Siebzehntes Kapitel

 

Bei meiner Aufzählung der Herrlichkeiten Bradfords habe ich die Curry-Houses vergessen. Peinlich, peinlich. Denn wenn Bradford auch den Wollhandel verloren hat, so hat es doch Tausende hervorragender indischer Restaurants gewonnen, was ich persönlich einen durchaus akzeptablen Tausch finde, da ich einen streng begrenzten Bedarf an Stoffballen habe, aber soviel indisches Essen verdrücken kann, wie man mir vorzusetzen beliebt.

Das meines Wissens älteste und sicher eins der besten und billigsten Curryhäuser in Bradford ist das Kashmir, nur ein paar Schritte vom Alhambra entfernt. Im ersten Stock ist ein richtiges Restaurant mit weißen Tischtüchern, blitzendem Besteck und aufmerksamen, hilfsbereiten Kellnern. Wahre Kenner indes steigen ins Untergeschoß, wo man mit Wildfremden an langen Resopaltischen ißt. Da sitzt der harte Kern, der schert sich nicht um Besteck. Man schaufelt das Essen mit großen Nan-Brotbrocken und schmierigen Fingern in sich hinein. Für drei Pfund verzehrte ich ein köstliches, üppiges kleines Festmahl, das so scharf war, daß meine Zahnfüllungen anfingen zu moussieren.

Voll bis zum Anschlag, rundum befriedigt und mit einem Magen, in dem es blubberte wie in einem Reagenzglas, trat ich in den Bradforder Samstagabend und überlegte, was ich mit mir anfangen sollte. Es war erst kurz nach sechs, aber überall tote Hose.

Mir wurde unangenehm und eindringlich bewußt, daß mein trautes Heim und meine liebe Familie nur über der nächsten Bergkette waren. Aus irgendeinem Grunde empfand ich es als Verrat, nach erst der Hälfte der Reise nach Hause zu fahren, aber dann dachte ich: Was soll’s, mir ist kalt, ich bin einsam, und ich schlafe doch zwanzig Meilen von meinem eigenen Zuhause entfernt nicht in einem Hotel. Ich lief also zum Bahnhof Forster Square, nahm einen ratternden, leeren Zug nach Skipton, ein Taxi zu dem kleinen Dorf in den Dales, wo ich wohne, und ließ mich dann unten an der Straße absetzen, damit ich meinem Hause auf Schusters Rappen entgegeneilen konnte.

Was für eine Freude, in der Dunkelheit an einem gemütlichen Haus anzukommen, dessen Fenster einen mit hellem Schein willkommen heißen, und zu wissen: Das ist deins, und da drin, das ist deine Familie! Ich ging die Einfahrt hinauf, lugte durchs Küchenfenster, und da waren sie alle um den Küchentisch versammelt und spielten Monopoly, die herzigen kleinen Unschuldslämmer. Erfüllt von glühender Zuneigung und Entzücken, starrte ich sie eine Ewigkeit lang an und fühlte mich wie Jimmy Stewart in Ist das Leben nicht schön?, als er zusieht, wie alles ohne ihn verläuft. Und dann ging ich hinein.

Was folgte, kann ich nicht beschreiben, ohne daß es wie eine Episode aus den Waltons klingt. Ich lenke Ihre Aufmerksamkeit also von dieser lebhaften, herzerwärmenden Familienzusammenführung ab und erzähle Ihnen eine wahre, wenn auch irrelevante Geschichte.

 

In den frühen Achtzigern schrieb ich in meiner Freizeit eine Menge auf Honorarbasis, hauptsächlich für Magazine von Fluggesellschaften. Und da hatte ich die Idee zu einem Artikel über bemerkenswerte Zufälle. Ich fragte bei einer dieser Gazetten an, ob sie interessiert seien, und wahrhaftig, sie waren es und versprachen bei Publikation den stolzen Betrag von 500 Dollar – eine Summe, die ich gut gebrauchen konnte. Doch als ich anfing zu schreiben, stellte sich heraus, daß ich zwar jede Menge

Informationen über wissenschaftliche Studien zur Wahrscheinlichkeit von Zufällen, aber viel zu wenig Beispiele für bemerkenswerte Zufälle selbst hatte, um einen einigermaßen peppigen Artikel von immerhin 15000 Worten zustande zu bringen. Ich schrieb dem Magazin also einen Brief, daß es leider doch nichts würde, und ließ ihn auf der Schreibmaschine liegen. Ich wollte ihn am nächsten Tag einwerfen. Dann zog ich mich anständig an und fuhr zur Arbeit in die Times.

