Dreiundzwanzigstes Kapitel
Manchmal habe ich einen kleinen, zerfledderten Zeitungsausschnitt dabei, den ich zum Zwecke heimlichen Vergnügens herausziehe und lese. Es ist eine Wettervorhersage aus der Western Daily Mail, und es steht nur darin: »Aussichten: Trocken und warm, aber kühler und etwas Regen.«
Da haben Sie das englische Wetter mit ein paar dürren Worten perfekt auf den Punkt gebracht: trocken, aber regnerisch mit warmen/kühlen Abschnitten. Diese Vorhersage könnte die Western Daily Mail jeden Tag bringen – von mir aus, wirklich – und läge kaum je daneben.
Für einen Fremden ist das eindrucksvollste am englischen Wetter, daß es so wenig zu bieten hat. Alle Phänomene, die der Natur anderswo einen Hauch Aufregung, Unvorhersagbarkeit und Bedrohlichkeit verleihen – Tornados, Monsune, wütende Blizzards, Hagelstürme, bei denen man um sein Leben rennen muß –, sind auf den britischen Inseln so gut wie unbekannt, und mir soll’s recht sein. Ich ziehe gern jeden Tag des Jahres die gleiche Art Kleidung an. Ich weiß es zu schätzen, daß ich weder eine Klimaanlage noch Fliegendraht vor den Fenstern brauche, der Insekten und anderes flatterndes Getier fernhält, das mir das Blut aussaugt oder das Gesicht anknabbert, während ich schlafe. Ich bin froh, daß ich weiß, solange ich nicht im Februar den Ben Nevis in Pantoffeln erklimme, werde ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in diesem sanften, wohltemperierten Land nie den Elementen zum Opfer fallen.
Ich erwähne das hier, weil ich zwei Tage, nachdem ich Morecambe verlassen hatte, im Speisesaal des Old England Hotel in Bowness-on-Windermere frühstückte und in der Times einen Artikel über einen für die Jahreszeit sehr ungewöhnlichen Schneesturm las – einen »Blizzard« –, der Teile East Anglias »in seiner Gewalt« gehabt hatte. Das Blatt berichtete, der Sturm habe der Region mancherorts »mehr als fünf Zentimeter Schnee« beschert, was zu »bis zu fünfzehn Zentimeter hohen Schneeverwehungen führte«. Daraufhin tat ich etwas, was ich noch nie getan habe: Ich zog mein Notizbuch heraus und entwarf einen Brief an die Redaktion, in dem ich, freundlich und hilfsbereit, wie ich bin, daraufhinwies, daß fünf Zentimeter Schnee beileibe keinen Schneesturm, fünfzehn Zentimeter Schnee keine Verwehung hergäben und man von einem Blizzard reden könne, wenn man die Haustür nicht mehr aufbekomme. In Schneeverwehungen verliere man bis zum nächsten Frühjahr sein Auto, und von Kälte könne man erst sprechen, wenn man ein Stück seines Fleisches an Türgriffen, Briefkästen und anderen Metallgegenständen einbüße. Dann zerknüllte ich den Brief, weil ich ernsthaft in Gefahr war, mich in Colonel Blimp zu verwandeln. Diese stockreaktionären Exemplare saßen nämlich in beträchtlicher Anzahl mit ihren blimpischen Gattinnen um mich herum und aßen Cornflakes oder Porridge. Ohne sie könnten Hotels wie das Old England nicht überleben.
Ich war in Bowness, weil ich zwei Tage überbrücken mußte, bis zwei Freunde von mir aus London kamen, mit denen ich übers Wochenende wandern wollte. Darauf freute ich mich schon sehr; auf die Aussicht, noch einen langen, unnützen Tag in Bowness zu vertrödeln und zu versuchen, die leeren Stunden bis zum Abendessen zu füllen, allerdings weniger. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ich einfach nur eine bestimmte Anzahl Schaufenster voll Geschirrtüchern, Peter-Rabbit-Porzellan und Musterpullovern anschauen kann, bis mein Interesse am Einkaufen erlischt, und nun war ich mir nicht sicher, ob ich noch einen Tag Bummeln in diesem anstrengenden Urlaubsort überstehen würde.
