Vier

Tara lag auf dem Bett und starrte zur Decke hinauf. Es war ungefähr so wie damals auf dem College. Da hatte sie auch durch manchen langweiligen Dozenten hindurchgeschaut. Mann, war das lange her. Die rechteckigen Leuchtstofflampen wechselten zu Rot. Ihre Koje wiegte sich leicht, als das Schiff sich seinen Weg durch die wogende See bahnte.

Die lauten Glocken des über ihrer Tür befestigten PA-Lautsprechers zwangen sie zu erneuter Konzentration. Irgendein Mannschaftsangehöriger hatte ihn Eins MC genannt. Er stand auf ihrer Liste zu lernender Dinge. Sie musste noch viel verinnerlichen. Ihr Freund war erst vor ein paar Tagen gegangen. Man hatte Hotel 23 erst vor einer Woche evakuiert. Es kam ihr viel länger vor. Allmählich verwischte sich alles.

Im Kopf hörte Tara noch immer den Lärm der Heulboje. Eine Dämonenbande aus der Hölle hätte ihr nicht mehr Angst einjagen können. Zwar glaubte sie nicht, dass die Hölle so aussah, wie die Kirche oder Gruselromane sie beschrieben, aber eine echte Hölle hatte sie an dem Tag gesehen, an dem sie aus Hotel 23 geflohen waren.

Man hatte sie zusammen mit Dean, Janet, Laura und den anderen in einen Hubschrauber geschoben. Laura hatte Annabelle, Johns weißes Hündchen, vor Angst fest an sich gedrückt. Als sie den Ort verlassen hatten, der für kurze Zeit ihr Zuhause gewesen war, hatte niemand gewusst, was auf sie zukam.

Saien hatte sie in die Maschine geschoben und beruhigend gesagt: »Mach dir keine Sorgen. Ich passe auf Kil auf. Bei mir ist er sicher. Nun mach schon!«

Die Schnappschüsse von den Kämpfen am Hotel 23 bis zum Flug an den Golf, den sie erst vor wenigen Tagen erreicht hatten, spukten noch immer in ihren Erinnerungen und Träumen herum. Der Hubschrauber war über dem Grundstück geschwebt, und sie hatte nach und nach etwas ausgemacht, was wie eine Million Untote aussah. Bis sie dann deutlich erkennbar waren. Nichts als der Tod hatte sich bei Hotel 23 ein Stelldichein gegeben. Die Überlebenden waren in militärischen Konvois geflohen, aber auch in Personenkraftwagen und Lastern. Sogar zu Fuß. Nur die Frauen und Kinder hatte man ausgeflogen.

Tara erinnerte sich lebhaft an die auf die Horden feuernden Marinesoldaten. Sie hatten die Untoten unverzüglich in Massen zerlegt. Sie erinnerte sich an das Geschützfeuer, die in alle Richtungen fliegenden verfaulenden Gliedmaßen. Manche Schüsse hatten in ihren Augen wie Laserstrahlen ausgesehen. Die Soldaten hatten Tausende an der Untotenfront niedergemäht. Trotzdem waren die Legionen hinter den Gefallenen einfach weitermarschiert, als störte das Stahlgewitter sie nicht.

Es waren zu viele gewesen, um sie aufzuhalten.

Der Hubschrauber war nach Süden geflogen. Dort hatte sie den ersten Blick auf die USS George Washington geworfen: ein Pünktchen am Horizont. Es war mit jeder Sekunde, in der sie dem Schiff näher kamen, größer geworden.

Ein Mann namens Joe Maurer hatte sie gestern eingehend befragt. Man hatte sie freundlich gebeten, alles zu erzählen, angefangen bei dem Wagen, in dem sie Monate zuvor festgesessen hatte und aus dem sie gerettet worden war. Joes Frage, wie sie so lange in einem Auto hatte überleben können, war ihr leicht peinlich gewesen.

