Vierzehntes Kapitel
Ich fuhr nach Milton Keynes, weil ich meinte, ich sollte mir auf dieser Reise zumindest eine neue Stadt anschauen. Von Oxford nach Milton Keynes zu fahren, ist nicht einfach, obwohl es nur ein Katzensprung ist. Ich hatte es als Zielort ausgewählt, weil ich nach einem schnellen Blick auf die Straßenkarte annahm, daß ich schlimmstenfalls einen Zug nach Bicester oder sonst einem Kaff nehmen und dort nach Milton Keynes umsteigen müßte. Denkste! Ich mußte ganz zurück nach London, eine U-Bahn nach Euston besteigen und von dort mit dem Zug hinfahren – alles in allem ein Trip von etwa 120 Meilen, nur um von einer Stadt in eine 30 Meilen entfernte andere zu gelangen.
Es war teuer und zeitraubend, und am Ende war ich ziemlich stinkig, nicht zuletzt deshalb, weil der Zug von Euston sehr voll war und ich einer unentwegt nörgelnden Frau mit ihrem zehnjährigen Sohn gegenübersaß, der mir immer, wenn er mit den Füßen baumelte, gegen das Schienbein trat und mich ärgerte, indem er mich mit Schweinchenaugen anstarrte und sich dabei in der Nase bohrte und die Popel aß. Offenbar betrachtete er seine Nase als Privatimbißbude. Ich versuchte mich in ein Buch zu vertiefen, merkte aber, wie ich unwillkürlich immer wieder aufschaute. Mit selbstgefälligem Blick und fleißigem Finger schaute er mich an. Es war richtig widerwärtig, und als der Zug endlich in Milton Keynes einfuhr, freute ich mich sehr, daß ich meinen Rucksack vom Gepäckträger holen und ihm dabei über den Schädel ziehen konnte.
Ich haßte Milton Keynes nicht sofort; zu weiteren Hoffnungen aber berechtigt die Stadt nicht. Wenn man aus dem Bahnhof auf einen großen offenen Platz tritt, der auf drei Seiten von Spiegelglasbauten gesäumt wird, bekommt man sofort ein Gefühl von Weite, das man so gut wie nie in englischen Städten hat. Die Stadt selbst steht am Hang eines kleinen Hügels fast einen Kilometer entfernt, jenseits eines Geflechts von Fußgängertunneln und einer riesigen Rasen- und Asphaltfläche, die vermutlich von Backstein-bürogebäuden mit Kupferfenstern zugestellt sein wird, wenn ich mal wieder hier vorbeikomme.
In vielerlei Hinsicht war Milton Keynes aber besser als die mir bekannten modernen Städte. Die Unterführungen waren mit poliertem Granit verblendet und weitgehend frei von Graffiti und den nie austrocknenden trüben Pfützen, die man in Basingstoke und Bracknell offenbar gleich mitentworfen hat. Faszinierend war der Stilmischmasch. Die graslosen, schattigen Mittelstreifen der Hauptboulevards gaben der Stadt ein vages französisches Aussehen. Die Leichtindustrieparks mit den Grünflächen am Stadtrand sahen deutsch aus. Das Straßennetz und die numerierten Straßennamen erinnerten an Amerika. Die Häuser waren nullachtfünfzehn, wie die an jedem internationalen Flughafen. Kurz und gut, es sah alles andere als englisch aus.
Am komischsten war, daß es keine Geschäfte gab und kein Mensch draußen herumlief. Ich ging ein ganzes Stück durch die Stadtmitte, eine Allee hinauf, eine andere hinunter und durch die finsteren Straßen, die sie verbanden. Jeder Parkplatz war voll, und hinter den Bürofenstern gab es Zeichen von Leben, doch kaum Durchgangsverkehr und nie mehr als ein oder zwei Fußgänger auf den endlosen, breiten Straßen. Ich wußte, irgendwo verbarg sich ein riesiges Einkaufszentrum, denn ich hatte davon gelesen, aber ich konnte es ums Verrecken nicht finden. Ich fand ja nicht einmal jemanden, den ich fragen konnte. Und blöderweise sahen fast alle Häuser aus wie Einkaufszentren. Immer wieder erspähte ich potentielle Kandidaten, doch wenn ich dann hinging, um es mir genauer anzuschauen, war es nur die Hauptverwaltung einer Versicherung oder so was.