Ich war auch nur deshalb nach Bowness gekommen, weil dort der einzige Bahnhof im Lake District National Park ist. Von der Morecambe Bay aus war es mir zudem als ausgesprochen reizvoll erschienen, ein paar friedliche Tage die gelassene Schönheit des Windermere und den üppigen Komfort eines noblen (wenn auch teuren) alten Hotels zu genießen. Nachdem aber nun ein Tag vorüber war und ein weiterer vor mir lag, fühlte ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen, und ich wurde ungeduldig wie am Ende einer langen Genesungszeit. Na, wenigstens, dachte ich frohgemut, hatten die für die Jahreszeit exorbitanten fünf Zentimeter Schnee, die East Anglia so grausam heimgesucht, Chaos auf den Straßen verursacht und die Leute gezwungen hatten, sich durch lebensgefahrliche, bis zu knöcheltiefe Schneeverwehungen zu kämpfen, diese Ecke Englands gnädigerweise verschont. Hier waren die Elemente gütig gestimmt, und die Welt außerhalb des Speisesaals funkelte schwach in der blassen winterlichen Sonne.
Ich beschloß, mit dem See-Dampfer nach Ambleside zu fahren. Da würde ich nicht nur eine Stunde totschlagen und den See anschauen können, sondern auch an einen Ort kommen, der schon eher wie eine Stadt und weniger wie ein Seebad an der falschen Stelle war. In Bowness gab es nämlich sage und schreibe achtzehn Pullover-Läden und wenigstens zwölf mit Peter-Rabbit-Zeugs, aber nur eine einzige Fleischerei. Und obwohl auch Ambleside durchaus mit den mannigfaltigen Möglichkeiten vertraut war, wie man sich an umherschweifenden Touristenhorden bereichert, hatte es wenigstens eine vorzügliche Buchhandlung und Unmengen Globetrotterläden, die ich nun wieder irrsinnig, wenn auch unerklärlicherweise unterhaltsam finde. Ich kann stundenlang Rucksäcke, Kniestrümpfe, Kompasse und Überlebensrationen inspizieren, dann in ein anderes Geschäft gehen und haargenau das gleiche wieder tun. Ich tigerte also nach dem Frühstück mit einer gewissen erregten Vorfreude zur Ablegestelle, wo ich leider feststellen mußte, daß die Dampfer nur in den Sommermonaten fahren, was an diesem milden Morgen kurzsichtig schien, denn selbst jetzt wimmelte es in Bowness von Ausflüglern. Durch die schlurfenden Touristengruppen bahnte ich mir einen Weg zu der kleinen Fähre, die zwischen dem Ort und dem alten Fährhaus am gegenüberliegenden Ufer hin und her tuckert. Das sind zwar nur ein paar hundert Meter, doch zumindest fährt sie das ganze Jahr.
Eine bescheidene Reihe Autos und acht bis zehn Wanderer mit Fleece Jacken, Rucksäcken und Bergschuhen warteten geduldig an der Zufahrt zur Fähre. Ein Mann trug sogar Shorts – bei einem britischen Wanderer immer ein Zeichen fortgeschrittener Demenz. Meine Liebe zum Wandern – das heißt, Wandern im britischen Sinn – hatte ich erst vor relativ kurzer Zeit entdeckt. Ich war zwar noch nicht so weit, daß ich Shorts mit vielen Taschen trug, aber ich hatte mir schon angewöhnt, die Hosenbeine in die Socken zu stopfen. (Wenn ich auch noch nie jemanden gefunden hatte, der mir erklärte, was das eigentlich für einen Nutzen bringt, außer daß man ernsthaft und der Sache verpflichtet aussieht.)
Als ich noch nicht lange in Großbritannien war, ging ich einmal in eine Buchhandlung und sah überrascht, daß eine ganze Abteilung »Wanderführern« vorbehalten war. Das fand ich reichlich ulkig, ja, bizarr, denn wo ich herkam, brauchten die Leute in der Regel keine schriftlichen Instruktionen, um sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Aber dann lernte ich allmählich, daß es in Großbritannien, grob gesagt, zwei Arten von Wandern gibt, nämlich das alltägliche, das einen ins Pub, und, wenn alles gutgeht, auch wieder nach Hause bringt, und das ernsthaftere, bei dem festes Schuhwerk, topographische Karten in Plastikhüllen, Rucksäcke mit Sandwiches und Thermosflaschen mit Tee und im letzten Stadium das Tragen von khakifarbenen Shorts auch bei unmöglichem Wetter unerläßlich sind.
