Siebenundvierzig

Seit die USS Virginia die hawaiianischen Gewässer verlassen hatte und Huck die Ehre einer Seebestattung widerfahren war, waren vier Tage vergangen. Larsen ging auf der Brücke auf und ab, und der Bug des Unterseebootes zeigte noch immer nach Westen und China.

Larsen wählte die Funkstation an. Er sprach durchs Interkom. »Irgendwelche Änderungen im Kommunikationsstatus, Kil?«

»Nein, Captain«, sagte Kil. »Noch immer kein Kontakt zum Flugzeugträger. Wir haben eine stabile Verbindung mit Crusow, aber er sagt, er hat den Kontakt zum Flugzeugträger am gleichen Tag verloren wie wir. Ich arbeite an dem Problem. Ich hab zwar keine richtige Familie mehr, aber an Bord sind einige Leute, denen ich mich eng verbunden fühle, sodass ich schon deswegen größtes Interesse habe, sie zu erreichen.« Seine Stimme klang leicht blechern.

»Kommen Sie doch mal zu mir rüber.«

»Schon unterwegs, Captain.«

Kil verließ die Funkbude und rutschte an der Leiter in die Steuerleitzentrale hinab. Seine Theorie sah so aus: Die Funkunterbrechung zum Flugzeugträger hatte mit atmosphärischen Störungen zu tun. Optimistischerweise hatte er ans Sparsamkeitsprinzip appelliert, um den wahrscheinlichsten Grund zurückzuspulen – örtliche Interferenzen oder ein normales technisches Problem. Nichts, worüber man sich ernste Gedanken machen musste. Trotzdem blieb der Fakt, dass auch Crusow am Polarkreis nicht in der Lage war, mit seinem Kurzwellensender Kontakt aufzunehmen.

Bevor Kil sich bei Larsen meldete, machte er einen schnellen Stopp auf der Latrine. Beim Händewaschen schaute er sich im Spiegel an. Ihm war ein beachtlicher Bart gewachsen. Kein afghanischer Häuptlingskinnschmuck, aber doch ansehnlich. Der Captain hatte gesagt, es wäre gut für die Moral, wenn die Männer sich einen Bart wachsen lassen durften. Er selbst wollte unbedingt einen Grizzly-Adams-Bart haben, und wenn er dabei draufging. Bevor sie nach Hause fuhren, wollte er ihn abrasieren.

Tara würde mich umbringen, wenn ich ihr mit so ’nem Ding käme, dachte Kil, als er die Latrine verließ und die letzte Biegung zur Zentrale nahm.

»Melde mich wie befohlen zur Stelle, Capitan«, sagte er, damit der Alte einen Grund zum Lächeln hatte.

»Schenken Sie sich ’ne Tasse Schlamm ein und kommen Sie rüber«, brummte Larsen.

Kil begab sich an den Mini-Bunn und füllte sich eine Tasse ab. Er ließ den Kaffee schwarz und war verdammt froh, dass es überhaupt Kaffee war. Es scherte ihn nicht einmal, dass das Zeug seine Zunge verbrannte, als er einen großen Schluck nahm. Es schmeckte bitter, wie bei der Marine üblich.

»Na schön, Captain, was kann ich für Sie tun?« Kil fügte noch ein respektvolles »Sir« hinzu, für alle Männer in Hörweite.

»Malen Sie mir den schlimmsten Fall aus.« Larsen kam gleich zur Sache.

»Tja, Sir, bevor Sie das gesagt haben, hat mir der Kaffee wirklich geschmeckt, aber jetzt bitten Sie mich, ihn wieder auszuspucken.« Kil trank noch einen Schluck.

»Verdammt, Kil, ich mein’s ernst. Wirklich.«

Kils Körper straffte sich ein wenig; eigentlich hatte er gerade eine Art Tadel vernommen. »Ich vermute, Sie meinen, was schlimmstenfalls an Bord des Flugzeugträgers passiert sein könnte. Das ist schnell gesagt. Die Untoten haben es erobert. Nachdem ich Ihre Frage beantwortet habe, gehe ich recht in der Annahme, dass Sie auch den allerbesten Fall hören möchten?«

Larsen nickte.

