Neunundzwanzigstes Kapitel
Ich bummelte noch einen Tag durch Glasgow. Weniger, weil ich dort noch länger verweilen wollte, als vielmehr, weil Sonntag war und ich nicht nach Hause fahren konnte. Denn die Züge fuhren nur bis Carlisle. (Im Winter verkehrt sonntags kein Zug zwischen Settle und Carlisle, weil es keinen Bedarf dafür gibt. British Rail scheint noch nicht auf die Idee gekommen zu sein, daß es vielleicht deshalb keinen Bedarf gibt, weil er nicht fährt.) Ich streifte kreuz und quer durch die winterlichen Straßen, schaute mir voller Hochachtung die Museen, den Botanischen Garten und die Nekropolis an, aber eigentlich wollte ich nur nach Hause, was sicher verständlich ist. Ich vermißte meine Familie, mein Bett, und außerdem muß ich, wenn ich bei mir zu Hause herumlaufe, nicht auf Schritt und Tritt aufpassen, daß ich nicht in Hundescheiße und Kotzelachen trete.
Am folgenden Morgen bestieg ich also ganz aufgeregt den 8.10-Uhr-Zug von Glasgow-Central nach Carlisle und nahm dort nach einer belebenden Tasse Kaffee im Bahnhofsimbiß den 11.40 Uhr nach Settle.
Die Strecke von Settle nach Carlisle ist die berühmteste Nebenstrecke der Welt. British Rail will sie seit Jahren stillegen, weil sie sich angeblich nicht trägt. Kann man sich ein verrückteres, groteskeres Argument vorstellen?
Diese abartige Begründung hören wir nun schon so lange bei so vielen Dingen, daß sie mittlerweile keiner mehr in Frage stellt. Aber wenn man auch nur einmal eine Nanosekunde darüber nachdenkt, tragen sich die meisten lohnenswerten Sachen nicht einmal in Ansätzen, und folgt man der absurden Logik noch ein Stückchen weiter, müßte man Ampeln abschaffen, Rastplätze, Schulen, die Kanalisation, Nationalparks, Museen, Universitäten, alte Menschen und jede Menge sonst. Warum, um alles in der Welt, sollte etwas so Nützliches wie eine Eisenbahnlinie, die im allgemeinen viel netter ist als alte Menschen und gewiß weniger meckert und schwafelt, auch nur im geringsten ihre Rentabilität beweisen müssen, um ihre Existenz zu sichern?
Nachdem ich das gesagt habe, kann ich aber auch nicht leugnen, daß die Strecke Settle-Carlisle schon immer etwas Groteskes hatte. Als sich James Allport, der Direktor der Midland Railway, im Jahre 1870 darauf versteifte, eine Eisenbahnstrecke nach Norden zu bauen, gab es schon eine an der Ostküste und eine an der Westküste, also beschloß er, eine in der Mitte hochzuverlegen, selbst wenn sie eigentlich von Nichts nach Nirgendwo über Garnichts führte. Das Ding kostete 3,5 Millionen Pfund, was heute wenig klingt, aber die phantastische Summe von 487 Trillionen Milliarden oder so was in dem Dreh ausmachen würde. Es war jedenfalls so viel, daß jeder, der auch nur ein bißchen was von Eisenbahnen verstand, zu der Überzeugung kam, daß Allport total meschugge war – war er ja auch.
Weil die Strecke durch ein irrsinnig rauhes, unwirtliches Stück der Pennines verlaufen sollte, mußten Allports Ingenieure alle möglichen Großtaten vollbringen, zum Beispiel zwanzig Viadukte und zwölf Tunnels bauen lassen. Also bitte, hier fuhr keine exzentrische Schmalspurbimmelbahn, hier fuhr der Intercity Rapid des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem die Reisenden über die Yorkshire Dales fliegen konnten – das heißt, wenn sie gewollt hätten. Aber keiner wollte.
