Einundfünfzig

Im Gelben Meer

»Auf Periskoptiefe gehen«, befahl Larsen dem ranghöchsten Unteroffizier an Bord.

»Aye, aye, Captain.«

Nachdem der Befehl an den Steuermann weitergeleitet worden war, begann das Boot knapp unter der Oberfläche des Bohai-Meeres seine Reise in ein ganz bestimmtes Gebiet. Das Periskop war ausgefahren und durchschnitt das Blaugrün des Meeresspiegels. Die hochentwickelten Sensoren der Virginia hatten keinerlei Anzeichen des Überlebens irgendwelcher chinesischer Streitkräfte gezeigt. Falls es noch Überreste ihres Militärs gab, befanden sie sich vermutlich im gleichen Zustand wie das US-Militär – dünn gesät und so gut wie ausgestorben. Commie suchte das Funkspektrum ab. Die einzige chinesische Sendung, die er auffing, war der automatische Ansagedienst des Pekinger Flughafens. Commie meinte, ein Teil des Flughafens müsste mit nachhaltigem Strom betrieben worden sein, wenn die Sendung noch immer lief. Er suchte hektisch und Gelassenheit vortäuschend alle Frequenzen ab und sammelte jeden Informationsfetzen, der zum Erfolg ihres Einsatzes beitragen konnte.

Der Captain blickte durch die Optik des Periskops und nahm eine Einschätzung der Lage auf dem Festland vor.

»Sieht nach einem Haufen untoter Chinesen aus«, sagte er mit einer kalten Zigarre zwischen den Zähnen zum ranghöchsten Unteroffizier.

»Das hätte ich Ihnen auch sagen können, ohne rauszuschauen, Sir.«

»Yeah, da gehe ich jede Wette ein. Kil, sind Sie auch da?«

»Jawohl, Sir«, sagte Kil und trat neben einer Schaltkonsole aus der Dunkelheit hervor.

»Wir könnten vielleicht die Drohnentruppen in Bereitschaft versetzen. Wir brauchen sicher Luftaufklärung der Umgebung und Bilder des Flugplatzes.«

»Ich sage der Mannschaft, sie soll die Vögel startbereit machen. Sonst noch was?«

»Ja, Commander, wenn man es genau nimmt … Ich frage mich, ob Sie sich schon Gedanken über unser letztes Gespräch gemacht haben.«

»Ja, Sir, habe ich. Und ich fürchte, meine Ansichten haben sich nicht geändert.«

Larsen beugte sich zu Kil hinüber. »Es ist eine Schande, dass Rex und Rico allein arbeiten müssen, besonders da sie doch gerade erst Griff und Huck verloren haben. Diese Unternehmung wird sehr schwierig ausfallen. Möchten Sie, dass ich es ihnen sage, oder wollen Sie es selbst tun? Ich würde Sie gern daran erinnern, dass unser Arsenal reichlich bestückt ist und Peking kein Ziel atomarer Waffen war. Bevor alles den Bach runterging, war die Virginia ein auf Sondereinsätze spezialisiertes Schiff. Und das ist sie noch immer.«

»Ich sage es ihnen selbst, Captain.«

»Sehr gut. Ach, noch etwas … Wir haben nun etwas mehr Luftunterstützung für Sanduhr, als man Ihnen anfangs mitgeteilt hat.«

»Was meinen Sie damit?«

»Sollen wir?« Larsen gab Kil mit einer Geste zu verstehen, dass er ihm zum SB folgen sollte.

Sie gingen durch die Tür und waren nun vom Rest des Bootes völlig isoliert. Commie saß neben Commander Monday an seinem Terminal und begutachtete die Ausbeute der Informationen, die er vom Kunia-Einsatz mitgebracht hatte.

Als Kil und Larsen eintraten, leerte er seinen Bildschirm.

»Wir kriegen Luftunterstützung, eine SR-71, und zwar volles Rohr«, sagte Larsen. »Die Augen des Vogels sind viel empfindlicher und decken exponentiell mehr Landmasse ab. Das Team weiß, was auf es zukommt, bevor jedes Etwas zum Faktor wird.«

»Von welchem Flugplatz kommt die Kiste?«, fragte Kil skeptisch. »Wir sind weit von zu Hause weg.«

»Kann ich nicht sagen. Hauptsächlich deswegen, weil ich es nicht weiß.«

»Was ist es für’n Fabrikat?«

»Eine Aurora. Von Lockheed. Eigentlich wird sie anders genannt, aber Aurora ist seit den 1960er-Jahren nun mal die Tarnbezeichnung für alle Lockheed-Überschallprogramme. Die Kiste ist schnell, hat eine komplette Bildaufklärung und erkennt alles, was am Boden rumkriecht. Sie kann einen aus einer Höhe von neunzigtausend plus unterstützen, und das über einen Zeitraum von sechs Stunden.«

»Wenn dieses Ding von den Staaten aus einfliegt, muss es doch irgendwo aufgetankt werden«, sagte Kil. »Wann ist es über uns?«

»Die Notregierung hat vor fünf Tagen übermittelt, dass sie morgen um zehn GMT über uns ist. Das war natürlich, bevor bei uns alle Lichter ausgingen. Irgendwie glaube ich aber nicht, dass es für diesen Vermögenswert ein Faktor sein wird. Was das Betanken angeht, so setzt die Aurora kein JP-5 ein. Wenn Sie mit Rex reden und ihm sagen, dass Sie nicht in seinem Team mitmachen wollen, können Sie ihn auch gleich darüber aufklären.«

»Danke für die Information, Sir.«

»Gern geschehen, Kil.«

Als Kil den Sicherheitsbereich verließ, spürte er Larsens Blick auf seinem Rücken. Der Alte manipulierte ihn, und, verdammt noch mal, es funktionierte.

