Fünftes Kapitel

 

Ich erblickte Virginia Water zum erstenmal an einem ungewöhnlich schwülen Nachmittag Ende August 1973, etwa fünf Monate nach meiner Ankunft in Dover. Ich war den Sommer über in Begleitung eines Stephan Katz gereist, der sich mir im April in Paris zugesellt hatte und von dem ich mich etwa zehn Tage zuvor in Istanbul erleichtert verabschiedet hatte. Erschöpft und reisemüde, aber sehr froh, wieder in England zu sein, entstieg ich dem Zug aus London und war sofort entzückt. Das Dorf Virginia Water sah gepflegt und einladend aus, und die trägen Spätnachmittagsschatten und das unglaublich üppige Grün wußte jemand wie ich, der gerade aus dürren Gefilden gekommen war, ganz besonders zu würdigen. Direkt hinter dem Bahnhof erhob sich der gotische Turm des Holloway-Sanatoriums, eines monumentalen, giebel-bewehrten Backsteinklotzes in einer parkähnlichen Anlage.

Zwei Mädchen, die ich aus meiner Heimatstadt kannte, arbeiteten dort als Lernschwestern und hatten mir einen Schlafplatz auf ihrem Fußboden angeboten und die Möglichkeit, mit dem Dreck von fünf Monaten einen schönen Schmutzrand in ihre Badewanne zu machen. Am nächsten Tag wollte ich von Heathrow aus den Heimflug antreten, denn in zwei Wochen fing meine Uni wieder an. Lust hatte ich keine, und als ich dann abends bei etlichen Bieren in einem fröhlichen Pub namens The Rose and Crown erfuhr, daß das Krankenhaus immer Hilfsknechte suchte und ich als Muttersprachler gute Karten hatte, füllte ich kurzentschlossen am nächsten Tag mit benebelter Birne und ohne einen klaren Gedanken fassen zu können,

Formulare aus und ließ mir sagen, daß ich mich am folgenden Morgen um sieben Uhr bei dem diensthabenden Pfleger auf der Station »Tuke« melden solle. Ein liebenswürdiger kleiner Mann mit der Intelligenz eines Kindes wurde abkommandiert, um mich zum Magazin zu führen, wo mir ein gewichtiger Schlüsselbund und ein schwankender Berg ordentlich gefalteter Kranken-hauskleidung ausgehändigt wurden – zwei graue Anzüge, Hemden, Schlips, etliche weiße Laborkittel. (Hilfe! Wo war ich hier hingeraten?) Dann lieferte er mich im Männerhaus B auf der anderen Straßenseite ab, wo mir eine weißhaarige alte Schachtel mein spartanisch eingerichtetes Zimmer zeigte und in einer Art, die mich lebhaft an meine alte Freundin Mrs. Smegma erinnerte, eine Flut von Instruktionen auf mich niederprasseln ließ betreffs des wöchentlichen Wechsels schmutziger Bettwäsche, der Zeiten, in denen es heißes Wasser gab, der Funktionsweise des Heizkörpers und anderer rasend schnell heruntergerasselter Dinge, die ich nicht behalten konnte. Ich war allerdings ziemlich stolz, eine beiläufige Bemerkung zu Überwürfen mitzukriegen. Mich verarscht ihr nicht noch mal, dachte ich.

Ich schrieb meinen Eltern, sie sollten nicht mit dem Abendessen auf mich warten, probierte froh und glücklich meine neuen Kleider an und posierte etliche Stunden lang vor dem Spiegel, arrangierte meine bescheidene Kollektion Taschenbücher auf dem Fenstersims, machte einen Abstecher zur Post mit anschließender Besichtigung des Dorfes und dinierte in einer kleinen Butze namens The Tudor Rose. Danach schaute ich in einem Pub vorbei, der Trottesworth hieß, und fand das Ambiente so angenehm und alternative Vergnügungsmöglichkeiten so nicht-existent, daß ich, ich gestehe, eine unanständige Menge Bier trank und mein neues Quartier erst wiederfand, nachdem ich mich durch Gestrüpp und um einen denkwürdig unflexiblen Laternenpfahl gekämpft hatte.

