Neuntes Kapitel

 

Vor vielen, vielen Jahren schenkte uns ein Verwandter meiner Frau – in weiser Voraussicht der Kinder, die wir eines Tages haben würden – eine Kiste Ladybird-Bücher aus den Fünfzigern und Sechzigern. Sie hatte alle Titel wie Draußen in der Sonne und Sonnige Tage am Meer und enthielten minutiös gezeichnete, kunterbunte Illustrationen eines blühenden, zufriedenen, abfallfreien Großbritannien, in dem immer die Sonne schien, die Ladenbesitzer lächelten und Kinder in frischgebügelten Kleidern Glück und Freude an unschuldigem Zeitvertreib fanden. Sie fuhren mit dem Bus einkaufen, ließen ein Modellschiff in einem Parkteich schwimmen oder schwatzten mit einem freundlichen Bobby.

Mein Lieblingsbuch war Abenteuer auf der Insel. In Wirklichkeit gab es herzlich wenig Abenteuer in dem Buch – ich erinnere mich, daß der Höhepunkt nahte, als die Kinder einen Seestern fanden, der sich an einem Felsen festsaugte –, aber ich liebte es wegen der Illustrationen (von dem begabten J. H. Wingfield, den ich schmerzlich vermisse). Sie zeigten eine Insel mit felsigen Buchten und weiten Ausblicken, die unverkennbar britisch war, aber ein mediterranes Klima hatte. Parkplätze mit Parkscheinautomaten, Bingohallen und die schäbigere Variante von Spielhallen glänzten durch Abwesenheit, und kommerzielle Auswüchse beschränkten sich auf die eine oder andere Konditorei oder einen Tea Room.

Unter dem seltsamen Einfluß dieses Buches erklärte ich mich jahrelang einverstanden, die Familienferien an britischen Gestaden zu verbringen. Denn immer glaubte ich, daß wir diesen magischen Ort eines Tages finden würden, an dem Sommertage immer sonnig waren, das Wasser so warm wie in einem Sitzbad und Massentourismus unbekannt.

Als wir uns dann ein Kind nach dem anderen anschafften, erwies sich, daß sie die Bücher überhaupt nicht mochten, weil die Figuren darin nie etwas Dramatischeres taten, als ein Zoogeschäft zu besuchen oder einem Fischer beim Anstreichen seines Bootes zuzuschauen. Ich versuchte ihnen klarzumachen, daß das eine vernünftige Vorbereitung auf das Leben in Großbritannien sei, aber davon wollten sie nichts wissen und schenkten ihre Zuneigung zu meinem großen Kummer lieber einem Paar langweiliger Dummköpfe namens Topsy und Tim.

Ich erwähne das an dieser Stelle, weil von all den kleinen Badeorten am Meer, die wir über die Jahre besuchten, Lulworth dem idealisierten Bild in meinem Kopf am nächsten kam. Es war klein und heiter und hatte eine schön altmodische Atmosphäre. In den Lädchen verkaufte man Strandspielzeug, die ein unschuldigeres Zeitalter wachriefen – hölzerne Segelboote, bunte Strandbälle in langen Baumwollnetzen –, und in seinen wenigen Restaurants saßen immer glückliche Ausflügler, die ihren Creamtea schlürften. Die überaus hübsche, beinahe kreisrunde Bucht unterhalb des Dorfes war übersät mit Felsen und großen, glatten Steinen, auf denen die Kinder herumklettern, und kleinen flachen Tümpeln, in denen sie winzige Krebse suchen konnten. Alles in allem war es ein entzückendes Fleckchen Erde.

Stellen Sie sich also meine Überraschung vor, als ich frischgeschrubbt aus meinem Hotel trat, mich auf die Suche nach einem Drink und einem herzhaften, wohlverdienten Abendessen begab und feststellte, daß Lulworth mit meiner Erinnerung absolut nichts mehr gemein hatte. Ich betrat ein großes Pub und bedauerte es unverzüglich. Es roch ekelerregend nach schalem Bier und stand voller Spielautomaten. Ich war beinahe der einzige Gast, aber fast jeder Tisch war von Bierlachen, leeren Gläsern, überquellenden Aschenbechern, Chipstüten und sonstigem Müll verunziert. Mein Glas war klebrig und das Lager warm. Ich trank aus und versuchte es in einer anderen Kneipe in der Nähe, die um eine Spur weniger schmuddelig, aber kaum gemütlicher war. Kein Wunder, daß so viele Pubs ihre Kundschaft verlieren!