Richtig errötet war sie bei der Frage: »Wie sind Sie zur Toilette gelangt?«

Es hatte nicht nur an ihrer Verschämtheit gelegen. Bei dieser Frage war auch schlagartig ihre Angst zurückgekehrt. Die monströsen Kreaturen fielen ihr ein. Sie hatten ihr beim Schlafen und beim Weinen zugeschaut. Sie hatten ihr beim Fluchen zugeschaut. Und als sie sie angespuckt hatte. Sie hatten ihr sogar zugeschaut, als sie sich in einen großen McDonald’s-Kaffeebecher erleichtert hatte. Gott sei Dank waren sie zu schwach und zu dämlich gewesen, um die Scheiben des Wagens mit Steinen einzuschlagen wie in anderen Fällen, die sie gesehen hatte. Sie hatten nur mit blutigen, eitrigen Armstümpfen, den Resten ihrer Hände und sogar mit den Köpfen gegen die Scheiben geschlagen. Einer der Belagerer hatte sich bei dem Versuch, sie durch die Seitenscheibe zu beißen, die Zähne in seinem faulenden Maul ausgeschlagen. Sie gehorchen einem Urtrieb, hatte sie gedacht.

Bei ihrer Rettung hatte sie kurz vor einem Hitzschlag gestanden. Kil war nicht nur ihr Retter, sondern auch das Erste gewesen, was sie zu Gesicht bekam, als sie dem Tod schon ins Auge schaute. Und nun war er aufgrund eines Befehls fort und mit einem Auftrag unterwegs, der wahrscheinlich auch nichts bewirkte. Das Unternehmen selbst interessierte Tara eigentlich nicht. Sie hätte Kil nur gern bei sich gehabt. Tara verstand nun, wie ihre Großmutter sich gefühlt hatte, als Papa nach Vietnam geschickt worden war.

Aber immerhin hatte sie noch John und die anderen.

John hielt die Gruppe zusammen. Er war auch in den dunkelsten Stunden immer bei ihnen gewesen. Auch an dem Tag, an dem der Hubschrauber nicht zum Stützpunkt zurückgekehrt war. Tara hatte danach tagelang geweint. Da sie aber nicht aufgeben wollte, hatte sie sich gleich neben dem Funkgerät niedergelassen. In jedem wachen Moment hatte sie die Notruffrequenzen abgehört. Sobald sie schlafen musste, hatte sie sich von John versprechen lassen, dass er ihre Wache übernahm. John hatte alles getan, ohne sich zu beklagen oder Fragen zu stellen. Ohne Kil wäre er vermutlich auch nicht mehr am Leben.

Genau genommen wären sie ohne John vermutlich alle nicht mehr am Leben. Seine Fähigkeiten in Sachen Netzwerk und Computer hatten die Hotel-23-Bewohner nämlich befähigt, wenigstens einige der Vorteile des komplexen und geheimen Systems für sich nutzbar zu machen. Johns Begabung, Überwachungskameras, Satellitenbildübertragungs- und Kommunikationsanlagen zu steuern, war für die situationsbedingte Achtsamkeit der Gruppe äußerst wichtig.

Tara hörte die Glocken erneut und fragte sich, was ihr Geläut wohl diesmal zu bedeuten hatte.

Seit Kils Abreise war es Johns Prinzip, sich zu beschäftigen. Er war noch immer etwas wütend und vielleicht auch leicht verletzt, doch er verstand Kils Gründe, Saien zu wählen. Als er es überwunden hatte, hatte er sich schnell gemeldet, um der Bordkommunikation des Schiffes bei der Wartung und dem Neuaufbau entscheidender Verbindungen zu helfen. Das E-Mail-System an Bord war nutzlos, denn es gab kein World Wide Web mehr, mit dem man es hätte verbinden können. Allerdings existierte zwischen der USS George Washington und verschiedenen Informationsknotenpunkten an Land und auf See ein stabiles Funknetz. Obwohl man John keinen Zugang zu den Leitungen gab, dauerte es nicht lange, bis die Kommunikationstechniker an Bord ihn näher kennenlernten, sich angemessen locker machten und ihm jeden Zugriff gewährten. Johns Kenntnisse bezüglich wesentlicher Funkfrequenztheorie und Computersysteme machten ihn zu einem entscheidenden Aktivposten im Begabtentrupp des Flugzeugträgers.