 

Damals nun veranstaltete Philip Howard, der liebenswürdige Feuilletonchef (Das hätte ich in Anbetracht seiner Position ohnehin gesagt, aber es stimmt: Er ist ein richtiger Gentleman.), ein paarmal im Jahr Buchverkäufe für die Belegschaft; immer dann, wenn sich in seinem Büro die Rezensionsexemplare stapelten und er seinen eigenen Schreibtisch nicht mehr fand. Das waren stets aufregende Tage, weil man stoßweise Bücher praktisch umsonst bekam. Er nahm so was in dem Dreh von 25 Pence für gebundene und 10 Pence für Taschenbücher und gab den Erlös dann an die Leberzirrhosestiftung oder eine andere Journalisten lieb und teure Wohltätigkeitsorganisation. An diesem Tag nun kam ich zur Arbeit und sah auf einem Zettel an den Aufzügen, daß um vier Uhr ein Buchverkauf stattfinden würde. Es war fünf vor, ich warf meinen Mantel auf den Schreibtisch und flitzte in Howards Zimmer. Dort wimmelte es schon von Interessenten. Ich stürzte mich ins Gewühl, und wie hieß das erste Buch, auf das mein Blick fällt?

Bemerkenswerte wahre Zufälle.

Ist das nun ein bemerkenswerter wahrer Zufall oder nicht? Und jetzt kommt das geradezu Unheimliche. Ich schlug es auf und stellte fest, daß es nicht nur mehr Material enthielt, als ich jemals verwursten konnte, sondern daß in die allererste zufallige Begebenheit, die abgehandelt wurde, auch noch ein Mann namens Bryson verwickelt war.

Diese Geschichte erzähle ich nun schon seit Jahren in Pubs, und jedesmal, wenn ich fertig bin, nicken meine Zuhörer eine Weile nachdenklich, wenden sich dann einander zu und sagen:

»Wißt ihr, ich glaube, ich kenne noch einen Weg nach Barnsley, bei dem man die M62 völlig vermeiden kann. Ihr kennt doch den Kreisverkehr mit dem Happy Eater in Guiseley? Also, wenn ihr da die zweite Ausfahrt nehmt …«

Na gut, ich blieb drei Tage zu Hause, stürzte mich, glücklich wie ein junger Hund, in das Chaos des häuslichen Lebens, tollte mit den Kleinen, beschenkte jedermann wahllos mit meiner Zuneigung und wich meiner Frau nicht von den Fersen. Außerdem unterzog ich meinen Rucksack einer gründlichen Reinigung, erledigte die Post, schritt besitzerstolz durch den Garten und genoß das Vergnügen, jeden Morgen im eigenen Bett aufzuwachen, in vollen Zügen.

Da ich die Aussicht, so rasch wieder Abschied nehmen zu müssen, nicht ertrug, beschloß ich, noch ein wenig zu bleiben und ein paar Tagesausflüge zu unternehmen. Und so geschah es, daß ich am dritten Morgen meinen lieben Freund und Nachbarn, den begabten Maler David Cook abholte und mit ihm eine Tageswanderung nach Saltaire und Bingley, seiner Heimatstadt, machte. Es war schrecklich nett, zur Abwechslung mal Gesellschaft zu haben, und interessant, diese kleine Ecke Yorkshires mit den Augen von jemandem zu sehen, der dort aufgewachsen ist.

Ich war vorher noch nie richtig in Saltaire gewesen. Was war es für eine herrliche Überraschung! Und falls Sie es nicht wissen, Saltaire ist eine Mustersiedlung, die der

Fabrikant Titus Salt zwischen 1851 und 1876 für seine Arbeiter anlegen ließ. Den ollen Titus angemessen zu beurteilen, ist nicht ganz leicht. Einerseits gehörte er zu dieser unattraktiven Spezies antialkoholischer, selbst-gerechter, gottesfürchtiger Industrieller, die das neun-zehnte Jahrhundert so reichlich hervorgebracht hat – ein Mann, der seine Arbeiter nicht nur beschäftigen, sondern auch besitzen wollte. Wer in seiner Fabrik arbeitete, mußte in seinen Häusern wohnen, in seiner Kirche beten und seine Gebote bis aufs I-Tüpfelchen befolgen. Er gestattete kein Pub im Dorf, und für den Park verfügte er solch strenge Einschränkungen hinsichtlich Lärms, Rauchens, sportlicher Betätigung und anderer unanständiger Aktivitäten, daß dort nicht sehr viel Spaß zu holen war. Die Arbeiter durften mit Booten auf den Fluß – aber aus irgendeinem Grund immer nur vier zur selben Zeit. Kurz und gut: Ob es ihnen paßte oder nicht, notgedrungen waren sie nüchtern, fleißig und friedfertig.