Verzagt begab ich mich zu einem nahegelegenen Restaurant, in dem meine Frau und ich immer Krabbensalat gegessen und uns vornehm gedünkt hatten. Auch hier hatte sich einiges geändert. Die Speisekarte war auf das Niveau von »Scampi, Pommes und Tiefkühlerbsen« gesunken, das Essen wahrhaft mittelmäßig. Aber wirklich kraß war der Service. Eine solch überwältigende Stümperhaftigkeit habe ich noch nie in einem Restaurant erlebt. Die Bude war gerammelt voll, und es war nur allzubald ersichtlich, daß keiner der Beteiligten glücklich war. Bei fast jedem Gericht, das aus der Küche kam, lag etwas, das nicht bestellt, oder fehlte etwas, das bestellt worden war. Manche Leute saßen Ewigkeiten ohne Essen da, während andere an ihrem Tisch fast alle Gänge mehr oder weniger sofort und auf einmal vorgeknallt bekamen. Ich orderte einen Krabbencocktail, wartete dreißig Minuten darauf und mußte dann feststellen, daß etliche Krabben noch gefroren waren. Ich schickte ihn zurück und sah ihn nie wieder. Vierzig Minuten später erschien eine Kellnerin mit einem Teller Scholle, Pommes und Tiefkühlerbsen, und als sie keinen Abnehmer fand, nahm ich ihn, obwohl ich Schellfisch bestellt hatte. Als ich aufgegessen hatte, rechnete ich mir anhand der Speisekarte zusammen, was ich zu bezahlen hatte, hinterließ einen kleinen Betrag für die Gefrierkrabben und verließ den Ort des Geschehens.

Dann ging ich wieder in mein Hotel, einen Ort tiefster, deprimierendster Freudlosigkeit mit Nylonbettwäsche und kalten Heizkörpern, legte mich ins Bett, las noch ein Weilchen im Schein einer 7-Watt-Glühbirne und tat einen kleinen Schwur aus tiefstem Herzen, solange ich lebte, nie wieder nach Lulworth zurückzukehren.

Als ich am Morgen erwachte, blies der Wind mächtige Regenschauer über die Berge. Ich frühstückte, bezahlte die Rechnung und verbrachte längere Zeit damit, mich in meine wasserdichten Klamotten zu wursteln. Komisch, normalerweise ziehe ich mich ohne besondere Vorkommnisse an, aber geben Sie mir ein Paar wasserdichte Hosen, und es ist, als habe ich nie ohne fremde Hilfe stehen können. Zwanzig Minuten lang krachte ich gegen Wände und Möbel, fiel in Topfpflanzen und hüpfte bei einem besonders tüchtigen Ausbruchsversuch etwa fünf Meter weit, bevor ich den Hals um einen Geländerpfosten schlang.

Endlich in voller Montur, erwischte ich in dem großen Wandspiegel einen Blick auf mich und stellte fest, daß ich eine ausgesprochene Ähnlichkeit mit einem großen blauen Kondom aufwies. Dergestalt hergerichtet und bei jeder Bewegung von einem irritierenden Nylon-Rascheln begleitet, ergriff ich Rucksack und Spazierstock. Der Berg rief. Ich erstieg den Hambury Tout, am Durdle Door und dem tief eingeschnittenen, engen Tal mit dem reizenden Namen Scratchy Bottom vorbei, und dann einen steilen, schlammigen Zickzackpfad hinauf zu einer einsamen, nebelumhüllten Anhöhe namens Swyre Head. Das Wetter war grauenhaft, der Regen zum Verrücktwerden.

Ach bitte, tun Sie mir doch einen Moment lang einen Gefallen. Trommeln Sie sich mit den Fingern beider

Hände auf den Kopf und überprüfen Sie, wie lange es dauert, bis es Ihnen ernsthaft auf die Nerven geht – oder alle Leute in der Nachbarschaft Sie anstarren. In beiden Fällen werden Sie bemerken, daß Sie froh sind, wenn Sie damit aufhören können. Jetzt stellen Sie sich vor, daß die trommelnden Finger Regentropfen sind, die unaufhörlich auf Ihre Kapuze schlagen, und daß Sie nichts daran ändern können. Ihre Brille besteht aus zwei kreisrunden, nutzlosen, beschlagenen Glasscheiben, und Sie schlittern einen glitschigen Pfad entlang, immer nur einen Fehltritt entfernt von einem tiefen Sturz auf einen felsigen Strand – ein Fall, der Sie zu wenig mehr als einem Klatscher auf einem Felsen reduzieren würde, einem Marmeladenklacks auf Brot. Ich jedenfalls sah schon die Schlagzeile vor mir: »Amerikanischer Schriftsteller stürzt in den Tod – Wollte sowieso das Land verlassen.« Mir schwante Übles.