Einige Decks tiefer, hinter dem Funkraum, befand sich das Bordlazarett. Vor der Anomalie hatte es einer allgemeinen Ambulanz geglichen, doch nun sah es eher aus wie ein Kriegsversehrten-Traumazentrum. Die meisten Ärzte waren seit der Entdeckung der Anomalie in den Vereinigten Staaten im Dienst ums Leben gekommen. Dies war leicht zu verstehen, denn Bordärzte waren oftmals die ersten Menschen, die es mit Infizierten zu tun bekamen. Vor der Anomalie waren fünf Ärzte an Bord gewesen. Wandelnde Leichen hatten die ersten beiden infiziert. Welche Ironie, dass ausgerechnet Ärzte, die den Tod verkündeten, von Geschöpfen getötet wurden, die sie zum Narren gehalten hatten. Der dritte Arzt war umgekommen, nachdem ein infizierter Seemann sich den Kopf abgeschossen hatte. Sein Blut war in eine Schnittwunde eingedrungen, die er sich beim Rasieren zugezogen hatte. Der Arzt hatte es vorgezogen, durch einen Kopfschuss zu sterben. Man hatte ihm ein Seebegräbnis gegeben. Der vierte Arzt hatte den gewaltlosen Weg vorgezogen und sich eine Überdosis Morphium verordnet. Immerhin war er den Männern seines Korps gegenüber so anständig gewesen, seinen Unterleib vor der Injektion an eine Transportliege zu schnallen. Sein Abschiedsbrief war so beunruhigend ausgefallen, dass er vom Sicherheitsoffizier des Schiffes konfisziert und vernichtet worden war, denn er hatte befürchtet, er könnte weiteren Selbstmordversuchen oder gar einer Meuterei Vorschub leisten.

Der letzte noch auf eigenen Beinen stehende Arzt war Dr. James Bricker, ein unübertroffener Profi, Absolvent der Marineakademie und Lieutenant Commander. Wer bei der Marine war, weiß, dass Militärärzte sich gehörig von anderen Offizieren unterscheiden. Viele hochrangige Ärzte legen keinen Wert darauf, dass man sie Sir oder Ma’am nennt oder mit dem Dienstgrad anspricht. Sie kümmern sich nur um ihren Job – und sorgen dafür, dass es einem besser geht.

Als Janet frisch vom Hotel 23 an Bord gekommen war, war Bricker vom Wahnsinn nicht mehr weit entfernt gewesen. Vielleicht hatte er sich sogar schon selbst mit Morphium bedient. Als die neuen Passagiere verhört worden waren, instruierte man sie, Formulare auszufüllen, die sich auch nach besonderen Fähigkeiten und Kenntnissen erkundigten. Die Gutachter wussten, wonach sie suchten. Sie wussten auch, wann es um welche Prioritäten ging. Als sie die ausgefüllten Papiere begutachtet hatten und feststellten, dass Janet Medizinstudentin im vierten Semester war, rissen sie sie praktisch vom Stuhl hoch, trennten sie von Mann und Kind und schleiften sie ins Lazarett.

Dort angekommen, fühlte Janet sich, als sei sie geradewegs ins Tollhaus einmarschiert. Infizierte, doch lebendige Patienten schrien in ihren Betten und zerrten im Wahn an ihren Fesseln. Zwischen den Krankenbetten wimmelte es von Freiwilligen. Ein einsamer irrer Arzt mit einer wilden, ungekämmten Mähne beugte sich über ein Mikroskop und verwünschte alles, was er zwischen den Objektträgern zu sehen bekam.

»Dr. Bricker«, sagte der Gutachter, der Janet hergeschleift hatte. »Ich habe …«

»Jetzt nicht.«

Der Gutachter wartete einige Sekunden. Er fragte sich anscheinend, ob er es wagen konnte, den Mann ein weiteres Mal zu unterbrechen. »Sir, ich habe hier eine …«

Ohne den Blick vom Mikroskop zu lösen, fauchte Dr. Bricker: »Lassen Sie mich raten. Sie haben einen Fähnleinführer der Pfadfinder, der mit einem medizinischen Tapferkeitsorden ausgezeichnet wurde; vielleicht jemanden, der einen Herz-Lungen-Massage-Wiederbelebungskursus absolviert hat, oder … hmmm … Wie wär’s mit ’ner medizinischen Schreibkraft?«

»Sir, sie ist Medizinstudentin im vierten Semester.«

Bricker hielt kurz inne. Er fixierte noch immer das Mikroskop und die darunter befindlichen Geheimnisse. »Ganz sicher?«

»Sir, ich habe sie gleich mitgebracht. Na los, befragen Sie sie, machen Sie einen … Wie nennt man das? Einen Ärztetest? Machen Sie, was Sie wollen. Ich muss andere Leute begutachten. Deswegen hau ich jetzt wieder ab. Sie gehört Ihnen.«

Janet sah dem Gutachter ins Gesicht. Seine Offenherzigkeit ärgerte sie.