»Wir haben es mit atmosphärischen Störungen zu tun, die eine Verständigung verunmöglichen oder dafür sorgen, das unsere hiesigen Gerätschaften Schwierigkeiten haben, sich mit denen am anderen Ende zu verständigen. Dass unsere Geräte in Ordnung sind, wissen wir. Bei jedem Auftauchen konnte ich Crusow erreichen. Und er hört uns ebenso deutlich.«

»Reden Sie weiter.«

»Das ist das, was wir wissen. Die Kommunikation mit dem Flugzeugträger ist unterbrochen; wir konnten keine unserer tertiären HF-Frequenzen erfolgreich einsetzen. Wir können beweisen, dass unsere Apparate bestens in Schuss sind.«

Larsen nickte zustimmend.

»Wir wissen, dass Crusows Funkgerät funktioniert. Wir wissen noch etwas anderes, etwas, an das Sie vielleicht noch gar nicht gedacht haben: Die Kampfgruppe Phoenix im Hotel 23 ist in gewisser Hinsicht ein Bestandteil unserer Bestrebungen. Sie hat nur eine Fernverbindung zum Flugzeugträger. Wenn er gekapert wurde oder seine Funkstation im Eimer ist, gibt Phoenix den Löffel ab. Der momentane Status des Flugzeugträgers ist uns nicht bekannt. Der meiner Meinung nach einfachste Grund für das Verständigungsproblem ist zugleich auch der wahrscheinlichste, und das sind nun mal atmosphärische Interferenzen. Die wahrscheinlichste Erklärung sind Störungen des Sonnenfleckenzyklus.«

Larsen lehnte sich auf seinem Sitz zurück und verarbeitete das Gehörte. »Was wissen Sie über Phoenix?«, fragte er zögernd.

»Ich weiß, dass der Admiral mir vor unserem kleinen Ausflug befohlen hat, Informationen zu beschaffen, die ihn unterstützen, und das, was von meiner Familie noch übrig ist sowie meine nunmehr schwangere Freundin auf einem Flugzeugträger zurückzulassen, der seit achtundvierzig Stunden nichts mehr von sich hören lässt. Ich weiß auch, dass ich meine ID-Karte abgeben musste, die einzige Karte, mit der man die letzte im Hotel 23 befindliche Atomrakete aktivieren kann, die noch in einem Silo vorhanden ist.«

»Registriert«, sagte Larsen. »Folgen Sie mir.«

Kil folgte Larsen in seine Kabine, deren Tür er hinter sich zumachte.

»Ich erspare mir alle Umschweife. Phoenix wurde ausgesandt, um als Killschaltung für das Sanduhr-Unternehmen zu fungieren. Für den Fall, dass auf dem Stützpunkt der Chinesen alles in die Hose geht, soll Hotel 23 einen Angriff gegen ihn fahren und alles gefährliche Material oder biologische Leben vernichten, das sich dort befindet.«

»Was?!«, rief Kil. »Hat die Führung aus dem ersten Mal gar nichts gelernt? Auf Oahu haben wir doch gesehen, was die Strahlung aus denen und uns macht!«

»Regen Sie sich ab, Commander. Man wird Phoenix doch nicht befehlen, die Rakete zu starten, um Untote auszuschalten. Dass das nicht funktioniert, wissen wir. Der Befehl hat den Zweck, die totale Vernichtung des chinesischen Stützpunktes zu bewirken, ihn zu neutralisieren, wenn wir nicht erfolgreich sind.«

»In Ordnung«, sagte Kil. »Aber warum haben Sie uns das nicht sofort gesagt? Und zweitens: Wie lautet Ihre Definition von Erfolg?«

»Ich hab’s Ihnen aufgrund anderweitiger Befehle verschwiegen. Und zweitens: Erfolg ist laut meiner Definition das Auffinden und die Bergung von Patient Null, der auch als CHANG bekannt ist.«

»Aber warum? Ich verstehe nicht den Stellenwert des Auffindens dieses … was es auch ist, vorausgesetzt, das Scheißding existiert überhaupt. Bis jetzt habe ich nur ein paar alte Schwarz-Weiß-Fotos von einem Absturzort, ein paar Hundert streng geheime PowerPoint-Fotos und andere heftig zensierte dienstliche Dokumente gesehen.«