Kil wanderte durch das lange Unterseeboot nach hinten und dachte über alles nach, was Larsen gesagt hatte. Er wollte Rex und Rico einen kurzen Besuch abstatten. Er klopfte an ihre Tür. Es gefiel ihm nicht, einfach so in ein Quartier einzutreten, wenn es nicht absolut notwendig war.

»Wer ist da?«

Kil erkannte die Stimme hinter der Tür. Rex.

»Kil.«

»Meinst du etwa Commander Kil?«

»Yeah, von mir aus auch der.«

»Tut mir leid, Offiziere haben keinen Zutritt zum Klubhaus.«

Kil beschloss, dennoch einzutreten. »Hört mal, der Captain sagt, dass ihr morgen an Land geht. Wir kriegen Luftunterstützung, und zwar ab zehn Uhr GMT.«

Rex stand auf und wuchtete sein Gewicht von einer dick gepolsterten Koje hoch. »Was ist mit dir?«

»Was meinst du damit?«

Rico öffnete den blauen Vorhang, hinter dem er geschlafen hatte, und schloss sich dem Gespräch an. »Larsen hat heute Morgen gesagt, du hättest beschlossen, dich uns anzuschließen«, sagte er. »Stimmt das?«

»Dieser Hundesohn«, sagte Kil kopfschüttelnd und ballte eine Faust.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Rex. »Larsen spielt auch mit uns. Natürlich könnten wir deine Hilfe gut gebrauchen. Wir haben hier ’n volles Arsenal. Schau mal.« Er zog den Vorhang einer unbenutzten Koje beiseite und deutete auf einen Sturmgewehrstapel. »Nach dem Untergang haben Banden von Plünderern überall im Land militärische Waffenkammern ausgeräumt. Die meisten Regierungswaffen waren absoluter Scheißdreck. Einige Freunde haben uns bei einem unserer Raubzüge an Land geholfen. Sie haben zwei Hubschrauber organisiert, mitten in Texas einen zivilen Hersteller geplündert und das da gefunden.« Er deutete auf einen Stapel schwarzer Gewehre, schnappte sich eines und warf es Kil zu. »Das ist ’ne LaRue 7.62 mit einem Achtzehn-Zoll-Rohr. Das bläst auch bei neunhundert Metern Entfernung jedem den Schädel weg, wenn der richtige Schütze es bedient.«

Das Gefühl, das Sturmgewehr in der Hand zu halten, ließ Kil an Dinge denken, die, wie er meinte, seit Jahren in ihm geschlummert hatten; mindestens seit seinem Exil im von den Untoten beherrschten texanischen Ödland. Das Gewicht der Waffe führte außerdem dazu, dass er sich wie ein robustes Individuum fühlte. Er gab Rex die Waffe zögernd zurück.

»Ich sehe, wie die Räder sich drehen, Kil. Rede mit deinem Freund. Er ist ein verdammt guter Gewehrschütze. Glaub bloß nicht, es wäre Rico und mir in Hawaii nicht aufgefallen.«

»Scheiße, ja, der Typ hat echt was drauf!«, rief Rico von der Koje her. Er hatte einen Stöpsel im Ohr und schnippte zu irgendeiner Melodie mit den Fingern. »Außerdem wissen wir, dass ihr monatelang in der Scheiße überlebt habt. Wir haben das alles gelesen, also erzählt uns nicht, ihr wärt für so etwas nicht ausgebildet worden. In unserer Ausbildung hat keine Sau irgendwelche Zombies erwähnt, also sind wir, glaube ich, in der Hinsicht auch nicht weiter.«

Kil stand eine ganze Weile wie eine Statue da. Er wählte sorgsam seine Worte und sagte dann: »Wir müssen noch heute Abend mit der Einsatzplanung beginnen.«

»Scheiße, ja!«, rief Rico. »Ich hab’s doch gesagt, Rex, der lässt uns nicht hängen!«

Rex warf das Sturmgewehr erneut quer durch den Raum. Kil fing es, ohne mit der Wimper zu zucken, auf. »Auf welchen Namen willst du es taufen, Kil?«

»Ich sag’s euch, wenn wir zurückkommen«, erwiderte Kil ausdruckslos. Er war selbst über seinen Entschluss erschrocken, doch ihm war bewusst, dass er schon vor Tagen seine Wahl getroffen hatte.

»Willst du die Knarre auch bestimmt haben? Da gehen nur Zwanzig-Schuss-Magazine rein. Und sie ist schwer

»Ich will’s mal so ausdrücken: Etwa eines von sechs Dingern, denen ich mit meiner M-4 in die Birne geschossen habe, ist trotzdem weiter auf mich zugekommen. Wer rechnen kann, ist mit der .308 nur fünf Schüsse drunter, und ich garantiere, dass sie das, verdammt noch mal, umhaut. Ich habe gesehen, dass Saien sie aus achthundert Metern Entfernung schlafen gelegt hat. Wenn du mich fragst, ist sie den Munitionsnachteil und das Gewicht wert.«

»Yeah, Rico und ich haben es beim Ausfall aus Kunia auch gesehen. Manche unserer Kugeln sind an Schädeln abgerutscht. Die Biester sind zwar gestolpert und aufs Maul gefallen, aber sie sind wieder aufgestanden und kamen wieder auf uns zu. Das hat uns gar nicht gefallen.«

Kil wandte sich zur Tür um. »Ich rede mit Saien. Wir treffen uns um 20.00 Uhr im SB, damit wir uns einen Spickzettel machen und schauen können, wie die Lage ist.«

»Klingt gut«, sagte Rex. »Bis dahin alles Gute.«

Kil huschte durch die Tür hinaus.