Fünf
USS Virginia – Kampfgruppe Sanduhr
Sechs dicke Taue fielen fast zeitgleich aus der Luke des Hubschraubers. Der starke Schub der Rotoren ließ das Team wanken, als sie sich wie Mambas entrollten und knapp hinter dem Turm der USS Virginia aufs Deck schlugen. Das heftig wippende U-Boot unterlag der Willkür des Pazifiks. Sein Rumpf war nicht zum Fahren auf Wasser gemacht. Es war eher für verdeckte Unternehmen, Infiltrationszwecke sowie dazu vorgesehen, vor der Schwelle feindlicher U-Boote den Tod abzulegen.
Wenige Sekunden nachdem die Taue an Deck aufgeschlagen waren, folgten die sechs Passagiere. Die ersten vier Männer glitten mit einer Leichtigkeit und Mühelosigkeit in die Tiefe, die von zahlreich absolvierten Sondereinsätzen kündeten. Im Vergleich zu ihnen wirkten die beiden letzten Gestalten schwerfällig und unkoordiniert. Als sie halb unten waren, verlor einer der Männer das Gleichgewicht und drehte sich in den ihn haltenden Gurten wie ein gefangenes Tier in einem Käfig. Als er um sich schlug, wäre er beinahe mit dem Kopf gegen den Turm geknallt.
Nach einer kurzen Periode heißen Rotorwindes und ungelenken Abseilmanövern gesellten Kil und Saien sich zu den vier bereits an Deck befindlichen Gestalten.
Der Anführer der Gruppe stand da, und der Druck der starken Motoren über ihnen ließ seine Klamotten flattern. Seine seefesten Beine und Füße hielten sich wie Stahlmagneten an Deck fest, und er blieb mühelos im Gleichgewicht.
Er gab dem Chef der Hubschraubermannschaft ein Handzeichen. Einige Sekunden später sanken fünf dicke schwarze Seesäcke voller Waffen langsam an Deck hinab. Die Männer zeigten dem Piloten mit erhobenem Daumen, dass sein Job getan war, und der Crew-Chef ließ die Seile einholen. Der Pilot salutierte in Richtung der an Deck des U-Bootes stehenden Männer und betätigte gleich darauf den Steuerknüppel. Der Hubschrauber jagte nach Norden.
Motorenlärm und Rotorgesurr verschwanden schnell in der Ferne. Die Männer waren nun der Gnade des Pazifiks ausgeliefert. Sie verabschiedeten sich von der See und gingen über den Bootsrücken auf dem groben, rutschsicheren Laufgang zum Turm.
Kil und Saien folgten ihnen, wobei der eine leise zum anderen sagte: »Mit den Wölfen heulen.«
Sie bahnten sich über eine scheinbar endlos lange Leiter ihren Weg nach unten und begaben sich durch die Luke in den Bauch des U-Bootes. Dann ging es ins Steuerzentrum. Das vom Himmel kommende Licht verblasste, und die rote Innenbeleuchtung des U-Bootes wurde stärker. Die vier Männer verschwanden am Heck in den komplexen inneren Organen des Fahrzeugs und ließen Kil und Saien zwischen Fremden auf der Brücke stehen.
Ein Mann, der eine zerknitterte Latzhose, Tennisschuhe und eine Kappe trug, kam zu ihnen und streckte den Arm aus, um sie zu begrüßen. »Ich bin Captain Larsen, der Kommandant der USS Virginia.«
Einer der Neuen schüttelte fest Larsens Hand. »Wir sind …«
»Ich weiß, wer und weswegen Sie hier sind«, fiel Larsen ihm ins Wort.
Kil bemühte sich, keine Miene zu verziehen.
»Der Admiral hat mir vor drei Tagen eine persönliche Nachricht geschickt«, fuhr Larsen fort. »Er hat mich in dankenswerter Weise auch über das Team informiert, das mit Ihnen gekommen ist. Ich weiß außerdem Bescheid über Ihren Freund, Mr. Saien. Wir haben von Ihnen gehört, aber auch von den merkwürdigen Ereignissen, die mit dieser noch merkwürdigeren Organisation namens Remote Six zu tun haben.«
»Tja, dann kann ich wohl davon ausgehen, dass der Admiral mir einige Erklärungen erspart hat«, erwiderte Kil.
»Gehen Sie davon aus. Der Leitende Ingenieur Rowe wird Ihnen nun Ihre Kabine zeigen«, sagte Larsen und wandte sich ab, um zu verschwinden.