Andererseits offenbarte Salt in puncto Sozialfürsorge ein seltenes Ausmaß an Aufgeklärtheit, und es steht außer Frage, daß sich seine Beschäftigten hygienischerer, gesünderer und angenehmerer Lebensbedingungen erfreuten als die meisten anderen Industriearbeiter der Welt zu dieser Zeit.

Heute ist Saltaire zwar in dem großen Ballungsgebiet zwischen Leeds und Bradford aufgegangen, aber bei seiner Erbauung lag es in einer sauberen, offenen Landschaft – ein gewaltiger Unterschied zu dem ungesunden Sündenpfuhl der Bradforder Innenstadt, wo in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts mehr Bordelle als Kirchen standen und kein einziger Meter Abwasserleitung bedeckt war. Salts Arbeiter zogen aus düsteren, verrußten, engen Hinterhofhäusern in luftige, geräumige Cottages, von denen jedes einen Hof, einen privaten Gasanschluß und wenigstens drei Zimmer und Küche hatte. Sie müssen sich wie im Paradies vorgekommen sein.

An einem Hang, der über den Fluß Aire und den Leeds-Liverpool-Kanal schaute, ließ Salt ein gewaltiges Werk errichten, den Palace of Industry, damals die größte Fabrik Europas. Sie erstreckte sich über vier Hektar und war mit einem eindrucksvollen Campanile geschmückt, der dem von Santa Maria Gloriosa in Venedig nachempfunden war. Des weiteren ließ Salt einen Park anlegen sowie eine Kirche, eine Anstalt für »Konversation, Erquickung und Bildung«, ein Krankenhaus, eine Schule und 850 saubere, ordentliche Steinhäuser in einem regelmäßigen Netz gepflasterter Straßen bauen, deren meiste nach Salts Gattin und seinen elf Kindern benannt wurden. Die Anstalt war vielleicht das bemerkenswerteste seiner Projekte. Sie sollte natürlich die Arbeiter vor allem von den Gefahren des Alkohols fernhalten und beherbergte eine Sporthalle, ein Laboratorium, einen Billardraum, eine Bibliothek, einen Leseraum und einen Vortrags- und Konzertsaal. Nie zuvor hatten Fabrikarbeiter großzügiger Gelegenheit bekommen, sich in jeder Hinsicht zu bilden, und sie ergriffen sie massenhaft und begeistert. James Waddington, ein Wollsortierer, der nie eine Schule besucht hatte, wurde zum Beispiel als Sprachforscher eine weltweit anerkannte Autorität und ein Star der Phonetic Society of Great Britain and Ireland.

Kaum zu glauben, aber Saltaire ist noch immer intakt, wenn auch die Häuser in Privatbesitz sind und die Fabrik schon lange keine Tuche mehr herstellt. Ein Stockwerk beherbergt eine wundervolle – und kostenlose – ständige Ausstellung der Werke David Hockneys, und in den anderen werden die irrsten Designerklamotten verkauft, schicke, edle Haushaltsgegenstände, Bücher und künstlerisch wertvolle Postkarten. Es war ein richtiges kleines Wunder, diese Yuppieenklave in einer vergessenen Ecke des Großraums Bradford. Und sie schien zu blühen und gedeihen.

David Cook und ich sahen uns in aller Gemütsruhe in der Galerie um – ich hatte Hockney nie so recht zur Kenntnis genommen, aber ich kann Ihnen sagen: Malen kann der Bursche! – und wanderten dann durch die Straßen mit den ehemaligen Arbeitercottages. Sie waren alle gemütlich und liebevoll gepflegt und erhalten. Durch Roberts Park schlenderten wir nach Shipley Glen, einer bewaldeten Schlucht, die zu einer weiten öffentlichen Grünanlage führt, wo die Leute normalerweise ihre Hunde trainieren. Sie sieht aus, als sei sie von jeher verwildert und sich selbst überlassen gewesen, dabei befand sich hier vor hundert Jahren ein überaus erfolgreicher Vergnügungspark – einer der ersten der Welt.

Zu den vielen Attraktionen zählten eine Gondelbahn, eine Achterbahn und die »größte, steilste, phantastischste Tobogganbahn, die je auf Erden errichtet wurde«. Ich habe Fotos gesehen, Damen mit Sonnenschirmen und Männer mit Schnurrbärten und steifen Kragen, und es sieht wahrhaftig alles sehr gefährlich aus, besonders die Schlittenbahn, die ungefähr fünfhundert Meter einen kolossal steilen, gefahrlichen Hügel hinunter verlief. Als eines Tages im Jahre 1900 ein Wagen voll schick gekleideter Tobogganfahrer diesen Hügel hinaufgezurrt wurde, um auf eine weitere Horrorreise hinuntergeschickt zu werden, krachte das Windenkabel, das Ding geriet außer Kontrolle und die Fahrgäste wurden in einen ästhetisch unschönen, aber aufregenden Tod am anderen Ende geschleudert. Und das war dann mehr oder weniger auch das Ende des Shipley-Glen-Rummels. Heute ist von den ursprünglichen Sensationen nur noch die mickrige Glen Tramway übrig, die seit 1895 auf einem Hang in der Nähe unauffällig und behäbig auf und ab tuckert, doch im hohen Gras fanden wir ein Stück alte Schiene von der Schlittenbahn, woraufhin es uns ein wenig kalt den Rücken runterlief.