Schlußendlich landete ich in einem Wohngebiet mit endlosen, adretten gelben Backsteineigenheimen. Es war aber immer noch kein Mensch in Sicht. Als ich dann vom Gipfel eines Hügels blaue Dachflächen etwa einen Kilometer entfernt erspähte, schloß ich messerscharf, das ist’s, und zog los. Die Fußgängerwege, die ich zuerst ganz nett gefunden hatte, wurden allmählich zum Ärgernis. Sie führten in aller Seelenruhe durch tiefe Durchstiche, und obwohl sie hübsch angelegt waren, vermittelten sie einem doch das Gefühl, daß sie es nicht eilig hatten, einen irgendwohin zu führen. Ganz offenbar waren sie von Experten geplant worden, die das Ganze für eine flotte Fingerübung am Reißbrett gehalten hatten. Die Routen verliefen umständlich und scheinbar immer ziellos, was auf Papier bestimmt gut aussah, aber nicht berücksichtigte, daß die Leute die weite Distanz zwischen den Häusern und den Läden gewiß doch auf einigermaßen direktem Wege überwinden wollten. Noch schlimmer war das Gefühl der Verlorenheit in einer halbunterirdischen Welt, die von sichtbaren Anhaltspunkten abgeschnitten war. Ich krabbelte häufig an Böschungen hinauf, um zu sehen, wo ich war, mußte aber immer wieder feststellen: nirgendwo auch nur in der Nähe dessen, wo ich hinwollte.
Schließlich fand ich mich am Ende einer dieser Kletterpartien grummelnd an einer vielbefahrenen, zweispurigen Landstraße direkt gegenüber der blauüberdachten Fläche wieder, die ich seit einer Stunde suchte. Ich konnte Schilder von Texas Homecare, McDonald’s und anderen solchen Läden sehen. Aber als ich zu dem Fußgängerweg zurückging, vermochte ich auch nicht einmal in Ansätzen herauszufinden, wie ich dorthin kam. Die Pfade verzweigten sich in einer Vielzahl von Richtungen, verschwanden hinter künstlich angelegten Kurven, von denen bei näherem Hinschauen keine auch nur halbwegs so aussah, als ob sie was brächte. Zum Schluß folgte ich einem schrägen Pfad hoch zurück auf Straßenniveau, wo ich wenigstens erkennen konnte, wo ich war, und ging von dort den ganzen Weg zurück zum Bahnhof, der nun so absurd weit weg von den Wohnsiedlungen wirkte, daß nur ein ausgemachter Schwachkopf auf den Gedanken kommen konnte, Milton Keynes sei ein Paradies für Flaneure. Kein Wunder, daß mir den ganzen Morgen kein einziger Fußgänger begegnet war.
Ich erreichte den Bahnhof weit müder, als ich nach der zurückgelegten Strecke hätte sein müssen, und lechzte nach einer Tasse Kaffee. Draußen hing ein Stadtplan, den ich vorher nicht bemerkt hatte. Als ich ihn nun studierte, weil ich unbedingt wissen wollte, wo das Einkaufszentrum war, erwies sich, daß ich ungefähr dreißig Meter davon entfernt gewesen war, als ich den Stadtkern zuerst erkundet, das Gesuchte jedoch nicht erkannt hatte.
Ich seufzte, empfand aber immer noch ein unerklärliches Verlangen, diesen Ort zu sehen. Während ich also zurück durch die Fußgängerunterführungen, über den großen Parkplatz und wieder durch das leblose Ensemble der Bürogebäude eilte, fiel mir auf, was für eine herausragende planerische Leistung darin steckt, auf einem leeren Blatt Papier und mit den schier unbegrenzten Möglichkeiten, eine Modellstadt zu errichten, das Einkaufszentrum ausgerechnet eine Meile vom Bahnhof anzulegen.