Am nächsten Morgen wachte ich fünfzehn Minuten zu spät auf und erreichte das Krankenhaus im Halbschlaf. In dem Hin und Her des Schichtwechsels fragte ich mich durch zu meiner Station und kam dort zerzaust und leicht schwankend immer noch zehn Minuten zu spät an. Der diensthabende Pfleger, ein freundlicher Bursche von knapp Vierzig, hieß mich herzlich willkommen, sagte mir, wo ich Tee und Kekse fände, und verdrückte sich. Danach sah ich ihn nur noch selten. Die »Tuke« wurde von männlichen, chronisch irren Langzeitpatienten bewohnt, die sich glücklicherweise ganz allein zu managen schienen. Sie holten sich das Frühstück von einem Wagen, rasierten sich selbst, machten ihre Betten, wenn auch mehr schlecht als recht, und verschwanden leise, während ich mich im Personalklo auf erfolglose Suche nach einem Magenmittel begab. Bei meiner Rückkehr stellte ich verwirrt und mit wachsender Besorgnis fest, daß ich nun der einzige Mensch auf der Station war. Konfus wanderte ich durch den Tagesraum, die Küche und die Schlafsäle und öffnete die Stationstür – sie ging auf einen leeren Korridor, an dessen Ende das Tor zur Welt offenstand! Gleichzeitig klingelte das Telefon im Stationszimmer.

»Wer ist da?« bellte eine Stimme.

Unter Aufbietung aller meiner Sprachfähigkeiten gab ich mich zu erkennen und spähte gleichzeitig aus dem Fenster, weil ich erwartete, daß die dreiunddreißig Patienten der Station in einem verzweifelten Verlangen nach Freiheit von Baum zu Baum sprangen.

»Hier ist Smithson«, sagte die Stimme. Smithson war der Pflegedienstleiter, eine einschüchternde Gestalt mit Koteletten und mächtigem, gewölbtem Brustkorb. Am Tag zuvor hatte man ihn mir gezeigt. »Sie sind der neue Junge, nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

»Happy da?«

Ich blinzelte verwirrt mit den Augen und dachte, was stellen einem die Engländer immer für komische Fragen. »Hm, es ist eher sehr ruhig.«

»Nein, John Happy, der diensthabende Pfleger – ist er da?«

»Oh. Nein, er ist weggegangen.«

»Hat er gesagt, wann er zurückkommt?«

»Nein, Sir.«

»Alles unter Kontrolle?«

»Hm, eigentlich –«, ich räusperte mich. »Also, ich glaube, die Patienten haben sich entfernt, Sir.«

»Was?«

»Entlaufen, Sir. Ich bin nur mal eben auf der Toilette gewesen, und als ich wiederkam –«

»Sie sollen ja auch aus der Station raus, mein Sohn. Sie sind bestimmt beim Gartendienst oder bei der Beschäftigungstherapie. Sie verlassen die Station jeden Morgen.«

»Oh, gelobt sei Jesus Christ.«

»Wie bitte?«

»Dem Himmel sei Dank, Sir.«

»Ja, richtig.« Er legte auf.

Den Rest des Morgens lief ich allein auf der Station herum, schnüffelte in Schubladen, Schränken und unter Betten, erkundete Vorratskammern, versuchte, mit losen Teeblättern und einem Sieb Tee zu machen, und veranstaltete, als meine Verfassung entsprechend war, auf dem wohlpolierten Flur vor den Patientenzimmern eine

Privatrutschweltmeisterschaft, die ich auch selbst (im Flüsterton) kommentierte. Als es halb zwei wurde und mir immer noch niemand gesagt hatte, ich solle Mittagspause machen, entließ ich mich und ging in die Kantine, wo ich mich mit einem Teller Bohnen, Fritten und einem mysteriösen Gegenstand, der mir später als gebratenes Frühstücksfleisch identifiziert wurde, allein an einen Tisch setzte und beobachtete, daß Mr. Smithson und ein paar Kollegen in eine überaus heitere Diskussion verwickelt waren und aus irgendeinem Grunde fröhliche Blicke in meine Richtung warfen.