Das ganze Gelände ist eine archäologische Stätte der nicht allzuweit entfernten Vergangenheit. Etwa eine Meile danach, an einem überwachsenen Pfad, befand sich Milner Field, eine reich verzierte Villa, die Titus Salt im Jahre 1870 errichten ließ, als das Vermögen der Familie Salt unbegrenzt und für immer sicher schien. Aber 1893 schon driftete die Textilbranche in eine unerwartete Flaute, und die Salts waren plötzlich nicht mehr liquide. Die Familie verlor die Firma und mußte fassungslos und beschämt das Haus, die Fabrik und alle Aktien verkaufen. Und dann begann eine seltsame, unheimliche Kette von Ereignissen. Offenbar ohne Ausnahme mußten alle nachfolgenden Eigentümer von Milner Field merkwürdige, verheerende Nackenschläge einstecken. Einer hieb sich einen Golfschläger in den Fuß und starb an Wundbrand. Ein anderer kam nach Hause und fand seine junge Braut im Bett mit einem Geschäftspartner, mitten in der ersten Runde eines Nacktringkampfs. Was sich ja wohl nicht gehörte. Er erschoß den Mann oder vielleicht sogar beide. Die Chronisten sind sich da nicht einig. Auf jeden Fall richtete er im Schlafzimmer eine gräßliche Schweinerei an und durfte dann mit des Seilers Tochter kopulieren.

Schon bald entwickelte das Haus einen Ruf als Ort, an dem man sich mit einiger Sicherheit darauf verlassen konnte, auf die Nase zu fallen. Die Leute zogen ein und mit aschfahlen Gesichtern und schrecklichen Wunden jäh wieder aus. Als das Haus 1930 ein letztes Mal zum Verkauf stand, fand man keinen Interessenten mehr. Es blieb zwanzig Jahre unbewohnt und wurde 1950 schließlich abgerissen. Jetzt ist die Stelle mit Unkraut überwachsen, und man könnte darüber spazieren, ohne je auf die Idee zu kommen, daß sich hier einmal eines der feinsten Häuser im Norden Englands befand. Aber wenn man in dem hohen Gras herumstochert, was wir prompt taten, stößt man auf den Boden eines alten Wintergartens. Er besteht aus adrett gemusterten schwarzen und weißen Kacheln und erinnerte mich seltsam an das römische Mosaik, das ich in Winchcombe gesehen hatte. Und versetzte mich nicht weniger in Erstaunen.

Schon eigenartig, sich vorzustellen, daß Titus Salt vor einem Jahrhundert hier an dieser Stelle in einem prächtigen Haus gestanden und in das Tal des Aire hinabgeschaut hat, weit unten auf die riesige Salt’s Mill, die die Luft mit Klirren, Dampf und Rauch erfüllte, und dahinter breitete sich das reichste Zentrum des Wollhandels in der Welt aus, und nun ist alles verschwunden. Was würde der alte Titus Senior denken, wenn man ihn wieder hierherbrächte und ihm zeigte, daß das Familienvermögen futsch und seine geschäftige Fabrik nun voll schicker, chromblitzender Küchenutensilien und tuntiger Bilder nackter Schwimmer mit glänzenden Hinterbacken ist?

Lange blieben wir auf diesem einsamen Gipfel stehen. Von dort oben kann man meilenweit über das Airedale sehen, überall klettern die Städte und Häuser die steilen Hänge bis zu den rauhen Hochmooren hinauf, und wie sooft, wenn ich an einem Hügel in Nordengland stehe, überlegte ich, was all die Menschen in all den Häusern tun. Früher war das Airedale von hinten bis vorn voller Fabriken – allein in Bingley gab es zehn oder noch mehr -, und nun sind sie buchstäblich alle weg, abgerissen, um Supermärkten Platz zu machen, oder in Apartmenthäuser oder Einkaufszentren verwandelt. French’s Mill, Bingleys letzte überlebende Textilfabrik, war seit ein, zwei Jahren geschlossen und stand nun mit zerbrochenen Fenstern einsam und verlassen dort.