Jahrelang hatte ich beobachtet, wie sich diese Wandervögel bei nasser, widrigster Witterung wolkenverhangene Berge hinaufschleppten, und sie für echt wahnsinnig gehalten. Doch dann fragte mich mein alter Freund John Price, der in Liverpool aufgewachsen ist und seine Jugend damit verbracht hat, Kletterpartien in felsigen Steilwänden im Lake District zu veranstalten, ob ich nicht mal mit ihm und ein paar Freunden an einem Wochenende einen Spaziergang – das Wort benutzte er – auf den Haystacks machen wollte. Ich glaube, die beiden harmlosen Worte »Spaziergang« und »Haystacks«, verbunden mit dem Versprechen, daß wir uns danach ordentlich einen hinter die Binde kippen würden, veranlaßten mich, meine natürliche Vorsicht aufzugeben.
»Bist du sicher, daß es nicht zu schwer ist?« fragte ich.
»Naah, nur ein Spaziergang«, wiederholte John.
Es war natürlich alles andere als das. Stundenlang kraxelten wir gewaltige, senkrechte Abhänge hoch, über rumpelnde Geröllhalden und dicke Grasbüschel, um hochaufragende Felszitadellen herum und gelangten hoch oben schließlich in ein kaltes, trostloses Totenreich, das so einsam und unwirtlich war, daß sogar die Schafe bei unserem Anblick erschraken. Dahinter lagen noch höhere und entferntere Gipfel, die von der schmalen, schwarzen Straße Hunderte von Metern unter uns völlig unsichtbar gewesen waren. John und seine Freunde spielten in der allerbrutalsten Weise mit meinem Lebenswillen. Wenn sie sahen, daß ich zurückblieb, lümmelten sie sich auf Felsbrocken, rauchten und schwatzen und ruhten sich aus, doch in dem Moment, in dem ich sie in der Absicht, zu ihren Füßen niederzusinken, einholte, sprangen sie erholt auf und marschierten mit ein paar aufmunternden Worten und großen männlichen Schritten weiter, so daß ich hinter ihnen herstolpern mußte und mich nie ausruhen konnte. Ich keuchte und geiferte und ächzte vor Schmerzen. Etwas auch nur entfernt so Widernatürliches hatte ich noch nie gemacht, und ich schwor mir, eine solche Dummheit auch nie wieder zu begehen.
Und als ich mich dann gerade hinlegen und nach einer Bahre rufen wollte, erklommen wir eine letzte Erhebung und befanden uns urplötzlich, wie durch Zauber, auf dem Gipfel der Erde, auf einer Terrasse im Himmel inmitten eines Ozeans wogender Bergkuppen. Ich hatte noch nie etwas auch nur halb so Schönes gesehen. »Ja, leck mich!« sagte ich in einem Augenblick besonderer Eloquenz: Ich war hin und weg. Seitdem war ich jedesmal mitgegangen, wenn sie mich mitnahmen, und hatte nie gemeckert und sogar angefangen, meine Hosenbeine in die Socken zu stopfen. Und konnte es nun bis zum nächsten Morgen gar nicht abwarten.
Die Fähre legte an, und ich schlurfte mit den anderen an Bord. Überaus entzückend lag der Windermere ruhig im sanften Sonnenlicht. Völlig unüblich störte auch kein einziges Boot seine gläserne Stille. Die Behauptung, daß dieser See bei Wassersportlern beliebt ist, ist eine unverantwortlich frivole Untertreibung. Etwa 14000 Motorboote – ich möchte diese Zahl wiederholen: 14000 – sind registriert. An einem gutbesuchten Sommertag sind vielleicht 1600 Motorboote gleichzeitig auf dem Wasser, von denen viele mit sechzig Stundenkilometern und Wasserskiläufern im Schlepptau vorbeizischen. Und das zusätzlich zu all den anderen Typen seetüchtiger Objekte, die nicht angemeldet werden müssen – den Schlauchbooten, Segelbooten, Surfbrettern, Kanus, Gummibooten, Luftmatratzen, diversen Ausflugsdampfern und der alten Tuckerfähre, auf der ich jetzt fuhr –, alle auf der Suche nach einem schiffsgroßen Stück Wasser. Wenn man an einem Augustsonntag an einem Seeufer im Lake District steht und Wasserskifahrer durch dicht gestaffelte Schlauchbootgeschwader und anderen schwimmenden Abfall brettern sieht, reißt man über kurz oder lang Mund und Augen auf und faßt sich an den Kopf.