Sie werden’s mir nicht glauben, aber das Ding war noch schlechter geplant als die Stadt darum herum. Es war absolut riesig – ca. 100000 Quadratmeter –, und jede Ladenkette, die es je gab oder geben wird, war mit einer Filiale darin vertreten. Wenn ich es – fix und fertig, wie ich war – nicht übersehen habe (was ich aber nicht glaube), gab es keinen Lebensmittelladen, keinen zentralen Treffpunkt, nichts Großartiges zum Sitzen, rein gar nichts, das einen angeregt hätte, sich für dieses Ding auch nur im geringsten zu erwärmen. Es war, als wäre man im größten Busbahnhof der Welt. Toiletten waren Mangelware und schwer zu finden und folglich so rammelvoll, als sei Halbzeit bei einem Fußballspiel. Ich hatte Metro Centre in Gateshead immer für das grausigste seiner Art gehalten, aber verglichen mit dem Einkaufs-Zentrum in Milton Keynes ist es ein Ausbund an Charme und nicht enden wollendem Entzücken.
Ich begab mich auf einen Kaffee in das schmuddeligste McDonald’s, das ich je zu beehren hoffe. Nachdem ich mir in der Mülldeponie, die meine Vorgänger auf dem Tisch eingerichtet hatten, etwas Platz verschafft hatte, nahm ich mit meinem Eisenbahnfahrplan und der dazugehörigen Streckenkarte Platz. Helle Verzweiflung ergriff mich, als ich entdeckte, daß meine einzigen Alternativen darin bestanden, zurück nach London oder weiter nach Rugby, Coventry oder Birmingham zu fahren. Zu nichts verspürte ich Lust. Es schien, als sei es Tage und nicht erst Stunden her, daß ich mein Mietauto in Oxford abgegeben hatte und zum Bahnhof gegangen war, mit dem schlichten Vorhaben, von Oxford nach Cambridge zu reisen und Mittagspause in Milton Keynes zu machen.
Die Zeit zerrann mir unter den Fingern. In einem entfernten, fast vergessenen Leben hatte ich an einem Küchentisch in einem Haus in Yorkshire gesessen und mir ausgerechnet, daß ich das ganze Land bequem in sechs, allerhöchstens sieben Wochen bereisen konnte, und sogar hochtrabende Pläne gehegt, praktisch alles zu erkunden – die Kanalinseln, Lundy, die Shetlands, Fair Isle und dazu alle Großstädte. Ich hatte John Hillabys Journey through Britain gelesen, und er war in acht Wochen von Land’s End bis John O’Groats gelaufen.
Mit Hilfe pfeilschneller, moderner öffentlicher Verkehrsmittel konnte ich doch sicher das meiste von Großbritannien in sechs bis sieben Wochen sehen. Aber hier saß ich, hatte schon beinahe die Hälfte der mir zur Verfügung stehenden Zeit verbraucht und war nicht einmal bis zu den Midlands vorgedrungen.
Reichlich niedergeschlagen sammelte ich also meine Sachen ein, lief zum Bahnhof und nahm einen Zug zurück nach London, wo ich wirklich wieder ganz von vorn begann. Mir fiel nicht ein, wo ich hinfahren sollte, also tat ich, was ich oft tue. Während der Zug durch die sanft gewellten, herbstkahlen Felder Buckinghamshires rollte, breitete ich eine Karte aus und vertiefte mich in die Namen. Für mich eine der tiefen, ewigen Wonnen des Lebens in Großbritannien.
Ich frage mich, ob andere Menschen auch merken, wieviel vergleichsweise größeres Vergnügen es bereitet, in einem Pub namens The Eagle and Child oder Lamb and Flag zu trinken, als sagen wir, in Joe’s Bar. Ich persönlich finde endlose Befriedigung darin. Ich lausche auch für mein Leben gern den Fußballergebnissen und dem einlullenden Verlesen von Mannschaftsnamen – Sheffield Wednesday, West Bromwich Albion, Partick Thistle, Queen of the South; welch Ruhm und Ehre stecken in den Namen –, und ich finde seltsamen Trost in der exotischen, rätselhaften Litanei der Seewetterberichte. Ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten – »Wiking: auffrischend fünf, rückdrehend vier; Dogger: Starkwind, gleichbleibend beständig, Minches: Sturmstärke zwölf, ach, du liebes Lieschen« –, aber sie üben eine mächtig besänftigende Wirkung auf mich aus. Ich bin felsenfest überzeugt, daß Großbritannien unter anderem deshalb so ein stabiles, anmutiges Land ist, weil die Fußballergebnisse und Seewetterberichte einen derart beruhigenden Einfluß haben.