Was mich bei unserem Umzug nach Nordengland mit am meisten überraschte, war, wie sehr man sich hier wie in einem anderen Land fühlte. Teilweise, weil der Norden eine ganz andere Atmosphäre hat und anders aussieht – weite Hochmoore und ein endloser Himmel, die langen, gewundenen Bruchsteinmauern, schmutzige Fabrikstädte, Dörfer mit behaglichen Steincottages in den Dales und im Lake District – und teilweise natürlich wegen der Akzente, der anderen Worte, der erfrischenden, wenn auch manchmal verblüffend freimütigen Art zu reden. Und ganz bestimmt auch, weil die Engländer aus dem Süden ebenso wie die aus dem Norden so wahnsinnig, manchmal aufreizend stur auf ihrer Ignoranz beharren, was die Geographie des jeweils anderen Landesteils betrifft. Als ich in London bei den verschiedenen Zeitungen arbeitete, war ich immer erstaunt, wie oft man eine Frage wie »Liegt Halifax in Nord- oder Süd-Yorkshire?« durch den Raum rufen konnte und als Antwort nur ratloses Stirnrunzeln an den Schreibtischen ringsum erntete. Und als ich in den Norden zog und den Leuten sagte, ich hätte davor in Surrey, in der Nähe von Windsor gewohnt, begegnete ich oft demselben Blick – einer Art nervöser Unsicherheit, als hätten sie Angst, daß ich als nächstes sagte: »So, jetzt zeigt mir mal auf der Karte, wo das ist.«

Was den Norden vom Süden aber am allermeisten unterscheidet, ist das allgegenwärtige Gefühl des Verlusts der wirtschaftlichen Bedeutung, vergangener Größe, wenn man durch Städte wie Preston oder Blackburn fährt oder an einem Berg wie diesem steht. Zieht man eine Linie zwischen Bristol und dem Wash, teilt man das Land in zwei Hälften mit ungefähr siebenundzwanzig Millionen

Einwohnern auf jeder Seite. Zwischen 1980 und 1985 gingen in der südlichen Hälfte 103600 Jobs verloren, in der nördlichen im selben Zeitraum 1032000, also fast zehnmal soviel. Und immer noch werden Fabriken stillgelegt. Stellen Sie an einem beliebigen Abend die Lokalnachrichten im Fernsehen an, wird mindestens die Hälfte der Zeit über Fabrikschließungen berichtet. (Die andere Hälfte über eine Katze, die irgendwo in einem Baum hängengeblieben ist. Ein echter Härtetest, diese Lokalnachrichten in der Glotze!) Also frage ich noch einmal: Was tun all die Leute in all den Häusern – und was, viel wichtiger, tun ihre Kinder?

 

Wir verließen Milner Field und wanderten über einen anderen Weg Richtung Eldwick an einem großen, eleganten Pförtnerhaus vorbei. David gab einen Wehmutslaut von sich. »Hier hat ein Freund von mir gewohnt«, sagte er. Nun zerfiel es, die Fenster und Türen waren zugemauert. Fürchterlich, ein feines Haus ließ man einfach so verkommen. Auch den alten ummauerten Garten daneben hatte man verwildern lassen.

David zeigte auf ein Haus auf der anderen Straßenseite. Dort war Fred Hoyle aufgewachsen. In seiner Autobiographie erinnert sich Hoyle, wie er immer Diener mit weißen Handschuhen durch das Tor von Milner Field hat ein- und ausgehen sehen, schweigt sich aber mysteriöserweise aus über die Skandale und Tragödien, die sich hinter der hohen Mauer abgespielt haben. In der sicheren Erwartung, daß die ersten Kapitel von wilden Schießereien und mitternächtlichen Schreien strotzten, hatte ich in einem Buchantiquariat drei Pfund für das Teil hingeblättert. Sie können sich also meine Enttäuschung vorstellen.

Ein bißchen weiter kamen wir an drei großen Mietshäusern vorbei – sozialer Wohnungsbau –, die nicht nur häßlich und isoliert, sondern auch so komisch und gedankenlos hingeknallt waren, daß sie zwar an einem Hang standen, die Mieter aber eigentlich keinen Ausblick hatten. Dafür hatte es natürlich Architekturpreise geregnet, erzählte David mir.