Es war also von Anfang an verlorenes Geld. Sei’s drum. Es ist eine rundum tolle Strecke, und ich war wild entschlossen, jede Minute meiner eine Stunde und vierzig Minuten und 71% Meilen langen Fahrt auszukosten. Selbst wenn man in Settle und Umgebung wohnt, findet man nicht oft einen Grund, mit dieser Bahn zu fahren, also preßte ich das Gesicht an die Scheibe und wartete neugierig auf die berühmten Wahrzeichen – Blea Moor Tunnel, etwas über anderthalb Meilen lang; Dent Station, den höchstgelegenen Bahnhof im Land; das ruhmreiche Ribblehead-Viadukt, eine Viertelmeile lang, 31,70 Meter hoch und aus vierundzwanzig eleganten Bögen bestehend. Dazwischen genoß ich die Landschaft, die nicht nur einzigartig grandios ist, sondern mich auch absolut in ihren Bann schlug.
Wahrscheinlich findet ja jeder irgendwo ein Stückchen Erde jenseits aller Beschreibung faszinierend, und bei mir sind es die Yorkshire Dales. Letztendlich kann ich es nicht erklären, denn es gibt selbst in Großbritannien weit eindrucksvollere Landschaften. Aber seit ich die Dales zum erstenmal gesehen habe, bin ich hilflos in sie vernarrt, und sie lassen mich nicht los. Zum Teil liegt es sicher an dem aufregenden Kontrast zwischen den hohen Berghängen mit ihren grenzenlosen Ausblicken und der Üppigkeit der Täler mit ihren gemütlichen Dörfern und grünen Bauernhöfen. Fast überall in den Dales bewegt man sich zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Bereichen. Man kann es wirklich nicht in Worte fassen, so wundervoll ist es. Und dann liegt es natürlich an der behaglichen Atmosphäre der Abgeschlossenheit, die die Berge ringsum vermitteln, dem Gefühl, der Rest der Welt ist weit weg und unerheblich, was man sehr zu schätzen lernt, wenn man hier lebt.
In außergewöhnlichem Maße ist jedes Dale eine eigene kleine Welt für sich. Ich weiß noch, als wir neu in unserem Tal waren, krachte es in der Straße vor unserem Tor einmal furchterregend, und man hörte Metall scheppern. Ein Auto hatte sich überschlagen. Die Fahrerin war gegen eine Grasböschung geknallt und dann gegen eine Feldmauer gefahren. Das Auto lag auf dem Dach. Ich rannte hinaus und fand eine Frau aus dem Dorf, die verkehrt herum in ihrem Sicherheitsgurt ging, ruhig aus einer Kopfwunde blutete und benommen vor sich hinmurmelte, von wegen, so ginge das ja wohl nicht, sie müßte jetzt zum Zahnarzt. Während ich herumsprang und Hyperventiliergeräusche von mir gab, kamen zwei Farmer in einem Land-Rover und stiegen aus. Sie hievten die Dame vorsichtig aus dem Auto und setzten sie auf einen Stein. Dann stellten sie das Auto wieder richtig hin und schafften es aus dem Weg. Während der eine die Verletzte wegführte, damit sie eine Tasse Tee bekam und seine Frau sich um die Kopfwunde kümmerte, streute der andere Sägemehl auf die Öllache, regelte den Verkehr so lange, bis die Straße wieder völlig frei war, blinzelte mir zu, stieg in seinen Land-Rover und fuhr weg. Das alles ging in weniger als fünf Minuten und ohne Polizei, Krankenwagen oder Arzt vonstatten. Etwa eine Stunde später kam jemand mit einem Traktor, schleppte das Auto ab, und es war, als sei nie etwas geschehen.