In so gut wie jedem Bereich des britischen Lebens entdeckt man geniale Namensschöpfungen. Schauen Sie sich doch nur die Gefängnisse an. Sie könnten mich mit einem Stift und einem unerschöpflichen Vorrat an leeren Seiten hinsetzen und mir befehlen, solch liebenswürdig lächerliche Namen für ein Gefängnis zu erfinden wie Wormwood Scrubs oder Strangeways. Niemals würde mir etwas Besseres einfallen. Selbst die gebräuchlichen Namen von wilden Blumen – Sternmiere, Echtes Labkraut, Flohkraut, Frauenminze – besitzen einen Zauber, dem ich mich nicht entziehen kann.
Aber das größte Talent zeigen die Briten natürlich bei Ortsnamen. Von den etwa 30000 ist gut die Hälfte, schätze ich, auffallend hübsch. Es gibt zahllose Dörfer, deren Namen allein schon ein Bild von faulen Sommernachmittagen und über Wiesen flatternden Schmetterlingen heraufbeschwören: Winterbourne Abbas, Western Lullingfields, Theddlethorpe All Saints, Little Missenden. Andere Dörfer scheinen ein uraltes, vielleicht sogar dunkles Geheimnis zu bergen: Husbands Bosworth, Rime Intrinseca, Whiteladies Aston. Und manche Namen klingen wie Toilettenreiniger (Potto, Sanahole, Durno) oder Hautkrankheiten (Scabcleuch, Whiterashes, Scurlage, Sockburn). Bei einem kurzen Blick in ein Ortsverzeichnis finden Sie Düngemittel (Hastigrow), Deos gegen Schweißfüße (Powfoot), Mundwasser (Minto), Hundefutter (Whelpo) und sogar einem schottischen Fleckenentferner (Sootywells). Es gibt Dörfer, denen es vielleicht ein bißchen an der richtigen Einstellung mangelt (Seething, Mockbeggar, Wrangle), und welche mit seltsamen Phänomenen (Meathop, Wigtwizzle, Blubberhouses). Und schier unzählige Namen, die einfach nur liebenswert hirnverbrannt sind – Prittlewell, Little Rollright, Chew Magna, Titsey, Woodstock Slop, Lickey End, Stragglethorpe, Yonder Bognie, Nether Wallop und das unschlagbare Thornton-le-Beans. (Begrabt mich dort!) Ein Blick auf eine Karte oder ein Ortsverzeichnis genügt, und Sie sehen, daß Sie sich in einem Land befinden, in dem alles möglich ist.
Manche Landesteile scheinen sich auf bestimmte Themen zu spezialisieren. Kent hat eine eigentümliche Vorliebe für Nahrhaftes: Ham, Sandwich, Rye. Dorset steht auf Figuren aus Barbara-Cartland-Romanen: Bradford Peverell, Compton Valence, Langton Herring, Wootton Fitzpaine. Lincolnshire tut ja gerade so, als sei es ein bißchen meschugge: Thimbleby Langton, Tumby Woodside, Fishtoft Drove, Sots Hole und das wahrhaft hinreißende Spitall in the Street.
Auffallend ist, wie oft sich diese Orte zusammenballen. In einem eng begrenzten Gebiet südlich von Cambridge finden Sie zum Beispiel: Blo Norton, Rickinghall Inferior, Hellions Bumpstead, Ugley und (einer meiner Lieblinge) Shellow Bowells. Ich verspürte das plötzliche Verlangen, dorthin zu fahren, aber als ich die Karte anschaute, blieb mein Blick an einer Linie quer über der Landschaft hängen, Devil’s Dyke. Davon hatte ich noch nie gehört, aber es klang sehr verheißungsvoll. Spontan beschloß ich, dorthin zu fahren.