»Noch eine kurze Frage, Sir …«
»Schießen Sie los, Commander.«
»Was ist in China los?«
»Das erfahren Sie im Sicherheitsbereich. Seien Sie um 18.00 Uhr bereit.«
»Aye, aye, Captain.«
Larsen machte sich eilig davon. Bevor er in einem schmalen Durchgang verschwand, sprach er etwas, das Kil nicht verstand, in ein ziegelförmiges Funkgerät hinein. LI Rowe kam zu den Neuankömmlingen und begutachtete sie mit Augen, die ein jahrelanges Leben auf dem Meer geeicht hatte. Er war klein, ungefähr eins siebzig, stämmig und trug einen dicken Schnauzbart. Unter höheren Marineoffizieren kursierte der Spruch Ich hab mehr Salzwasser ins Klo gespült, als du drauf gefahren bist. Kil hatte irgendwie den Eindruck, dass diese Weisheit bei LI Rowe ihren Ursprung hatte.
»Tja, ich hab gehört, dass einer von euch Commander ist«, sagte Rowe. »Ich nehme an, du bist es.« Er deutete auf Kil. »Wollt ihr ’ne Uniform? Wir haben ein paar in Reserve, aber Rangabzeichen sind da nicht dran.«
Kil wusste sofort, dass der LI seine Hausaufgaben gemacht hatte.
»Ich hätte gern ’ne Latzhose, falls du eine übrig hast, Chief.«
»Kein Problem. Du weißt, wer ich bin? Wer bist du?«
»Kil.«
»Lassen wir das mit dem Commander. Bin ja selber einer.«
Saien lachte widerwillig.
»Und wie heißt du, Ali Baba?«, sagte Rowe zu Saien.
Kil biss sich auf die Unterlippe.
»Ich heiße Saien.«
Rowe begutachtete die beiden Männer mit einem kritischen Blick, als hätte er sie auf der Brücke der USS Virginia sowohl beurteilt als auch verknackt. »Commander Kilroy und Mister Saien: Willkommen an Bord der Virginia. Mir nach.«
Saien und Kil blieben dicht hinter LI Rowe, als dieser durch das Labyrinth aus Durchgängen und Leitern navigierte. Kil spürte bereits, dass Zeit und Raum an Bord eines Unterseebootes eigentümliche und unklare Dinge waren. Seiner Meinung nach hatte das Gefährt von außen nicht so groß ausgesehen wie von innen. Dann erreichten sie ihr Quartier. Es bestand aus Segeltuchplanen, die Schotten verkleideten. Sie bildeten ein missgebildetes Quadrat mit Schlafkojen und Truhen.
»Erfreut euch an eurer neuen Wohnung, Leute. Sie ist ’n bisschen zugig, aber mit ein wenig Klebeband und ein paar Reißverschlüssen könnte man was draus machen. Da ich der Leitende Ingenieur an Bord bin …« – er wandte sich Saien zu –, »… könnt ihr mich auch LI nennen. Das spart Zeit.«
Saien nickte. »Verstanden, LI.«
»Na, dann.« Rowe machte sich zielgerichtet davon und rief, während er durch den Gang schritt, etwas über Latzhosen und Putzkommandos.
Saien und Kil waren sich unter bemerkenswerten Umständen begegnet. Kurz danach hatte Kil erfahren, dass Saien ihn tagelang verfolgt und beobachtet hatte. Er selbst hatte sich nach einem üblen Hubschrauberabsturz nach Süden durchgeschlagen. Als Saien ihm auf der Spur gewesen war, war er im Kühlschrank einer verlassenen Wohnung auch auf einen von ihm geschriebenen Zettel gestoßen … Kilroy war hier.
Der Spitzname war schon vor dem Schwarm an ihm hängen geblieben.
Kil hatte auch jetzt noch ein mulmiges Gefühl in der Magengrube, wenn er an diesen Tag zurückdachte. Während Tausende von Untoten sich ihrem Standort genähert hatten, hatten sie versucht, ein Fahrzeug zum Laufen zu kriegen. Dreihundert Meter, zweihundert … Staub, Stöhnen. Sie waren immer näher gekommen. In einem Anfall von Panik und Verwirrung hatte Saien ihn Kilroy genannt, nach der von ihm zurückgelassenen Notiz. In den darauffolgenden Tagen war Kilroy einfach zu Kil geschrumpft.
Sie packten ihren Kram aus und verstauten ihre Ausrüstung in jedem Winkel, den sie fanden. Die Kojen waren schmal, der Platz begrenzt. Einen Teil ihrer Habseligkeiten schoben sie unter die Matratzen. Für das, was sie aus dem geräumigen Flugzeugträger mitgebracht hatten, war einfach nicht genug Raum vorhanden. Keiner der beiden hatte je in einem U-Boot gelebt, eine Tatsache, die wunderbar dadurch deutlich wurde, wie sie mit dem kostbaren Stauraum umgingen.