In den Dales gehen die Menschen nämlich anders an die Dinge heran. Zum einen kommen Bekannte direkt ins Haus. Manchmal klopfen sie einmal und rufen »Hallo!«, bevor sie den Kopf zur Tür hineinstecken, aber oft verzichten sie darauf. Es ist schon eine ungewöhnliche Erfahrung, in der Küche am Spülbecken zu stehen, angeregt mit sich selbst zu reden, mit abgewinkeltem Bein einen ziehen zu lassen und sich dann umzudrehen und einen Stapel Post auf dem Küchentisch vorzufinden. Und wie oft habe ich jemanden kommen gehört, bin in Unterhosen in die Speisekammer geflitzt, habe dort gekauert und nicht zu atmen gewagt, während der Besucher rief: »Hallo! Hallo! Jemand zu Hause?«
Ein paar Minuten trampelt er dann noch in der Küche herum, liest die Zettel auf dem Kühlschrank und hält die Post ans Licht, bevor er schließlich an die Speise-kammertür kommt und leise sagt: »Ich nehme sechs Eier, Bill – geht das in Ordnung?«
Als wir Freunden und Kollegen in London verkündeten, daß wir in ein Dorf in Yorkshire zögen, machten überraschend viele ein komisches Gesicht und sagten (sinngemäß): »Yorkshire? Was, zu den Menschen dort oben? Wie überaus … interessant.«
Ich habe nie verstanden, warum die Menschen in Yorkshire den schrecklichen Ruf haben, engstirnig und hartherzig zu sein. Ich habe sie immer als anständig und offen erlebt, und wenn man wissen will, was man für Fehler hat, findet man nirgendwo auskunftsbereitere Menschen. Es stimmt, sie erdrücken einen nicht gerade mit Liebe, was ein bißchen gewöhnungsbedürftig ist, wenn man aus einem geselligeren Teil der Welt stammt, also von überall sonst her. Zieht man im amerikanischen Mittelwesten, wo ich herkomme, neu in ein Dorf oder eine kleine Stadt, strömen alle nur so herbei, um einen willkommen zu heißen, als sei das der glücklichste Tag in der Geschichte der Gemeinde – und alle bringen einen Kuchen mit. Man kriegt Apfelkuchen, Kirschkuchen und Schokoladen-Sahne-Torte. Im Mittelwesten gibt es Leute, die ziehen alle sechs Monate um, nur um in diesen Genuß zu kommen.
In Yorkshire würde das nie passieren. Aber allmählich, ganz langsam, finden die Bewohner in ihrem Herzen ein Eckchen für den Neuankömmling und beginnen, ihn mit etwas, das ich Malhamdale-Winken nenne, zu begrüßen, wenn sie vorbeifahren. Das ist ein aufregender Tag im
Leben des Zugereisten. Wenn Sie wissen wollen, wie das Malhamdale-Winken geht, tun Sie bitte einen Moment so, als hätten Sie ein Steuerrad in der Hand. Nun strecken Sie den Zeigefinger Ihrer rechten Hand ganz langsam aus, als hätten sie einen kleinen, unwillkürlichen Krampf. Das war’s. Es sieht nicht nach viel aus, aber es spricht Bände, glauben Sie mir. Ich werde es schmerzlich vermissen.
In solcherlei Tagträumereien versunken, erwachte ich mit einem Ruck und merkte, daß ich schon in Settle war und meine Frau mir vom Bahnsteig aus zuwinkte. Plötzlich war meine Reise zu Ende. In einiger Verwirrung und als habe man mich mitten in der Nacht wegen eines Notfalls geweckt, eilte ich aus dem Zug und hatte das Gefühl, so dürfe die Reise nicht enden. Es war alles zu abrupt.