Als wir in einem weiten Bogen über einen Abhang hinunter nach Bingley schlenderten, erzählte er mir von seiner Kindheit dort in den Vierzigern und Fünfzigern. Er malte ein schönes Bild glücklicher Zeiten, in denen man ins Kino ging (»mittwochs ins Hippodrome, freitags ins Myrtle«), Fish and Chips aus Zeitungspapier aß und Dick Barton und Top of the Form im Radio hörte – eine magische kleine, untergegangene Welt, in der mittwochs nachmittags die Läden geschlossen hatten, zweimal am Tag die Post zugestellt wurde, die Leute Fahrrad fuhren und die Sommer endlos waren. Das selbstbewußte, blühende Bingley, das er beschrieb, spielte eine wichtige Rolle im Herzen eines stolzen, mächtigen Empire mit rauchenden Fabrikschloten, und in der Stadtmitte gab es Kinos, Tea Rooms und interessante Läden. Was für ein Unterschied zu dem heruntergekommenen, schäbigen, vom Verkehr malträtierten Ort von heute. Das Myrtle und das Hippodrome hatten schon vor Jahren dichtgemacht. In letzterem war danach ein Woolworth’s eingezogen, aber das war nun auch schon wieder lange draußen. Heute wird die Stadtmitte von dem Hochhaus der Bradford and Bingley Building Society überragt – für einen solchen Bau nicht mal so häßlich, aber hoffnungslos unproportioniert im Verhältnis zur Stadt darum herum. Zwischen dem Hochhaus und einem wahrhaft erbärmlichen Backstein-einkaufsviertel aus den Sechzigern ist das Zentrum Bingleys irreparabel zerstört worden. Da war es schon eine angenehme Überrraschung, daß die Stadt darum herum immer noch ganz entzückend ist.

Wir gingen an einer Schule und einem Golfplatz vorbei zu einem Ort namens Beckfoot Farm, einem hübschen Steincottage an einem rauschenden Wildbach in einem bewaldeten Tal. Die Hauptstraße nach Bradford war nur ein paar hundert Meter entfernt, aber hier fühlte man sich wie in einem anderen, noch nicht motorisierten Jahrhundert. Wir gingen einen in dem weichen Sonnenlicht überaus reizenden Uferweg entlang. David erzählte mir, daß früher hier eine Fabrik war, in der Fette ausgeschmolzen wurden. Es stank immer bestialisch, und das Wasser hatte eine schrecklich rostrot-cremige Farbe und eine Haut aus schaumigem Schmier. Nun funkelte der Fluß grün und sah gesund aus, der Ort schien völlig unberührt von Zeit und industrieller Revolution. Die alte Fabrik war ordentlich abgeschrubbt und ausgeweidet und in ein Mietshaus mit schicken Wohnungen verwandelt worden. Wir gingen zu einer Stelle hoch, die Five-Rise-Locks heißt und wo der Kanal von Leeds nach Liverpool in fünf schnellen Stufen etwa dreißig Meter angehoben wird. Von dort schauten wir uns die kaputten Fenster hinter der Stacheldrahtumzäunung von French’s Mill an. Als wir dann zu der Auffassung kamen, daß wir mehr oder weniger erschöpft hatten, was Bingley zu offerieren hatte, eilten wir in ein gemütliches Pub namens Old White Horse und tranken ganz viel Bier, was wir sowieso die ganze Zeit vorgehabt hatten.

 

Am nächstenTag ging ich mit meiner Frau in Harrogate einkaufen – das heißt, ich schaute mich in Harrogate um, während sie einkaufen ging. Meiner Ansicht nach sollten Männer und Frauen nicht gemeinsam einkaufen, weil die Männer eigentlich immer nur was Lautes wie einen Bohrer kaufen, damit nach Hause gehen und spielen wollen, und die Frauen nicht eher zufrieden sind, als bis sie so ungefähr alles in der Stadt gesehen und mindestens 1500 verschiedene Materialien angefaßt haben. Gibt es eigentlich nur mir Rätsel auf, daß Frauen geradezu zwanghaft besessen sind, in Läden Dinge anzufassen? Viele Male habe ich erlebt, daß meine Frau Umwege von zwanzig, dreißig Metern auf sich genommen hat, um etwas zu betasten – einen Mohairpullover oder ein Veloursamtbettjäckchen oder sonst etwas.

»Gefällt dir das?« frage ich dann überrascht, weil es überhaupt nicht ihr Stil ist. Sie schaut mich an, als sei ich von Sinnen.

»Das?« sagt sie. »Nein, es ist potthäßlich.«

»Warum, um alles in der Welt«, will ich dann immer sagen, »bist du denn den ganzen Weg hierhergelaufen, um es zu berühren?« Aber wie alle langjährigen Ehemänner habe ich gelernt, beim Einkaufen zu schweigen, denn einerlei, was ich sage – »Ich habe Hunger«, »Ich langweile mich«, »Meine Füße sind müde«, »Ja, das steht dir auch gut«, »Na, dann nimm doch alle beide«, »Ach, verdammte Scheiße«, »Können wir jetzt nicht nach Hause gehen?«, »Zu Monsoon? Noch einmal?«, »Wo ich gewesen bin? Wo bist du gewesen?« –, es bringt absolut nichts. Und so hülle ich mich denn in Schweigen.