Zurück auf der Station entdeckte ich, daß einige Patienten während meiner Abwesenheit wiedergekommen waren. Die meisten lagen im Tagesraum zusammen-gesunken in Sesseln und schliefen sich nach den Mühen des Morgens, den sie damit verbracht hatten, sich an einen Rechen zu lehnen oder Dübel abzuzählen und in Kisten zu legen, erst einmal richtig aus. Nur ein properer, redseliger Bursche im Tweedanzug schaute sich ein Match im Fernsehen an. Er bat mich, mich zu ihm zu setzen, und als er entdeckte, daß ich Amerikaner war, erklärte er mir begeistert diesen höchst verwirrenden Sport, Cricket. Ich hielt ihn für ein Mitglied des Personals, womöglich war er der Nachmittagsersatz für den mysteriösen Mr. Happy, womöglich ein Psychiater auf Besuch. Doch da drehte er sich plötzlich mitten in der detaillierten Beschreibung der Feinheiten des Spin Bowling zu mir um und vertraute mir locker übern Hocker an: »Ich hab Atomeier.«

»Wie bitte?« entfuhr es mir, in Gedanken noch beim Cricketspiel.

»Porton Down 1947. Experimente der Regierung. Alles streng geheim. Sie dürfen es niemandem erzählen.«

»Ah … nein, natürlich nicht.«

»Die Russen suchen mich.«

»Oh … äh?«

»Deshalb bin ich hier. Inkognito.« Er tippte sich bedeutungsvoll an die Nase und warf einen prüfenden Blick auf die dösenden Gestalten um uns herum. »Nicht übel hier, wirklich. Alles Verrückte natürlich. Es wimmelt von Irren, arme Dinger. Aber mittwochs gibt es immer leckeren Marmeladenstrudel. Ah, jetzt ist Geoff Boycott dran. Toller Spieler. Warten Sie’s nur ab, mit Bensons Wurf hat der keine Probleme.«

So waren die meisten Patienten auf der Station – nach außen hin völlig klar, aber ansonsten total durchgeknallt. Ein Land mit den Augen von Irren kennenzulernen, ist, wenn ich das mal sagen darf, sehr interessant und besonders nützlich als Einführung in das Leben in Großbritannien.

Und so vergingen die ersten Tage. Abends ging ich ins Pub, und tagsüber beaufsichtigte ich eine meist leere Station. Jeden Nachmittag gegen vier erschien eine Spanierin in rosa Overall mit klapperndem Teewagen, und die Patienten erwachten zum Leben, um sich eine Tasse Tee und ein Stück gelben Kuchen zu holen, und alle Jubeljahre schaute Mr. Happy vorbei, um Medizin auszuteilen oder neue Kekse zu ordern, ansonsten ging alles seinen geordneten Gang. Ich entwickelte ein passables Verständnis für Cricket, und mein Rutschen machte Fortschritte.

Das Krankenhaus, verstand ich mit der Zeit, war ein abgeschlossenes kleines Universum, buchstäblich autark. Es hatte eigene Schreiner, Elektriker, Klempner und Anstreicher, seinen eigenen Bus samt Fahrer, Badmintonplatz, Schwimmbad, Bonbonladen und Kapelle, Cricketplatz und Klub, Küchen, Nähstube und Wäscherei, einen Fußpfleger und einen Friseur. Einmal in der Woche zeigten sie einen Film in einer Art Ballsaal, und sie hatten sogar ihre eigene Leichenhalle. Die Patienten besorgten die Gartenarbeit, bei der man keine scharfen Werkzeuge brauchte, und hielten den Park makellos gepflegt. Es hatte etwas von einem Country-Club für Verrückte. Ich fühlte mich pudelwohl.

Eines Tages, während eines von Mr. Happys periodischen Besuchen – ich habe nie herausgefunden, was er während seiner Abwesenheit tat –, wurde ich zu einer Nachbarstation namens »Florence Nightingale« geschickt, um eine Flasche Thorazine zu borgen, mit dem wir die Patienten ruhigstellten. Flo, wie das Personal sie nannte, war eine seltsame, düstere Station. Die Menschen hier waren viel schwerer gestört, sie wanderten herum oder schaukelten unentwegt in Stühlen mit hohen Rückenlehnen. Während die Schwester mit rasselnden Schlüsseln losging, um das Thorazine zu holen, starrte ich die vor sich hinsabbelnden Massen an und dankte Gott, daß ich harte Drogen aufgegeben hatte. Am anderen Ende des Raums arbeitete eine hübsche, junge Schwester, die so viel reine Güte ausstrahlte und sich um diese hilflosen Wracks mit solch unerschöpflicher Energie und solchem Mitgefühl kümmerte, daß ich dachte: So einen Menschen, genau so einen brauche ich.

