Sechsunddreißig

Arktischer Norden

Die Herstellung von Biobrennstoff war eine grausige und ekelerregende Angelegenheit. Mit Kungs Hilfe hatte Crusow die halb gefrorenen Leichen zerlegt und ihnen das kostbare Fett entnommen. Die Haut hatte Frostbrand und war vom arktischen Wind aufgeplatzt. Kung war von dem, was Crusow beim Schlachtprozess brauchte, anfangs völlig verwirrt; seine ersten Fleischklumpen enthielten zu viele Muskeln.

Crusow erläuterte, was er benötigte, indem er das wenige Fett, das er an seiner Bauchgegend hatte, packte und Kung zeigte.

»Das hier, Kung, nicht das.« Er deutete auf seinen Bizeps.

Nachdem er den Leichen einige Hundert Pfund Fett entnommen hatte, begann er mit dem langwierigen chemischen Prozess der Umwandlung von Fett in Biobrennstoff. Der Gestank war grauenhaft. Man brauchte eine Weile, um sich an ihn zu gewöhnen. Das Fett musste vorsichtig erhitzt werden, damit der Brennstoff ordnungsgemäß verarbeitet wurde. Crusow trug eine Maske und eine Brille, um sich vor dem kochenden Fett zu schützen. Seine ersten Klumpen erwiesen sich als brauchbar und schienen, als er sie im Haus ausprobierte, ausgezeichnet zu funktionieren.

Crusow trug eine kleine Menge hinaus, fort von dem erhitzten Labor, um sie an einem Generator zu testen, den er modifiziert hatte, damit er alternativen Brennstoff verwerten konnte. Nachdem er den Brennstoff eine halbe Stunde lang im Generatorenhäuschen hatte liegen lassen, kehrte er zurück und stellte fest, dass er sich im Behälter zu einer gelartigen Konsistenz verfestigt hatte.

Crusow trug den Brennstoff zurück und platzierte ihn neben einem Heizschlot. Schließlich verflüssigte sich der Brennstoff wieder. Crusows Lösung für das Verfestigungsproblem war der Einsatz des primären Dieseltanks der Schneekatze, um den Motor anzuwerfen und daneben einen zweiten Tank aufzubauen. Er versah den zweiten Tank mit Heizungswicklungen, um den Brennstoff in einem flüssigen Zustand zu erhalten. Es war zwar nicht ideal, aber er verfügte weder über Zugang zu einer hundertprozentigen Raffinerie noch über den Luxus, sich darüber zu beschweren.

Crusow und Mark behielten Larry neuerdings genau im Auge. Er war bettlägerig und, seit Bret am Spaltenboden getötet worden war, dem Tode nahe. Trotz der ermutigenden Worte der drei anderen Männer gab Larry sich auf. Sie hatten sein Quartier in die Nähe der Funkstation verlegt, um ihn besser im Blickfeld zu haben. Zur Vorsicht lehnten nun Stühle und andere Dinge an seiner Tür – niemand wollte Larrys Wiederauferstehung als Überraschung erleben. Die Nachtwachen waren nun besonders spannend, besonders dann, wenn die Behelfsalarmanlagen unerwartet umfielen.

Es war unerlässlich, auch zu den ungewöhnlichsten Stunden am Funkgerät zu sitzen. Immerhin hatte dies dazu geführt, dass man mehrere erfolgreiche Funksprüche von der USS George Washington an die USS Virginia und umgekehrt hatte weiterleiten können. Die arktische Außenstation Vier war nun ein Informationsknotenpunkt zwischen den Kriegsschiffen.

Über Kurzwellenfunk wurde Crusow mit John und dessen Freund Kil ebenfalls immer vertrauter. Nachdem er von John erfahren hatte, dass er mit Kil Fernschach spielte, fing er sogar eine eigene Partie mit ihm an. Es war eine gute Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen. Crusow freute sich über jede Gelegenheit zu einem Funkkontakt. Mit dem überzähligen Schachbrett aus dem Freizeitraum der Außenstation konnte er Johns und Kils Partie verfolgen, während er seine eigene spielte. Es war überraschend, welche Längen ein Mensch sich antat, wenn es darum ging, die Langeweile zu bekämpfen.

Crusow hatte jeden in der Außenstation vorhandenen Film mehrmals gesehen. Bei einer Schachpartie waren die Wendungen spannender. Die Spieler mitgerechnet, hatten die per Funk übertragenen Partien die höchste Pro-Kopf-Zuhörerzahl in der Geschichte des Funks.

Schach und militärische Kommunikation waren nicht das Einzige, was sie über Kurzwelle verbreiteten. Neuigkeiten aus fernen Landen hörte man immer gern, auch dann, wenn sie schlecht waren. In der vergangenen Woche hatte Crusow erfahren, dass die hawaiianische Insel Oahu eine radioaktiv verseuchte Ödnis war, dass Amerika noch immer über eine – wenn auch begrenzte – Anzahl von Flugzeugen verfügte und die Virginia nach Westen weiterfuhr, um ihr Rettungsunternehmen fortzusetzen. Manche militärische Kürzel machten die Bedeutung der übermittelten Botschaften unklar, doch Crusow und Mark konnten die meisten nicht kodierten Meldungen verstehen.

Nun, da die Schneekatze mit dualen Tanks modifiziert war, konnten sie eine Fahrt zu den dünneren Eisgebieten im Süden unternehmen, wo ein Eisbrecher sie vielleicht retten würde.

Schließlich destillierte Crusow 210 Liter Biodiesel, eine geeignete Menge, da der modifizierte beheizte Tank auf der Katze eine metallene 210-Liter-Tonne war. Er hatte sie auf dem Müllplatz der Station geborgen.