Etwa ein Jahr zuvor war ich wegen eines Artikels für die National Geographie ein paar Wochen an den Seen gewesen, und dabei fiel für mich auch eine Fahrt mit einer Nationalparksbarkasse ab. Ein zweifelhaftes Vergnügen. Um mir zu zeigen, wie gefährlich es war, in Booten mit Hochleistungsmotoren über einen so befahrenen See zu rasen, steuerte der Parkaufseher das Gefährt hinaus in die Mitte des Gewässers, sagte, ich solle mich gut festhalten – woraufhin ich lächelte, immerhin mache ich neunzig Meilen auf der Autobahn –, und gab Gas. Hm, ich sage nur eins: Gegen vierzig Meilen pro Stunde in einem Boot sind vierzig Meilen auf der Straße nichts. Wir rasten los, ich wurde in den Sitz zurückgeschleudert, klammerte mich mit beiden Händen aus Leibeskräften fest, und dann schossen wir übers Wasser wie ein flacher Stein, der aus einem Gewehr abgefeuert wird. So starr vor Angst war ich selten. Selbst an dem ruhigen Morgen außerhalb der
Saison war der Windermere mit Hindernissen verstopft. Wir flitzten zwischen kleinen Inseln her und schrammten in Schräglage an Landzungen vorbei, die so plötzlich und bedrohlich auftauchten wie Schreckgespenster in der Geisterbahn. Wenn man sich vorstellt, daß diese Fläche von 1600 rasenden Booten befahren wird, die ein schmerbäuchiger Stadtidiot mit so gut wie keiner Erfahrung mit diesen Fahrzeugen steuert, plus all dem schwimmenden Treibgut aus Ruderbooten, Kajaks, Tretbooten und dergleichen, ist es doch ein Wunder, daß im Wasser nicht lauter Leichen sind.
Das Erlebnis lehrte mich zweierlei – erstens, daß Erbrochenes bei vierzig Meilen die Stunde in der Luft zerstäubt, und zweitens, daß der Windermere ein überaus kompaktes Gewässer ist. Und jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Trotz seiner immensen geographischen Vielfalt und zeitlosen Majestät ist Großbritannien ein überaus kleines Land. Kein einziges Naturdenkmal hat Weltniveau – es gibt keine Alpen, keine phantastischen Schluchten, nicht einmal einen großen Fluß. Man mag die Themse für eine wichtige Wasserader halten, aber im Weltmaßstab ist sie kaum mehr als ein ambitionierter kleiner Bach. Verlegte man sie nach Nordamerika, käme sie nicht einmal unter die ersten hundert. Um genau zu sein, sie würde auf Nummer 108 landen, deklassiert von solch relativen Unbekannten wie dem Skunk, dem Kuskokwim und sogar dem kleinen Milk. Der Windermere nimmt unter den englischen Seen einen Ehrenplatz ein, doch auf knapp achtzig Quadratzentimeter seiner Wasserfläche kommen fast zwei Quadratmeter des Oberen Sees. In Iowa gibt es ein Gewässer namens Dan Green Slough, von dem selbst die meisten Iowaner noch nie gehört haben, aber es ist größer als der Windermere. Der gesamte Lake District belegt weniger Fläche als die Twin Cities Minneapolis und St. Paul.