Sechzehn Monate später heirateten wir in der Kirche, an der ich nun auf dem Weg zur Christchurch Road vorbeiging. Die großen Häuser in der Christchurch Road hatten sich nicht verändert, außer, daß sie nun alle solche Alarmanlagen mit Scheinwerfern besaßen, die immer völlig unvermittelt spät in der Nacht aufleuchten.

Virginia Water ist ein interessanter Ort. Er wurde hauptsächlich in den Zwanzigern und Dreißigern gebaut und hat zwei schmale Geschäftsstraßen, die von einem dichten Netz Privatstraßen umgeben sind, die sich durch und um den berühmten Wentworth Golf Course winden. Zwischen den Bäumen stehen riesige, oft von VIPs bewohnte Villen, in einem Stil, den man Englische Regionalprotzarchitektur nennen könnte. Sie haben reichverzierte Dächer voller Giebel und überkandidelter Schornsteinköpfe, breite, unterschiedlich gestaltete Veranden, Fenster in seltsamen Größen, wenigstens einen kleinen ausladenden Kaminvorbau und massenhaft Kletterrosen über adretten kleinen Vorbauten. Als ich es zum erstenmal sah, glaubte ich durch die Seiten eines House and Garden-Hefts aus dem Jahre 1937 zu wandeln.

Was Virginia Water damals aber seinen besonderen Charme verlieh, und das meine ich ganz ernst, waren die herumwandernden Irren. Viele Patienten lebten seit Jahren, oft Jahrzehnten, in der Heilstätte, und man konnte die meisten durchaus ins Dorf lassen. Einerlei, wie wirr sie im Kopf waren oder wie stockend ihr Gang, egal, wie sehr sie murmelten und grummelten, sich plötzlich ganz unterwürfig gerierten oder auf hundertfache Weise demonstrierten, daß sie nur gemütlich zum Lunch aus waren, sie fanden stets den Weg nach Hause. Jeden Tag konnte man damit rechnen, hier oder dort auf ein lustiges Grüpplein Irrer zu stoßen, die Zigaretten oder Süßigkeiten kauften, eine Tasse Tee tranken oder leise ins Nichts hinein schimpften. So entstand eine der außer-gewöhnlichsten Gemeinden in England, Reich und Irr lebte friedlich miteinander. Sowohl die Bewohner als auch die Ladenbesitzer waren einfach großartig und verhielten sich nicht so, als sei hier was komisch, nur weil ein Mann mit wirrer Mähne und Schlafanzugjacke in der Ecke einer Bäckerei stand und einem Fleck an der Wand einen Vortrag hielt oder mit rollenden Augen und allen Anzeichen eines Lächelns an einem Ecktisch im Tudor

Rose saß und Zuckerstücke in seine Minestrone warf. Es war, und immer noch meine ich es ernst, ein Anblick, bei dem einem das Herz aufging.

Unter den etwa fünfhundert Patienten war ein bemerkenswertes, irres Genie namens Harry. Harry hatte den Verstand eines kleinen, monomanischen Kindes, aber man konnte ihm jedes beliebige Datum aus Gegenwart oder Zukunft nennen, und er sagte einem sofort, was für ein Wochentag es war. Wir testeten ihn oft mit einem ewigen Kalender, und er irrte sich nie. Man konnte ihn nach dem Datum des dritten Samstags im Dezember 1935 fragen oder des zweiten Mittwochs im Juli 2017, und er sagte es einem schneller als irgendein Computer. Noch außergewöhnlicher, wenn auch damals nur lästig, war seine Macke, sich mehrmals am Tage an das Personal zu wenden und mit seltsam weinerlicher Stimme zu fragen, ob das Krankenhaus 1980 geschlossen werde. Laut seiner umfangreichen ärztlichen Unterlagen war er von dieser Frage besessen, seit er 1950 als junger Mann eingewiesen worden war. Dabei war Holloway ein großes, wichtiges Sanatorium, und es gab nie Pläne, es zu schließen. Bis zu einer Sturmnacht Anfang 1980, als Harry ganz untypisch erregt ins Bett gebracht wurde – er hatte seine Frage nun schon seit Wochen mit immer stärkerer Eindringlichkeit gestellt –, ein Blitz in einen der hinteren Giebel einschlug, ein verheerendes Feuer verursachte, das sich über den Speicher und etliche Stationen ausbreitete, und das gesamte Gebäude von heute auf morgen unbewohnbar wurde.