Bei Crusows Umgang mit Larry war Kung ein wertvoller Botschafter. Er hatte, was Kung anbetraf, ein schlechtes Gewissen, denn ihm war klar, dass er dem Mann etwas Übles aufgehalst hatte. Obwohl Kung besser geworden war, war Englisch für ihn noch immer eine Zweitsprache, in der es ihm schwerfiel, anderen seine Gedanken und Gefühle verständlich zu machen. Er war wirklich ein Fremdling an einem sonderbaren und unversöhnlichen Ort.

Die Anspannung der alles einhüllenden Kälte verursachte einen mentalen Gruppenzusammenbruch. Die Uhr, die ihnen sagte, wann sie keinen Brennstoff mehr hatten und erfrieren würden, tickte unerbittlich. Das Datum, an dem die Generatoren den Betrieb einstellten, konnte man nicht ignorieren, in die Zukunft verlegen oder auf die lange Bank schieben. Crusow hatte den Eindruck, dass ihre Niedergeschlagenheit zunahm.

Seit seinem grässlichen, doch notwendigen Ausflug an den Spaltenboden waren seine Albträume mit voller Kraft zurückgekehrt. Die lange Dunkelheit des Winters im hohen Norden speiste nichts als Gefühle von Angst und Hoffnungslosigkeit, die ihn in quälende und erbarmungslose Traumlandschaften warfen. Den Zweikampf mit Bret oder der anderen Kreatur, deren Gesicht ihm vertraut gewesen war, ohne ihre Identität noch zu kennen, würde er so schnell nicht vergessen. Das Grauen, das er erlitten hatte, seit er auf diesem Eisklotz festsaß, hatte es aus seiner Erinnerung gelöscht.

USS Virginia – In hawaiianischen Gewässern

Ich habe gerade dienstfrei. Die Jungs von der Kampfgruppe Sanduhr sind noch im Höhlenstützpunkt. Ich habe die Wache angewiesen, mich zu wecken, wenn sie etwas über die Spiondrohne hört oder sieht. Eine zweite Drohne wird in Kürze gestartet, um die erste abzulösen. Wir haben seit sechs Stunden nichts mehr vom Team gehört. Seit Griff …

Tja, seit er bis zum Tod gekämpft hat. Ich nehme an, so drückt man es am besten aus. Saien und ich haben die gegenwärtige Lage an Land diskutiert und über alle möglichen Ergebnisse nachgedacht.

Eine Möglichkeit: Wir hören nie wieder vom Team und fahren ohne es und ohne Dolmetscher nach China weiter. Saien und ich wissen, welche Auswirkungen dies haben wird, doch keiner von uns kann sagen, dass er sie sich wünscht.

Eine andere wünschenswertere Möglichkeit ist die, dass sie heil aus der Höhle herauskommen und melden, dass sie sicher, bestens ausgerüstet und in funktionsfähigem Zustand sind. Saien und ich haben schon befohlen, ein Boot bereitzustellen.

Als die Sonne heute hoch am Himmel stand, sind wir hinaufgegangen und haben uns mit Ferngläsern den Strand angeschaut.

Ich konnte die Kreaturen im und um das Schlauchboot des Teams herumstehen sehen; offenbar warten sie auf die Rückkehr der Männer. Ein großer Teil der Insel wurde dem Raketenbeschuss ausgesetzt. Die Auswirkungen der großflächigen Verstrahlung auf die Kreaturen werden wahrscheinlich längst nicht von jedem verstanden, zumindest unter denen, die ich kenne.

Ich habe heute wieder eine Nachricht von John erhalten – weitere Schachzüge. Mit den beiden ersten Zahlen konnte ich etwas anfangen, doch die zweite Serie war wie die, die ich vor einigen Tagen bekam – eigenartig.

Zusammen mit den mysteriösen Zahlen kam eine Frage. »Hast du Tunnel zu den Sternen gelesen?«

Ja, ich kenne den Roman. Ich habe Crusow (das ist der Mann, der in der Arktis als unsere Relaisstation fungiert) eine Antwort geschickt. Danach haben wir ein bisschen geplaudert. Crusow ist mein üblicher Kontaktmann, wenn ich Nachrichten weitergebe.

Einmal haben Crusow und ich nachts auf eine höhere Alternative und eine deutlichere Frequenz geschaltet und uns darüber unterhalten, was wir früher so getrieben haben und welche Ereignisse zu dem geführt haben, was heute ist. Crusow hat mir ein paar grausige Geschichten über kürzlich erfolgte Eskapaden auf dem Grund einer Spalte in der Nähe der Station erzählt, bei der sie durch eine aufgetaute Leiche einen weiteren Mann verloren haben. Die Geschichte war haarsträubend, hat uns aber wertvolle Informationen über die Untoten gebracht. Crusow macht sich allmählich ernsthafte Sorgen darüber, ob er und die anderen dort oben überleben können. Viel Brennstoff haben sie nicht mehr, aber er hat eine schreckliche Maßnahme ergriffen, um neuen zu produzieren. Die Außenstation Vier wird nur noch von vier Seelen bevölkert, von denen eine, wie Crusow es schildert, ernstlich erkrankt und dem Tode nahe ist.

Laut Crusow scheint John guten Mutes zu sein. John ließ mir außerdem ausrichten, dass auch mit Tara alles in Ordnung ist. Obwohl die großen Entfernungen den Sprechfunkkontakt nur bei den allerbesten atmosphärischen Umständen ermöglichen, ist dies besser als nichts und hält mich auf den Beinen.

Wird Zeit, die Augen zu schließen. Saien sägt schon in der Koje unter mir.