Und so geschah es denn, daß ich am nächsten Morgen über eine kleine Straße am Rande des Weilers Reach in Cambridgeshire wanderte. Es war ein häßlicher Tag.
Saunaschwaden waberten durch die Luft, und die Sicht tendierte gegen null. Unheimlich erhob sich jäh der Damm aus der grauen Suppe. Ich kraxelte hoch, eine merkwürdige, düstere Erhebung, besonders in dichtem Nebel und wenn keine Touristen da sind. Im dunkelsten Frühmittelalter ist der Devils’s Dyke vor etwa 1300 Jahren errichtet worden, ein Erdwall, der sich bis zu achtzehn Meter über die ihn umgebende Landschaft erhebt und zwischen Reach und Ditton Green etwa siebeneinhalb Meilen in gerader Linie verläuft. Leider weiß keiner, warum er Devil’s Dyke heißt. Der Name wird im sechzehnten Jahrhundert zum erstenmal erwähnt. Wie er da so mitten im flachen Moor steht, verströmt er etwas Bedrohliches, spürbar Urzeitliches, andererseits wirkt er wie ein monumentaler Prachtbau. Es erforderte ja sicher einen immensen Arbeitsaufwand, ein solches Bollwerk zu errichten, aber man muß kein Militärgenie sein, um zu erkennen, daß eine Invasionsarmee ihn nur zu umgehen brauchte. Was sie dann auch alle taten, und im Handumdrehen war der Devil’s Dyke völlig nutzlos, außer, daß die Bewohner der Flachmoore die Erfahrung machen konnten, wie man sich auf 18 Meter Höhe fühlt.
Trotzdem kann man über seinen grasbewachsenen Kamm angenehm und nett bummeln, und an diesem trostlosen Morgen hatte ich ihn ganz für mich. Erst als ich ungefähr in der Mitte war, sah ich andere Menschen, die meisten trainierten auf dem weiten Grün von Newmarket Heath ihre Hunde. In dem unirdischen Dunst sahen sie wie Gespenster aus. Der Damm verläuft genau durch die Anlagen der Rennbahn von Newmarket (was ich eher ulkig fand, wenn ich auch kein Fitzelbißchen sehen konnte) und dann weiter durch blühendes Pferdeland. Langsam lichtete sich der Nebel, und zwischen den skelettartigen Bäumen erspähte ich eine Reihe großer Gestüte. Alle hatten eine weiß eingezäunte Koppel, ein stattliches Haus und viele schmucke Stallgebäude mit Kuppeln und Wetterfahnen, was ihnen das Aussehen eines modernen Supermarkts verlieh. Es war zwar ein reines Vergnügen, über eine so gut sichtbare ebene Strecke zu wandern, aber auch ein wenig langweilig. Mehrere Stunden lang lief ich, ohne einer Menschenseele zu begegnen, und dann endete der Wall abrupt in einer Wiese vor Ditton Green. Und mich befiel ein beunruhigendes Gefühl, weil sich plötzlich alles so in Wohlgefallen auflöste. Es war erst kurz nach zwei, und ich war bei weitem noch nicht müde. Ich wußte, daß Ditton keinen Bahnhof hatte, aber ich hatte angenommen, ich könnte hier einen Bus nach Cambridge bekommen, und wahrhaftig entdeckte ich im Buswartehäuschen, daß dem so war – wenn ich zwei Tage wartete. Also trottete ich über eine vielbefahrene Straße vier Meilen nach Newmarket, schaute mich in aller Muße dort um und fuhr mit der Bahn zurück nach Cambridge.
Eine der Freuden, die einen bei einem langen Treck über Land, besonders außerhalb der Saison, aufrechterhält, ist die Aussicht, daß man schließlich ein Zimmer in einer schnuckeligen Unterkunft findet, vor loderndem Kamin das eine oder andere Gläschen und dann eine kräftige Mahlzeit zu sich nimmt, die man sich nach der sportlichen Betätigung des Tages und der frischen Luft ja auch sauer verdient hat. Aber ich kam in Cambridge an und fühlte mich frisch und völlig unausgelastet und zu nichts berechtigt. Noch schlimmer: Weil ich gedacht hatte, daß die Wanderung anstrengender war und ich spät eintreffen würde, hatte ich ein Zimmer im University Arms Hotel gebucht, eben in der Erwartung des entsprechenden lodernden Kamins, des kräftigen Mahls und der behaglichen Atmosphäre eines Senior Common Rooms.