Von Lulworth nach Weymouth sind es zwölf Meilen. Paul Theroux vermittelt einem in Kingdom by the Sea den Eindruck, man könne da einfach mal so hinüberspringen und habe noch Zeit für einen Creamtea und über die Einwohner herzuziehen, aber er hatte garantiert besseres Wetter als ich. Ich brauchte fast den ganzen Tag. Nach dem Swyre Head verlief der Weg Gott sei Dank über ebene Klippen, wenn auch in luftiger Höhe über einer kadavergrauen See, doch man fand nur trügerischen Halt und kam nur langsam vorwärts. An der Ringstead Bay endeten die Berge dann in einem finalen rasanten Abstieg zum Strand. Ich rutschte auf einer Schlammflut den Hügel hinunter und hielt nur inne, um gegen Felsbrocken zu donnern und ein paar Baumelastizitätstests durchzuführen. Auf sicherem Boden angelangt, zog ich meine Karte heraus und errechnete mit Hilfe meiner Finger, die ich als Meßzirkel benutzte, daß ich fast fünf Meilen zurückgelegt hatte. Und dazu hatte ich fast den ganzen Morgen gebraucht. Angesichts dieses Schneckentempos runzelte ich die Stirn, stopfte die Karte in die Tasche und trottete trübsinnig weiter.

Der Regen ließ allmählich nach und verwandelte sich in ein heimtückisches Nieseln – dieses besondere englische Nieseln, das in der Luft hängen bleibt und einem die Lebensgeister raubt. Um etwa ein Uhr erstand Weymouth im Nebel, am Ende einer weit geschwungenen Bucht, und ich stieß einen kleinen Freudenschrei aus. Seine scheinbare Nähe indes war eine grausame Täuschung. Ich brauchte beinahe zwei Stunden, um den Rand der Stadt zu erreichen, und noch eine, um an der Uferpromenade entlang zum Zentrum zu laufen, aber da humpelte ich auch nur noch müde vorwärts. Ich fand ein Zimmer in einem kleinen Hotel und blieb so lange in Schuhen und Kondom auf dem Bett liegen, bis ich die Kraft sammeln konnte, mir etwas weniger Albernes anzuziehen, Katzenwäsche zu machen und in die Stadt zu gehen.

Weymouth gefiel mir viel besser, als ich erwartet hatte. Es erhebt aus zweierlei Gründen Anspruch auf Ruhm. 1348 hatte hier die Pest ihre englische Premiere, und 1789 wurde es der Welt erstes Seebad, als dieser dröge George III. die Mode einführte, im hiesigen Meer zu baden. Heute versucht die Stadt, die Atmosphäre georgianischer Eleganz zu bewahren. Durchweg erfolgreich. Trotzdem durchwehte sie wie die meisten Seebäder ein Hauch von unabwendbarem Niedergang, jedenfalls, was den Tourismus betraf. Das Gloucester Hotel, in dem George und seine Entourage immer residierten (damals war es ein Privathaus), hatte gerade erst geschlossen, und nun besaß Weymouth kein einziges anständiges großes Hotel mehr. Was für ein trauriger Mangel in einem alten Seebad. Aber ich freue mich, berichten zu können, daß es eine ganze Menge guter Pubs und ein außerordentlich gutes

Restaurant, Perry’s, gibt, und zwar allesamt in dem herausgeputzten Hafenviertel, wo Fischerboote auf dem Wasser schaukeln und eine flotte Seefahreratmosphäre herrscht und man immer meint, daß gleich Popeye um die Ecke biegt. Im Gegensatz zu den Pubs in Lulworth war Perry’s gutbesucht und fröhlich, und meine Lebensgeister kehrten zurück. Ich speiste Miesmuscheln aus heimischem Fang, aus Poole – nach drei Tagen harter Laufarbeit war es ein Schock, daß Poole immer noch »heimisch« war –, und einen höchst lobenswerten Seebarsch und zog mich danach in ein dunkles Pub mit niedriger Decke zurück, in dem man eigentlich einen dicken Pullover aus Arranwolle und eine Kapitänsmütze tragen sollte. Ich fühlte mich sauwohl und trank so viel, daß mir die Füße nicht mehr weh taten.