Kil nahm auf seiner Koje Platz und lauschte den Geräuschen, die das U-Boot von sich gab. Es war für die Stille konstruiert und glich im Ganzen – gegenüber dem Kettenrasseln, den lärmenden Ventilatoren und den periodischen Aktivitäten der Magnetventile eines Flugzeugträgers – eher der räumlichen Atmosphäre einer Stadtbibliothek. Tauchen, tauchen, tauchen hörte er schon, bevor der Bug um einige Grad weiter nach unten kippte und die Virginia in der Tiefe verschwinden ließ.
Kil wusste, was er sich auf den Hals geladen hatte und dass er höchstwahrscheinlich nicht lebend nach Hause zurückkehrte. Wenn man die Logik walten ließ, war es einfach zu berechnen. Es waren schlicht zu viele. Es ging nicht um Millionen. Er stand nun allein gegen mehr als eine Milliarde.
Es dauerte vier Stunden, bis die Männer über den ihnen bevorstehenden gefährlichen Auftrag aufgeklärt wurden.
Dies ist der erste Tagebucheintrag, den ich auf der USS Virginia schreibe. Seit zwei Stunden bin ich nun an Bord des U-Bootes. Bevor wir tauchten, war die See leicht bewegt. Der Skipper sagt, wir werden in den kommenden zwanzig Stunden in dieser Gegend bleiben, um uns auf die Fahrt nach Pearl Harbor vorzubereiten. Saien und ich pennen in einer Art Pseudokabine. Ich bin froh, dass wir nicht im Torpedolager schlafen müssen, wie es für Leute von außerhalb Brauch ist.
Obwohl ich viele Marineeinsätze mitgemacht habe, hätte ich mir nie träumen lassen, eines Tages eine Durchsage wie »Alles wachfreie Personal sofort zum Atomreaktoren-Wartungsunterricht« zu hören.
Alles passt zusammen. Da wir bei der Marine nicht mehr in Kernwaffen machen, müssen wir neue Leute ausbilden, um zu vermeiden, uns irgendwann Probleme mit maroden Reaktoren aufzuhalsen.
Atombetriebene Schiffe sind quasi für diese Art von Weltuntergang gemacht. Ich weiß noch, dass ich auf konventionell angetriebenen Flugzeugträgern Dienst geschoben habe. Alle paar Tage mussten wir an einen Tanker längsseits gehen. Schiffstypen dieser Art können in unserer neuen Welt nicht mehr überleben. Es gibt keine Raffinerien mehr, die noch in Betrieb sind, um unseren riesigen Treibstoffbedarf zu decken.
Die einzigen wirklichen Schwächen des Virginia-Unternehmens sind allgemeine Rumpfwartung, Proviantbevorratung und Reaktorreparaturen. Die Ausbildung, die in den Reaktorräumen stattfindet, könnte eine dieser Schwächen mildern. Die Virginia erzeugt ihr eigenes Wasser und reinigt ihre Luft mit Einsatz von Bordgeräten, die der Reaktor antreibt. Es gibt keine Stromknappheit. So wie einige Flugzeugträger mit aktiven Reaktoren als Kraftwerke genutzt werden, könnte die Virginia problemlos eine Kleinstadt mit Energie versorgen.
Man hat mir mitgeteilt, dass Saien und ich uns zwecks Einweisung in das Unternehmen mit dem Nachrichtenoffizier treffen sollen. Der einzige Hinweis, den ich zu unserem Auftrag erhalten habe, kam von Joe, als wir heute Morgen in den Hubschrauber gestiegen sind.
Um das Gedröhn der Rotoren zu übertönen, ging Joe, als wir die Brücke des Flugzeugträgers verließen, über das rutschsichere Stahldeck zum Kopter und rief: »Sie werden es nicht glauben, Commander! Bleiben Sie für alles offen!«
Ich bin noch immer nicht daran gewöhnt, Commander genannt zu werden. Ich bin schließlich kein echter Commander. Ich bekomme nicht mal Sold, auch wenn Geld, wie ich vermute, heute keine Rolle mehr spielt. Wie dem auch sei, im Moment habe ich keine Ahnung, was mich nach dem, was ich in den letzten elf Monaten erlebt habe, eigentlich noch überraschen könnte. Ich komme mir vor wie in der ersten Nacht während der Grundausbildung. Fern von der gewohnten Umgebung, leicht ängstlich und ahnungslos, was wohl als Nächstes passiert.