Über die Berggipfel fuhren wir nach Hause, eine sechs Meilen lange, kurvenreiche Fahrt von unsäglicher Schönheit, hoch hinauf in die Sturmhöhen-Weiten um Kirkby Fell mit unendlichen Ausblicken und dann hinunter in die heitere, herrliche Talschüssel des Malhamdale, der kleinen versunkenen Welt, die sieben Jahre lang meine Heimat gewesen war. Auf halbem Weg nach unten bat ich meine Frau, an einem Weidengatter anzuhalten. Dort ist mein Lieblingsblick auf der ganzen Welt. Ich stieg aus. Man sieht fast das gesamte Malhamdale, behaglich geschützt von steilen, eindrucksvollen Bergen, mit den schnurgeraden Bruchsteinmauern, die sich unglaublich kühne Hänge hochziehen, den kleinen Weilern, dem wunderschönen, zweiräumigen Schulhaus, der alten Kirche mit den Ahornbäumen und kippenden Grabsteinen, dem Dach meines Pubs, und mitten drin, von Bäumen verdeckt, unser altes Steinhaus, das schon viel älter ist als mein Heimatland.
Es sah so friedlich und schön aus, daß ich hätte weinen mögen, und dennoch war es nur ein winziger Teil dieser kleinen, bezaubernden Insel. In einem einzigen Moment begriff ich plötzlich, was ich an Großbritannien so liebe – alles. Jedes kleinste bißchen, das Gute und das Schlechte. Dorffeste, enge Landstraßen, Leute, die »Es tut mir furchtbar leid, aber« sagen, und solche, die sich bei mir entschuldigen, wenn ich sie achtlos mit dem Ellenbogen k.o. schlage, Milch in Flaschen, weiße Bohnen auf Toast, Heuernte im Juni, Brennesseln, Piers in Seebädern, topographische Karten, obligatorische Wärmflaschen, vernieselte Sonntage – jedes kleinste bißchen.
Was für ein herrliches Land – total bekloppt natürlich, aber über alle Maßen hinreißend. Wo sonst würde man Ortsnamen wie Tooting Bec und Farleigh Wallop aushecken oder ein Spiel wie Cricket, das drei Tage dauert und nie anzufangen scheint. Wer würde es nicht im geringsten komisch finden, daß die Richter kleine Mops auf dem Kopf tragen müssen, der Sprecher des Oberhauses auf einem mit Wolle ausgestopften Kissen sitzen muß, das Woolsack heißt, oder daß man stolz auf einen Kriegshelden ist, dessen letzter Wunsch es war, von einem Burschen namens Hardy geküßt zu werden. (»Bitte, Hardy, richtig auf die Lippen mit einem winzigen bißchen Zunge.«) Welche andere Nation der Welt hätte uns William Shakespeare, Schweinepastete, Christopher Wren, Windsor Great Park, die Open University und den Schokoladenvollkornkeks geschenkt? Keine natürlich.
Wie leicht gerät uns das alles aus dem Blick. Vor welche Rätsel wird Großbritannien die Historiker stellen, wenn sie auf die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückblicken. Hier ist ein Land, das einen anständigen Krieg gekämpft und gewonnen, ein riesiges Empire prinzipiell vernünftig und aufgeklärt demontiert, einen weitsichtigen Sozialstaat geschaffen, kurz, fast alles richtig gemacht hat – und dann den Rest des Jahrhunderts damit verbringt, sich selbst als chronischen Versager zu betrachten. Tatsache ist, für die meisten Dinge ist es immer noch das beste Land der Welt – um einen Brief aufzugeben, einen Spaziergang zu machen, fernzusehen, ein Buch zu kaufen, auf einen Drink auszugehen, ein Museum zu besuchen, was auf der Bank zu erledigen, sich zu verirren, Hilfe zu suchen oder an einem Berghang zu stehen und den Ausblick zu genießen.
Das alles begriff ich in der Spanne eines langen, innigen Augenblicks. Ich habe es schon gesagt und kann es nur wiederholen: Mir gefällt es hier. Es gefällt mir hier besser, als ich Ihnen sagen kann. Ich ging von dem Gatter weg und stieg ins Auto und wußte, daß ich garantiert zurückkommen würde.