Im Westen Weymouths erstreckt sich der fünfzig Meilen lange Bogen der Lyme Bay. Da aber die Gegend direkt westlich der Stadt absolut nichts Besonderes oder Markantes hat, nahm ich ein Taxi nach Abbotsbury und begann meine Wanderung auf der Mitte des Chesil Beach. Er bestand aus großen Verwehungen kleiner, nieren-förmiger Kiesel, die die Meereswellen in Millionen Jahren gleichmäßig glatt geschliffen haben. Man kann kaum darüber laufen, weil man mit jedem Schritt knöcheltief einsinkt. Der Küstenpfad direkt hinter dem Strand verläuft zwar auf festerem Grund und Boden, aber man kann nicht über die Steindünen schauen. Man hört nur, wie das Meer auf der anderen Seite an den Strand kracht und unablässig Kieselsteine ans Ufer klappern läßt. Der langweiligste Spaziergang, den ich je gemacht habe. Bald begannen sich auch meine Blasen bemerkbar zu machen. Eigentlich kann ich Schmerzen aller Art ertragen, aber Blasen finde ich äußerst unerquicklich. Als ich West Bay erreichte, war ich reif für ein nettes Essen im Sitzen.

West Bay ist ein komisches kleines Nest, wie Kraut und Rüben in einer Dünenlandschaft verstreut. Es hatte etwas von der Atmosphäre einer Goldgräberstadt, als sei es eiligst aus dem Boden gestampft worden. Ich ging auf Jagd nach einem Lokal und stieß auf ein unscheinbares Etablissement namens Riverside Café. Als ich die Tür öffnete, fand ich mich allerdings in einem außergewöhnlichem Ambiente wieder. Hier war der Bär los. Durch die Luft schrillten Wortfetzen und Geplapper, als wäre man in London, und die Gäste sahen alle aus, als seien sie gerade einer Ralph-Lauren-Werbung entsprungen: Pullover lässig über die Schultern geschlungen, Sonnenbrillen ins Haar geschoben. Als sei ein kleines Stück Pulham oder Chelsea wie durch Zauber an diese gottverlassene Küste Dorsets geweht worden.

Ein solches Tempo habe ich jedenfalls noch nie in einem Restaurant außerhalb Londons erlebt. Kellner und Kellnerinnen wieselten umher, um den augenscheinlich unerschöpflichen Bedarf der Gäste nach Essen und vor allem Wein zu befriedigen.

Normalerweise mache ich mir nicht viel aus Lunch, aber das Essen roch so wunderbar, und das Drum und Dran war so anregend, daß ich zuschlug wie ein Berserker. Als Vorspeise gönnte ich mir eine Hummer-Jakobsmuschel-Terrine, dann ein exquisites Seebarsch-Filet mit grünen Bohnen und einem Berg Pommes frites, zwei Glas Wein und als krönenden Abschluß Kaffee und ein fettes Stück Käsekuchen. Der Besitzer, ein richtig netter Mann namens Arthur Watson, wanderte zwischen den Tischen umher und blieb sogar bei mir stehen. Er erzählte mir, das Lokal sei bis vor zehn Jahren ein ganz normales Café gewesen und habe zum Lunch Braten, Burgers und Pommes serviert. Ganz allmählich hatten sie mit frischem Fisch und schickerem Essen begonnen und festgestellt, daß eine irre Nachfrage danach bestand. Jetzt war es zu jeder Mahlzeit gerammelt voll und soeben als Dorsets Good Food Restaurant des Jahres ausgezeichnet worden, aber sie hatten immer noch Burger auf der Karte und servierten mit allem Pommes. Einfach wunderbar.

Als ich mit leichtem Kopf (und allem anderen schwer) aus dem Riverside wieder auftauchte, war es schon nach drei. Ich setzte mich auf eine Bank, nahm meine Karte und sah zu meiner Bestürzung, daß zwischen mir und Lyme Regis immer noch zehn Meilen und der fast einhundertneunzig Meter hohe Golden Cap lagen, der höchste Gipfel an der Südküste. Meine Blasen pochten, meine Beine schmerzten, mein Bauch war grotesk angeschwollen, und ein leichter Regen setzte ein.

Da hielt ein Bus vor mir. Ich stand auf und steckte den Kopf durch die offene Tür. »Nach Westen?« fragte ich den Fahrer. Er nickte. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, tapste ich an Bord, kaufte eine Fahrkarte und nahm hinten Platz. Ich sage ja immer: Auch für eine erfolgreiche Fußwanderung gilt: Man muß wissen, wann man aufhören muß.