Die Geschichte wäre noch besser, wenn der arme Harry, an sein Bett gefesselt, in der Feuersbrunst umgekommen wäre. Leider (nur weil die Geschichte so nicht halb so dramatisch ist) wurden alle Patienten sicher in die stürmische Nacht evakuiert, aber ich stelle mir immer gern vor, daß Harry mit verzücktem Lächeln auf den Lippen und Decke um die Schultern auf dem Rasen stand, das Gesicht von den tanzenden Flammen erleuchtet, und die Feuersbrunst beobachtete, die er dreißig Jahre lang so geduldig erwartet hatte.

Die Insassen wurden in den besonderen Trakt eines allgemeinen Krankenhauses nicht weit von Holloway, in Chertsey, gebracht, wo sie wegen ihrer unseligen Neigung, in den Stationen Chaos zu stiften und die geistig Gesunden zu ängstigen, schnell ihrer Freiheit beraubt wurden. Das Sanatorium moderte von da an still vor sich hin, die Fenster wurden mit Brettern verschlagen oder zerbrochen, und der noble Eingang von der Stroude Road wurde mit einem massiven Metalltor mit messerscharfem Stacheldraht obendrauf versperrt. Als ich Anfang der achtziger Jahre in London arbeitete, habe ich fünf Jahre in Virginia Water gewohnt und ab und zu angehalten, um einen Blick über die Mauer auf die verwahrlosten Parkanlagen und die trostlosen Ruinen zu werfen. Etliche Baufirmen wollten dort einen Büropark, ein Konferenzzentrum beziehungsweise eine Siedlung für Führungskräfte errichten. Sie stellten ein paar Container und Schilder hin, die einen strengstens vor den Hunden warnten, die diese Baustelle bewachten, aber nichts geschah. Länger als ein Jahrzehnt stand dieses feine alte Sanatorium, vermutlich eines der zwölf schönsten, noch existierenden viktorianischen Gebäude, einfach nur einsam und verlassen da und zerfiel. Ich erwartete also nun, daß sich nichts Wesentliches geändert hatte, und probte schon eine servile Bitte an den Wächter, damit er mich die Einfahrt hinauflaufen ließ und ich es schnell einmal anschauen konnte. Von der Straße aus konnte man nämlich von dem Gebäude selbst nicht viel sehen.

Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ich eine sanfte Böschung erklomm und ein in die Umfassungsmauer geschlagenes neues Eingangstor erblickte sowie ein großes Schild, das mich in Virginia Park willkommen hieß, und – ein völlig neuer Anblick – zu beiden Seiten des Sanatoriumgebäudes eine stattliche Anzahl schicker neuer Luxusheime.

Mit aufgerissenem Mund stolperte ich eine frisch-asphaltierte Straße entlang, an der die Häuser so neu waren, daß an den Fenstern noch die Aufkleber pappten und die Vorgärten Schlammseen waren. Eins der Häuser hatte man als Musterhaus hergerichtet, und da Sonntag war, schauten es sich viele Leute an. Im Inneren fand ich eine Hochglanzbroschüre mit Architektenzeichnungen von glücklichen, schlanken, durch hübsche Heime schlendernden Menschen. Andere lauschten in dem Zimmer, in dem ich früher in Gesellschaft zuckender Irrer Filme angeschaut hatte, einem Kammerorchester oder schwammen in einem Schwimmbad, das in den Boden der großen gotischen Halle eingelassen war, in der ich einmal Badminton gespielt und stammelnd eine junge Krankenschwester von der Station »Florence Nightingale« um ein Rendezvous gebeten hatte. Laut des ziemlich aufwendigen Begleittextes konnten die Bewohner von Virginia Park zwischen mehreren Dutzend freistehender Häuser für den gehobenen Bedarf wählen, etlichen Reihenhäusern und Etagenwohnungen oder einem von dreiundzwanzig nobler Apartments, in die man das restaurierte Sanatorium umgemodelt hatte, das nun mysteriöserweise Crosland House hieß. Der Plan der Anlage war übersät mit komischen Namen – Connolly Mews, Chapel Square, The Piazza –, die wenig mit deren früherer Existenz zu tun hatten. Viel angemessener wäre doch, dachte ich, wenn sie Namen wie Lobotomy Square oder Electroconvulsive Court genommen hätten. Die Preise begannen bei 350000 Pfund.