»Das ist eine gute Frage, Commander. Aber das, was ich von der Notregierung bis jetzt zu hören bekommen habe, zuzüglich der davor empfangenen Kamin-Funksprüche der militärischen Führung, hat mich einigermaßen gläubig werden lassen. Wenn wir das Exemplar bergen können, können wir, sagen die Wissenschaftler der Notregierung, vielleicht etwas entwickeln. Einen Impfstoff oder dergleichen. Der würde zwar auch keine anstehenden Probleme lösen, aber es wäre immerhin schön zu wissen, dass ein Kratzer oder Biss nicht automatisch ein Todesurteil ist.«

Kil empfand Larsens Worte als frustrierend, unterließ es aber, nach CHANG zu fragen. Er wollte gar nichts wissen. Der Gedanke an Johns kryptische Botschaft hätte seine Meinung beinahe geändert, doch er riss sich am Riemen und übte sich in Geduld. Er wartete darauf, dass Larsen fertig wurde, damit er ans Funkgerät zurückkehren und sich seiner Arbeit widmen konnte.

»Sie wissen, dass wir zwei Sonderagenten in Hawaii verloren haben?«, sagte Larsen.

»Ja, natürlich weiß ich es. Ich habe gesehen, wie der eine sich in die Luft gesprengt hat und der andere, in ein Laken gewickelt, ins Meer geworfen wurde. Warum fragen Sie?«

»Ich will damit nur sagen, dass das Team nur noch aus zwei Mann besteht und wir bald im Bohai-Meer sind und den Fluss hinauffahren«, verkündete Larsen so zögerlich, als könnte jede Abschwächung dessen, was er zu sagen hatte, nur noch Schlimmeres bewirken.

»Nein!«, stieß Kil jäh hervor.

»Hören Sie mich doch erst mal an.«

»Scheiße, nein. Ich bin kein Mann für Sondereinsätze. Ich habe das letzte Jahr auf der Flucht ganz knapp überlebt, weil ich wie ein Irrer auf dem Kontinent herumwuselte. Wenn Sie wollen, dass ich mal eben so mit Rex und Rico losziehe, verlangen Sie zu viel. Habe ich nicht gerade erzählt, dass ich ein paar Tausend Kilometer weit im Osten eine Frau habe, die ich liebe, und dass wir ein Kind erwarten?«

»Haben Sie.«

»Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, dass ich die beiden vielleicht gerne wiedersehen möchte?«, schrie Kil.

»Immer mit der Ruhe, Commander. Denken Sie doch mal kurz darüber nach. Wollen Sie, dass Ihr Kind in dieser beschissenen Welt aufwächst? Stellen Sie sich folgende Frage: Wäre es nicht besser dran, wenn es aufwachsen könnte, ohne in der Furcht leben zu müssen, für den Rest seines Lebens Angst vor Untoten zu haben? Ich sage ja nicht, dass wir alles wieder in Ordnung bringen. Ich sage nur, dass wir vielleicht eine Chance haben. Denken Sie darüber nach – eine Chance.«

»Ist das …«

»Ja, das ist alles. Sie können gehen.«

Kil verließ Larsens Kabine und fragte sich: Wie blöd müsste ich sein? Eines wusste er. Der Admiral war davon ausgegangen, dass die Kampfgruppe Sanduhr Männer verlor. Und er hatte damit gerechnet, dass Larsen ihm diesen Scheiß auf dem letzten Stück der Reise um die Ohren hauen würde. Bald erreichten sie ehemals chinesische Gewässer. Die Virginia bewegte sich pfeilschnell dahin.

Kil warf einen Blick auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass sie bald auftauchen würden, um eine kurze Überprüfung der Verständigungslage vorzunehmen. Der einziehbare Längstwellen-Langdraht des U-Bootes war ohne fliegende Relaisstation unnütz, weswegen man sich nur aufgetaucht verständigen konnte. Kil spürte, dass der Bug sich hob, und er marschierte bergauf durch den Gang, um in der Funkbude seinem Dienst nachzugehen.

Heute würde er die USS George Washington nicht erreichen.