom Niederschlagsstaub, der sich mit dem inhalierten Blei- und Schmauchstaub vermischt hatte. Er stolperte hinter den anderen her und kam sich vor wie das Mitglied einer Schlägerbande. »Am Coronado Beach sind wir hier nicht gerade«, murmelte er leise in sein Halstuch hinein. Die anderen liefen um ihr Leben. Huck wankte hinterher. Der volle Mondschein spiegelte sich auf dem Wasser und dem Sand des Strandes und zeigte den Untoten, wo sie waren. Huck, fast außer Atem, gab nicht auf. Eine Kreatur im Badeanzug kam bis auf einen Meter an ihn heran, dann explodierte ihr Schädel.

Es gab keinen sofortigen Schussknall.

Huck, dem es extrem schwindelig war, wollte gerade dazu ansetzen, Rico für die nochmalige Dosis auf ihn niederprasselnder Hirnmasse zu verwünschen, als das Knallgeräusch den Schuss einholte.

Saien lag mit einem 7.62er-LaRue-Sturmgewehr, das er sich aus dem Vorratslager der Sondereinsatzgruppe ausgeliehen hatte, bäuchlings ausgestreckt genau vor dem Turm an Deck der USS Virginia. Er schoss auf die Gestalten, die er durch das Tastfusions-Nachtsichtzielfernrohr sah. Er konnte die hellen Umrisse des Teams, das sich durch die dunkler erscheinenden Massen der Untoten bewegte, deutlich erkennen. Huck hinkte ein wenig hinterher.

Um das Boot näher an den Strand heranzufahren, war Captain Larsen das Risiko eingegangen, die Virginia auf Grund zu setzen, doch so konnte Saien den Männern an Land als Scharfschütze besser beistehen. Als er noch siebzehn Kugeln im Magazin hatte, holte er tief Luft und hielt bei jedem Schuss den Atem an. Das Stampfen des Decks war zwar ein Problem, aber nicht groß genug, um seine Trefferquote auf mehr als fünfzig Prozent zu reduzieren.

Das Schlauchboot wurde bereit gemacht und in die Brandung geschoben. Das Team an Bord schlug die näher kommenden Horden im knietiefen Wasser zurück. Sie mussten auf Huck warten.

»Was macht er denn, verdammt?«, fragte Commie. »Spielt er noch ’ne Runde Halma? Ich fasse es nicht!«

»Halt die Klappe«, fauchte Rico. »Hast du seine Maske nicht gesehen? Er ist wahrscheinlich schon tot.« Er hatte sich noch immer nicht von Griffs selbstlosem Heldentum am Höhleneingang erholt.

Huck lief weiter zum Schlauchboot. Ein Heer von Untoten war ihm auf den Fersen. Rex wäre beinahe ins Wasser gesprungen, doch Rico hielt ihn fest. Jetzt auszusteigen war der reine Wahnsinn.

Saiens Schüsse klangen effektiv. Sie hinterließen Gliedmaßen und Stapel verstrahlter Leichen, die hinter dem zum Wasser eilenden Huck liegen blieben. Saien achtete sorgfältig darauf, die einsame weiße Gestalt, die ihm seine Thermal-Infrarot-Hybridoptik zeigte, nicht zu treffen.

Auch Rex und Rico feuerten. Da sie ihre Laser einsetzten, wussten sie, dass der Scharfschütze auf dem U-Boot sich andere Ziele aussuchte und seine Leistung maximierte. Rex befahl Commie, nicht zu schießen. Da Huck sich vom Mob der Untoten nur undeutlich abhob, traute er dem Jungen nicht unbedingt zu, dass seine Schüsse sicher saßen. Soweit Rex wusste, war Huck – bis jetzt – nicht gebissen worden.

»Keine Munition mehr!«, schrie Rico und griff erneut nach seiner Pumpgun.

Commie warf ihm ein volles Magazin zu. »Nimm meins, es ist voll.«

Rico schob das Magazin in sein M-4 hinein, gab das Schloss frei und schob die 5.65er-Kugel in die kohleverkrustete Kammer. Als Huck ans Wasser kam, knickten seine Beine ein, und er fiel mit dem Gesicht voran ins Nass.

»Pack ihn, Rico!«, befahl Rex und legte auf den Untoten an, der Huck am nächsten war.

Trotz der Stahlruderkontrolle im Leitstand verschob sich der Deckwinkel der Virginia mit der Strömung, was weiteren Beschuss von Deck aus zu gefährlich machte. Das Risiko, versehentlich die eigenen Leute zu treffen, war groß. Saien sah durch die Fusionsoptik erschrocken zu, als Rico über Bord sprang, um Huck zu retten.