Ich ging wieder hinaus, um zu sehen, was ich für 350000 Pfund bekommen konnte. Ein eher kleines, aber schmuckes Heim auf einem bescheidenen Stückchen Erde mit einem interessanten Blick auf ein Irrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert! Ich kann nicht behaupten, daß ich davon mein Leben lang geträumt habe. Die Häuser waren aus rotem Backstein, hatten altmodische Schorn-steine, Hexenhausverzierungen und andere auf viktorianische Zeiten anspielende Elemente. Ein Modell, das eher profan als Haus Typ D bezeichnet wurde, krönte sogar ein Zierturm. Ja, sie sahen alle so aus, als seien sie Ableger des Sanatoriums. Das Wichtigste aber war, daß dieser tolle alte Klotz mit seinen glücklichen Erinnerungen für mich und Generationen faszinierender Irrer gerettet worden war. Ich zog den Hut vor den Bauherren und verabschiedete mich.

Eigentlich wollte ich nun zu meinem alten Heim schlendern, aber es war eine Meile entfernt, und mir taten die Füße weh. Statt dessen lief ich durch die Stroude Road, wo der alte Sanatoriumsklub nun von einem Gebäude beträchtlichter Häßlichkeit ersetzt worden war und sich die ehemaligen Wohnheime des Pflege-, Küchen- und Reinigungspersonals befanden. Ich wettete mit mir selbst um 100 Pfund, daß sie alle verschwunden und von Villen mit Doppelgaragen verdrängt sein würden, wenn ich das nächste Mal hier vorbeikam.

Ich ging die zwei Meilen nach Egham zu dem Haus einer reizenden Dame namens Mrs. Billen, die neben vielen anderen selbstlos-freundlichen Eigenschaften auch die besitzt, meine Schwiegermutter zu sein. Während sie mit dieser bezaubernden Aufgeregtheit in die Küche enteilte, mit der alle englischen Damen eines gewissen Alters Überraschungsgäste empfangen, wärmte ich mir die Zehen am Feuer und bedachte (denn in jenen Tagen befand ich mich in diesem Gemütszustand), daß dies das erste englische Haus war, das ich je betreten hatte, ohne zahlender Gast zu sein. Vor vielen Jahren hatte mich meine Frau an einem Sonntag nachmittag hier als ihren jungen Galan vorgestellt, und in diesem gemütlichen, mollig warmen, engen Wohnzimmer hatten wir, sie und ich und ihre Familie, zusammengehockt und ferngesehen. Meine eigene Familie hatte ich seit ungefähr 1958 nicht mehr bei einem, wenn man so will, geselligen Beisammensein getroffen, außer während ein paar krampfiger Stunden zu Weihnachten. Hier im Schoß einer Familie zu sitzen hatte den Reiz des Neuen.

Meine Schwiegermutter – Mum – servierte mir ein Essen, bei dessen Anblick ich mich einen Moment lang fragte, ob sie mich mit einer Gruppe Holzfäller verwechselte. Während ich mir gierig eine köstliche, dampfende Mahlzeit schmecken und mich dann mit Kaffee und vollem Magen zufrieden zurückplumpsen ließ, plauderten wir über dies und das – die Kinder, unseren bevorstehenden Umzug in die Vereinigten Staaten, meine Arbeit, wie es ihr nun als Witwe ging. Am späten Abend – das heißt, spät für ältere Herrschaften wie uns – geriet sie wieder in diese geschäftige Stimmung. Sie machte im ganzen Haus eine Menge fleißig klingender Geräusche und verkündete dann, das Gästezimmer sei fertig. Als ich nach einer Katzenwäsche dankbar in mein ordentlich aufgeschlagenes Bett mit Wärmflasche kletterte, fragte ich mich noch, warum die Betten bei Großeltern und Schwiegereltern immer so herrlich bequem sind, und war im nächsten Moment eingeschlafen.