An diesem Tag war Mrs. B. in Schuhkaufstimmung, was bedeutet, sie läßt einen armen Typen in einem billigen Anzug stundenlang endlose Kartons mit mehr oder weniger identischer Fußbekleidung heranschleppen und entscheidet sich dann, doch nichts zu kaufen. Deshalb war ich so schlau, mich aus dem Staube zu machen und mir die Stadt anzusehen. Als Beweis meiner Liebe lud ich sie aber vorher zu Kaffee und Kuchen bei Betty’s ein (und bei Betty’s Preisen muß man schon sehr verliebt sein), wo sie mir, wie üblich, präzise Anweisungen gab, wo wir uns später treffen wollten. »Um drei vor Woolworth’s. Aber paß auf – hör auf, damit rumzufummeln, und hör mir zu –, wenn Russell & Bromley die Schuhe, die ich will, nicht haben, muß ich zu Ravel. In dem Fall treffen wir uns um Viertel nach drei vorm Tiefkühlgemüse bei Marks & Spencer. Oder ich bin bei Hammick’s bei den Kochbüchern, vielleicht auch bei den Kinderbüchern. Vermutlich aber bin ich doch bei Russell & Bromley und probiere dieselben Schuhe noch mal alle an. In dem Fall treffen wir uns spätestens um drei vor halb vier vor Next. Hast du das mitgekriegt?«

»Ja.« Nein.

»Ich kann mich drauf verlassen?«

»Natürlich.« Von wegen.

Mit einem Kuß war sie weg. Ich trank meinen Kaffee, genoß das elegante, altmodische Ambiente dieser feinen Institution, wo die Serviererinnen noch Rüschenhäubchen und weiße Schürzen über schwarzen Kleidern tragen. Von solchen Cafés sollte es wirklich mehr geben, wenn Sie mich fragen. Ein Kännchen Kaffee und ein klebriges Gebäck kosten zwar ein kleines Vermögen, aber sie sind ihr Geld wert, und außerdem darf man den ganzen Tag da sitzen, was ich nun ernsthaft in Erwägung zog, weil es so nett war. Aber dann fand ich, ich sollte mich doch in der Stadt umsehen, also zahlte ich und schleppte mich zum Einkaufsviertel, um mir Harrogates neueste Errungen-schaft, das Victoria Gardens Shopping Centre, anzusehen. Der Name ist ein starkes Stück, denn sie haben es auf den Victoria Gardens gebaut. Es sollte eher »Der schöne kleine Park, der von diesem Shopping Centre zerstört wurde« heißen.

Das wäre mir ja noch einerlei, wenn sie dort nicht auch die letzten prächtigen öffentlichen Toiletten in Großbritannien abgerissen hätten – eine unterirdische kleine Schatzkammer mit blitzsauberen Kacheln und glänzendem Messing. Die Herrentoilette war einfach wunderbar, und von der Damentoilette habe ich auch nur das Beste gehört. Aber selbst das wäre vielleicht noch akzeptabel, wenn das neue Einkaufszentrum nicht herzzerreißend schrecklich wäre, allerübelster historisierender Stilmischmaschnach der Devise Bath Crescent neben dem Crystal Palace mit Polyesterdach. Aus unerfindlichen Gründen ist eine Dachbrüstung mit lebensgroßen Statuen von ganz normalen Männern, Frauen und Kindern geschmückt worden. Gott allein weiß, was das bedeuten soll – ich vermute, es soll so was wie eine Ruhmeshalle des Volkes sein –, es sieht aber so aus, als wollten zwei Dutzend Bürger verschiedenen Alters gleich Massenselbstmord begehen.

Auf der Seite des Gebäudes zur Station Parade, wo sich vormals der nette kleine Victoria Gardens und seine nette kleine öffentliche Toilette befanden, bilden Treppen jetzt eine Art Open-air-Amphitheater. Hier sollen sich die Leute wahrscheinlich an den zwei, drei Tagen hinsetzen, wenn in Yorkshire die Sonne scheint. Und über die Straße führt eine wahrhaft groteske überdachte Fußgängerbrücke im selben georgianischen/italienisierten/weiß-der-Henker was für einem Stil, der bei dem Parkhaus auf der anderen Straßenseite seinen Niederschlag gefunden hat.

Vielleicht nehmen Sie törichterweise an, daß ich mich für solche Bauten begeistere. Leider ist das nicht der Fall. Wenn mit »Bauen im historischen Bestand« gemeint ist, daß man in gewisser Weise von der Umgebung Notiz nimmt und sich vielleicht auch noch die Mühe macht, an die Traufhöhen daneben anzuschließen und auf Größe und Position der Fenster und Türen der Nachbarn Rücksicht zu nehmen und dergleichen, ja, dann finde ich das schon gut.