»Tut mir leid, Ma’am. War nicht meine Absicht, über Ihren Kopf hinweg zu quatschen, als wären Sie nicht dabei. Ich hab nur einen langen Tag hinter mir.«

Janets Miene veränderte sich. Ihre Verärgerung wich. Ihr Gesicht drückte Verständnis aus. »Ach, ist schon gut.«

Ihre Befragung begann auf der Stelle und dauerte eine Weile.

»Wo haben Sie … Welche Erfahrungen haben Sie mit viralen … Haben Sie irgendwelche Theorien über die Ursprünge … Wie schnell haben Sie gesehen, dass … Woher glauben Sie, kriegen sie ihre …«

Als Will auf Janets Schulter klopfte und Brickers inquisitionsartiges Verhör unterbrach, war sie erschöpft. Es handelte sich eigentlich eher um ein Mörder-Brettspiel.

»Wer ist Ihr Freund, Miss Grisham?«

»Missis, wenn ich bitten darf«, sagte Janet. »Das ist Mister Grisham. Könnte aber sein, dass Sie ihn William nennen dürfen.«

Bricker streckte schwerfällig die Hand aus, um Will zu begrüßen. Will packte sie mit der Kraft eines Schraubstocks. Janet bemerkte es und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, ein wenig sanfter zu sein.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Doktor. Wollen Sie mir erzählen, warum Sie meine Frau verhören, als wenn sie ’ne Terroristin wäre?«

»Ähm … tja … also … Verstehen Sie bitte … Bitte verstehen Sie, dass ich der einzige Arzt an Bord bin. Auswahlmöglichkeiten haben wir jetzt nicht mehr, Mister Grisham.«

»Nennen Sie mich William.«

»Danke, William. Wir können uns wohl glücklich schätzen, dass wir Mrs. Grisham haben. Oder darf ich Janet sagen?«

Janet nickte zustimmend.

»Ich habe über die Funkanlage des Schiffes begrenzten Kontakt zu Ärzten im Ausland. Leider bin ich, wie gesagt, der einzige Mediziner in dieser schwimmenden Stadt. Ich fürchte, dass Janet, Ihre Frau, an Bord in eine kritische Position gestolpert ist. Sie steht nun auf der Liste der oberste Priorität genießenden, um jeden Preis zu beschützenden und zu verteidigenden Personen. Janet, ich, die Stabsoffiziere, die Nukleartechniker, die Schweißer, Funker und eine Handvoll anderer Besatzungsmitglieder sind für den Erfolg und das Überleben dieses Stützpunktes von absoluter Wichtigkeit.«

Janet ließ seine Aussage eine Weile auf sich wirken, dann fragte sie: »Was genau machen wir hier, Doktor?«

»Meine Befehle sind so einfach gestrickt wie die Offiziere, die dieses Schiff kommandieren: in Erfahrung bringen, was die Toten dazu bewegt, wieder aufzustehen, und eine Methode zu finden, die sie daran hindert. Zumindest soll ich verhindern, dass sich noch mehr von uns anstecken.«

»Wie steht’s um den Gesundheitszustand der Leute an Bord?«, fragte Janet. Das Geschrei der Patienten untermalte ihre Frage.

»Nicht so toll, fürchte ich«, erwiderte Dr. Bricker seufzend. »Laut meinen Berechnungen sind wir weit über den Umkehrpunkt hinaus. Die Menschheit steht am Rande des Abgrunds. Saubere Wissenschaft ist unsere einzige Chance. Hundert Schiffe auf dem Meer, bis an die Zähne bewaffnet und mit genügend Proviant versorgt, würden kaum einen Unterschied bedeuten. Es ist kein Geheimnis, dass diese Dinger uns in den USA millionen- und weltweit gesehen milliardenfach überlegen sind.«