Wie ich aber dann zu meiner stillen Bestürzung entdecken mußte, war das Hotel ein überteuertes neues Hochhaus, und mein düsteres Zimmer stand bedauerlicherweise in krassem Widerspruch zu der Beschreibung im Reiseführer.
Lustlos schaute ich mich in der Stadt um. Gut, ich weiß, Cambridge ist eine feine Stadt und eine wahre Fundgrube für Namen – Christ’s Pieces allein sucht seinesgleichen –, doch an dem Tag konnte ich mich nicht dafür begeistern. Der Hauptmarkt war ein schäbiges Chaos, das Zentrum wurde von einem entmutigenden Übermaß an Betonbauten dominiert, und am späten Nachmittag ertrank alles in einem kläglichen Nieseln. Zum Schluß stöberte ich in Secondhand-Buchläden herum. Ich suchte nichts Besonderes, stieß aber auf eine illustrierte Geschichte des Kaufhauses Selfridges. Ich nahm sie begierig vom Regal, weil ich hoffte, sie erklärte, warum Highcliffe Castle so zerfallen war, und enthielte eventuell sogar ein paar schlüpfrige Anekdötchen über Selfridge und die scharfen Dolly Sisters.
Leider, leider handelte es sich um eine keimfreie Fassung. Ich fand nur eine einzige flüchtige Erwähnung der Dollys, die implizierte, daß sie ein Paar heimatloser Unschuldsengel waren, um die sich Selfridge wie ein guter Onkel gekümmert hatte. Selfridges jäher Abfall vom Pfad der Tugend wurde kaum und Highcliffe Castle überhaupt nicht erwähnt. Da stellte ich das Buch wieder zurück. In dem sicheren Wissen, daß an diesem Tage alles, was ich tat, in Enttäuschung enden würde, trank ich dann bloß noch ein Bier in einem leeren Pub, aß ein mittelmäßiges Dinner in einem indischen Restaurant, machte einen einsamen Spaziergang im Regen und zog mich schließlich in mein Zimmer zurück, wo ich entdeckte, daß es nichts, aber auch gar nichts im Fernsehen gab, und daß ich meinen Spazierstock in Newmarket liegengelassen hatte.
Als ich mich mit einem Buch hinlegte, stellte ich fest, daß die Nachttischbirne – nicht kaputt, sondern nicht vorhanden war, und verbrachte die verbleibenden Stunden des Abends bewegungsunfähig auf dem Bett liegend und eine Wiederholung von Cagney und Lacey anschauend. Einerseits war ich neugierig und wollte endlich wissen, wer oder was in dieser uralten Serie den Intendanten von BBC so betört hatte (einzig mögliche Antwort: Sharon Gless’ Busen), andererseits genoß ich ihre garantiert narkotische Wirkung. Ich schlief mit der Brille auf der Nase ein und erwachte irgendwann, als ein lauter, frenetischer Blizzard über den Bildschirm tobte. Ich stand auf, um den Fernseher auszuschalten, stolperte heftig über einen unnachgiebigen Gegenstand und schaffte das interessante Kunststück, die Glotze mit dem Kopf auszumachen. Neugierig, wie ich das hingekriegt hatte, und für den Fall, daß ich mich entschloß, es zu einem Partykunststück auszubauen, entdeckte ich, daß der Gegenstand des Anstoßes mein Spazierstock war, der gar nicht in Newmarket lag, sondern hier auf dem Boden, zwischen Stuhl und Bettbein.
Na, wenigstens etwas Gutes, dachte ich, steckte mir zwei Walroßzähne aus Papiertaschentuch in die Nasenlöcher, um den plötzlichen Blutstrom zu stillen, und kletterte mißmutig zurück ins Bett.