Wenn aber damit eine Disneyland version von »Jolly Old England« wie dieser lachhafte Klotz vor mir gemeint ist, dann, nein, danke.

Vermutlich könnte man anführen – und das würden die Architekten von Victoria Gardens wahrscheinlich –, es zeige wenigstens den Versuch, traditionelle architektonische Elemente ins Stadtbild miteinfließen zu lassen, und verletze feinfühligere Betrachter weniger als der Glas- und Plastikkasten in der Nähe, in dem die Co-op es sich gemütlich gemacht hat, einem Bau von, ich muß es sagen, vollendeter Häßlichkeit. Aber ich bin der Meinung, daß solche Bauten genauso übel und auf ihre Art sogar noch uninspirierter und phantasieloser sind als das jämmerliche Co-op-Gebäude.

Ja, was tun mit den armen, geschlagenen Städten Großbritanniens, wenn man weder auf Richard Seifert noch auf Walt Disney steht? Ich wünschte, ich wüßte es. Es muß doch eine Möglichkeit geben, Häuser zu bauen, die modern und stilvoll sind und dennoch nicht das ganze Ambiente ihres Standortes zerstören. Die meisten anderen europäischen Nationen (kurioser- und erwähnens-werterweise mit Ausnahme der französischen) schaffen das doch auch. Warum dann nicht Großbritannien?

Aber genug gemeckert und genörgelt. Harrogate ist im Grunde sehr schön und viel weniger von gedankenlosen Stadtplanern entstellt als viele andere Kommunen. Der Stray, eine neun Hektar große öffentliche Grünfläche, auf die riesige Villen herabblicken, zählt zu den größten und schönsten Parks im Land. Es hat ein paar hübsche alte Hotels, ein angenehmes Einkaufsviertel und obendrein eine Atmosphäre von Ordnung und Kultiviertheit. In einem Satz, eine schönere Stadt finden Sie so leicht nicht. Auf seine angenehm englische Art erinnert es mich ein wenig an Baden-Baden, was natürlich nicht weiter verwunderlich ist, weil es ja auch einmal ein Kurort war – und noch dazu ein sehr beliebter. Auf einem Faltblatt, das ich im Royal Pump Room Museum mitnahm, stand, daß in der Trinkhalle noch 1926 an einem Tag 26000 Gläser schwefelhaltigen Wassers ausgeteilt wurden. Wenn man will, kann man das Wasser immer noch trinken. Laut eines Zettels am Hahn ist es gut für Blähungen, was ich sehr verheißungsvoll fand. Fast hätte ich ein Glas getrunken, aber dann begriff ich noch rechtzeitig, daß es Blähungen verhindern sollte. Komische Idee.

Ich schaute mich im Museum um und ging an dem alten Swan Hotel vorbei, in dem Agatha Christie Zuflucht suchte und sich versteckt hielt, als sie entdeckte, daß ihr Mann, der fiese Schuft, fremdging. Dann wanderte ich die Montpellier Parade hinauf, eine sehr hübsche Straße voll wahnsinnig teurer Antiquitätenläden. Ich inspizierte das über zwanzig Meter hohe Kriegerdenkmal und machte einen langen, angenehm ziellosen Spaziergang durch den Stray und dachte, wie schön es sein müßte, in einem der großen Häuser zu wohnen, die auf den Park hinabschauen, und immer zu den Läden laufen zu können.

Man würde doch nie auf die Idee kommen, daß eine so blühende, gutbürgerliche Stadt wie Harrogate im selben Teil des Landes liegt wie Bradford oder Bolton, aber das ist natürlich die andere Seite an Nordengland – es hat diese Nischen immensen Wohlstands wie Harrogate und Ilkley, die sogar noch reicher sind als ihre Pendants im Süden. Wenn Sie mich fragen, dadurch wird die Gegend viel interessanter.

Im schwindenden Nachmittagslicht begab ich mich schließlich ins Einkaufsviertel, wo ich mich am Kopf kratzte und mit schon an Panik grenzendem Schrecken merkte, daß ich nicht den blassesten Dunst hatte, wo oder wann ich mit meiner besseren Hälfte verabredet war. Als ich dastand und glotzte wie Stan Laurel, als er sich umdreht und feststellt, daß das Klavier, auf das er aufpassen muß, mit dem strampelnden Ollie oben drauf einen steilen Abhang hinunterrollt, kam wie durch ein Wunder meine Frau auf mich zu.

»Hallo, Liebling!« sagte sie fröhlich. »Ich muß sagen, ich hätte nie gedacht, daß du hier wirklich auf mich warten würdest.«

»Also, ich bitte dich! Traust du mir denn gar nichts zu? Ich bin seit einer Ewigkeit hier.«

Und Arm in Arm liefen wir in den winterlichen Sonnenuntergang.