Mir gefällt das sehr – nicht daß alles so bescheiden in seinen Ausmaßen, sondern daß es wunderschön ist, obwohl es so bescheiden inmitten einer dichtbesiedelten Insel liegt. Denn das will was heißen! Haben Sie wirklich eine genaue Vorstellung davon, wie irrsinnig dicht besiedelt Großbritannien ist? Wußten Sie zum Beispiel, daß man, wenn man die gleiche Bevölkerungsdichte in Amerika erzielen wollte, die gesamte Einwohnerschaft von Illinois, Pennsylvania, Minnesota, Massachusetts, Michigan, Colorado und Texas einpacken und nach Iowa verfrachten müßte? Einen Tagesausflug vom Lake District entfernt leben zwanzig Millionen Menschen, und zwölf Millionen (grob geschätzt, ein Viertel der Bevölkerung Englands) kommen jedes Jahr zu den Seen. Kein Wunder, daß man an manchen Sommerwochenenden zwei Stunden braucht, um Ambleside zu durchqueren, und über den Windermere praktisch von Boot zu Boot laufen kann.
Aber selbst in der Hochsaison ist der Lake District immer noch bezaubernder und nicht so kommerziell und geldgeil wie viele berühmte, schöne Flecken in viel größeren Ländern. Und fern der Massen – fern von Bowness, Hawkshead und Keswick mit ihren Geschirrtüchern, Tea Rooms, Teekannen und dem ewigen Beatrix-Potter-Scheiß – bewahrt er Ecken purer Vollkommenheit, wie ich nun feststellte, als sich die Fähre an den Landesteg schob und wir hinaustaperten. Eine Minute lang wimmelte es an der Landestelle wie im Bienenhaus, eine Gruppe Autos fuhr von, eine andere an Bord, und die acht oder zehn Fußgänger entfernten sich in verschiedene Richtungen. Dann herrschte seliges Schweigen. Ich spazierte über einen hübsch bewaldeten Pfad um das Seeufer herum, wandte mich dann landeinwärts und begab mich nach Near Sawrey.
In Near Sawrey befindet sich Hilltop, das Cottage, wo die unvermeidbare Potter ihre süßen kleinen Aquarelle malte und ihre schmalzigen Stories ersann. Die meiste Zeit des Jahres ist es überlaufen von Touristen aus aller Herren Länder. Das Dorf besteht weitgehend aus großen (aber diskret gelegenen) Parkplätzen, und bei Gott, der Tea Room bietet seine Speisen sogar in Japanisch an. Aber die Wege zum Dorf sind aus jeder Richtung sehr reizvoll und unverdorben: eine Idylle aus Wiesen und Weiden, durchzogen von Schiefermauern, vereinzelten Wäldchen und geduckten, weißen Bauernhäusern. Dahinter locken die blauen Berge. Near Sawrey selbst besitzt einen betörenden, wohlbedachten Charme, den auch die alles überschwemmenden Massen, die hierherkommen und durch seine berühmteste Wohnstatt schlurfen, nicht zerstören können. Hilltop ist so besorgniserregend beliebt, daß der National Trust es nicht einmal mehr aktiv bewirbt. Die Touristen kommen trotzdem. Als ich ankam, spuckten zwei Busse plappernde weißhaarige Insassen aus, und der Hauptparkplatz war beinahe voll.
Da ich im Jahr zuvor schon in Hilltop gewesen war, wanderte ich daran vorbei über einen wenig bekannten Pfad zu einem kleinen, etwas höher gelegenen Bergsee. Hier ist die alte Mrs. Potter immer hergekommen und mit einem Ruderboot herumgepaddelt – ob sie aus gesund-heitlichen Gründen Sport treiben oder sich geißeln wollte, entzieht sich meiner Kenntnis –, aber der See war wunderhübsch und anscheinend ganz vergessen. Ich hatte das deutliche Gefühl, daß ich seit Jahren der erste Besucher war. In der Nähe flickte ein Bauer ein Stück zusammengefallene Mauer, und ich blieb stehen und beobachtete ihn eine Weile aus diskreter Entfernung. Denn wenn etwas noch besänftigender ist, als eine Bruchsteinmauer zu reparieren, dann, jemanden dabei zu beobachten. Ich erinnere mich, wie ich einmal, kurz nachdem wir in die Yorkshire Dales gezogen waren, einen Spaziergang machte und einen mir flüchtig bekannten Bauern traf, der eine Mauer auf einem einsamen Berg instand setzte. Es war ein mieser Januartag mit Nebel und Regen, und im Grunde gab es keinen triftigen Grund, daß er die Mauer wieder aufbaute. Die Wiesen auf beiden Seiten gehörten ihm, und das Gatter dazwischen stand sowieso immer offen, so daß die Mauer auch keine praktische Funktion hatte. Ich blieb eine Weile stehen, beobachtete ihn und fragte schließlich, warum er hier im kalten Regen die Mauer repariere. Er schaute mich mit diesem besonderen schmerzlichen Ausdruck an, den die Farmer in Yorkshire Gaffern und anderen Toren vorbehalten, und sagte: »Natürlich, weil sie zusammengefallen ist.« Daraus lernte ich, nie wieder einem Farmer aus Yorkshire eine Frage zu stellen, die nicht mit »ein Pint Tetley’s« beantwortet werden kann, und daß die britische Landschaft vor allem deshalb so unsäglich schön und zeitlos ist, weil so viele Bauern aus welchem Grund auch immer die Mühe auf sich nehmen, sie in ihrer Schönheit zu erhalten.