Rico spürte die versunkenen Leichen in der Brandung unter seinen Stiefeln, doch er bewegte sich schnell und in der Hoffnung, dass keine davon so aufgekratzt war, dass sie ihm durch den Schutzanzug ins Bein biss. Als er Huck erreicht hatte, schwang er ihn sich wie ein Feuerwehrmann über die Schulter und trug ihn zum auf und ab dümpelnden Schlauchboot.

Als die vier Männer an Bord waren, jagten sie zur Virginia zurück. Hinter ihnen kochte der Strand mit wandelnden Toten über. Sie schienen irgendwie wütend zu sein, dass es den letzten lebenden Menschen auf der Insel gestattet war, sich ihrem ruchlosen Zugriff zu entziehen.

Als sie an Bord des Unterseebootes gingen, war Huck tot. Nachdem Rex sich zögernd der Tatsache ergeben hatte, dass er nicht mehr zurückkehren würde, sprach der Bordkaplan am Bug ein Gebet. Man wickelte den Verstorbenen in ein sauberes Laken und nähte ihn mit einem angespitzten Marlspieker und etwas Fallschirmleine ein.

Das Team versammelte sich um Hucks Leichentuch, um ihm und Griff die letzte Ehre zu erweisen.

Das Boot entfernte sich von der Insel, damit das Team sich auf dem Ozean der Schutzanzüge entledigen konnte. Die Männer standen nackt am Bug, und ein Bord-Entgiftungstrupp schrubbte sie mit langen Nylonbürsten, Seife und kaltem Trinkwasser ab. Dann wurde ihnen eine Strahlungsmedikation verabreicht, und man suchte sie eingehend nach Krankheitssymptomen ab.

Bevor die Fahrt fortgesetzt wurde, kam ein kurzer Befehl übers 1MC: »Alle wachfreien Männer zur Seebestattung an Deck.«

Als Huck ins Wasser hinabgelassen wurde, blies ein Dienstgrad, der auf der Highschool Trompete gespielt hatte, »Taps«. Alle sagten nette Dinge und droschen Phrasen wie Sein Tod wird nicht umsonst gewesen sein und Er hat seinem Land heldenhaft gedient.

Rico waren die Worte egal. Er hatte in vierundzwanzig Stunden zwei Freunde verloren und wünschte sich in diesem Augenblick, er hätte mit ihnen die Plätze tauschen können.

Als die Morgendämmerung den früher einmal wunderschönen Horizont der Insel Oahu küsste, war die USS Virginia bereits unterwegs. In einer Tiefe von hundert Metern und mit einem Tempo von dreißig Knoten war ihr Bug nun auf China ausgerichtet. Sie hatte zwei Männer der Kampfgruppe Sanduhr verloren.

Remote Six Heute

»Ich bin mir zwar sicher, dass Sie es schon gehört haben, Sir«, sagte der Techniker, »aber laut Prüfliste soll ich Sie trotzdem informieren.«

»Dann mal los.«

»Wir haben an unserer Absturzstelle ein Team beobachtet. Es besteht die Möglichkeit, dass …«

»Ja, dessen bin ich mir bewusst. Weitermachen.«

»Jawohl, Sir.«

Gott saß in der Mitte des Operationszentrums auf einem Stuhl und blickte auf den Zentralbildschirm, der in Echtzeit übertrug, was sich am Hotel 23 gerade tat. Vor einigen Stunden hatte er das Team beobachtet, das sich dort, wo die C-130 abgestürzt war, herumgetrieben hatte … und wo nun eine seiner Projekt-Hurrikan-Waffen herumlag. Sie waren so schlau gewesen, keine großen Gesten zu machen, denn Gott hatte bezüglich ihrer weiteren Absichten keinen blassen Schimmer.

Er hatte versucht, sie zu eliminieren. Er hatte die halb aus der offenen Frachtluke hängende Hurrikan-Apparatur per Fernsteuerung aktiviert. Doch vergebens. Das Ding musste beim Absturz einen erheblichen Schaden davongetragen haben. Er hatte sogar einen bewaffneten Reaper chiffriert, doch schlechtes Wetter hatte die Maschine verzögert. Sie hatte einen Umweg fliegen müssen, um einem Sturmgebiet auszuweichen. Das einzige Flugzeug in Gottes Lagerbestand, das den Wurfspieß zum Einsatz bringen konnte, war eine modifizierte Global-Hawk-Drohne, die aber jetzt nur noch ein geschwärzter Krater am Boden war, Wochen zuvor von einer F-18 über Hotel 23 abgeschossen. Das C-130-Projekt Hurrikan war fehlgeschlagen.

Er saß auf seinem Stuhl und überdachte sein Problem. Wie komme ich da rein?, dachte er. Wie komme ich da rein, verdammt?