Mit Geld hat es kaum etwas zu tun. Wußten Sie, daß die Regierung pro Kopf und Jahr weniger für die National-parks ausgibt als Sie für eine einzige Tageszeitung? Daß sie dem Königlichen Opernhaus in Covent Garden mehr gibt als allen zehn Nationalparks zusammen? Daß der Jahresetat für den Lake District National Park, ein Gebiet, das weit und breit als schönstes und ökologisch empfindlichstes gilt, 2,4 Millionen Pfund beträgt, ungefähr soviel wie der für eine einzige große Gesamtschule? Mit dieser Summe muß die Parkverwaltung den Park managen, zehn Informationszentren betreiben, 127 Vollzeitangestellte und – im Sommer – 40 Teilzeitbeschäftigte bezahlen, Gerätschaften und Wagen unter-halten und ersetzen, Landschaftsverbesserungen finanzieren, Bildungsprogramme durchführen und als lokale Baubehörde fungieren. Daß der Lake District durchweg so wunderbar und erholsam ist und zudem so sorgfältig erhalten wird, spricht gewaltig für die Leute, die hier arbeiten, leben und zu Besuch sind. Neulich habe ich gelesen, daß mehr als der Hälfte einer Gruppe von Briten, auf die Frage, auf was in ihrem Land sie stolz sein könnten, nichts einfiel. Na, dann sollen sie darauf stolz sein!
Ein paar Stunden lang stapfte ich glücklich und zufrieden durch die üppige, heitere Landschaft zwischen Windermere und Conisten Water und wäre gern noch länger geblieben, aber es begann zu regnen – ein steter, nerviger Regen, für den ich Trottel wanderkleidungsmäßig nicht gerüstet war –, und ich hatte auch Hunger. Deshalb ging ich zur Fähre und fuhr nach Bowness zurück.
Und eine Stunde und ein überteuertes Thunfisch-Sandwich später war ich zurück im Old England, starrte durch ein großes Fenster auf den nassen See hinaus und war so richtig lustlos und gelangweilt, wie es sich an verregneten Nachmittagen in einer feudalen Umgebung gehört. Um eine halbe Stunde herumzubringen, ging ich in den Salon und sah zu, ob ich nicht ein Kännchen Kaffee auftreiben konnte. Locker im Raum verteilt saßen alternde Colonels samt Gattinnen und schlampig gefalteten Daily Telegraphs.
Die Colonels waren alle kurze, dicke Burschen mit Tweedjacket, pomadisiertem Silberhaar, rauhem Gebaren, das ein Herz aus Stein verbarg, und einem schmissigen Humpeln, wenn sie sich durch den Raum bewegten. Ihre großzügig gerougten und gepuderten Gattinnen sahen alle aus, als kämen sie gerade von einer Sarganprobe. Ich fühlte mich ernsthaft fehl am Platze und war deshalb überrascht, als mich eine grauhaarige Lady, die sich offenbar bei einem Erdbeben die Lippen geschminkt hatte, im freundlichen Plauderton ansprach. In einer solchen Situation brauche ich immer einen Moment, bis mir einfällt, daß ich nun ein einigermaßen ehrbar aussehender Mann mittleren Alters bin und kein schlaksiger junger Bauernbursche mehr, geradewegs von den Kornfeldern Iowas.
Wie das so üblich ist, begannen wir mit ein paar Worten über das garstige Wetter, aber als die Frau merkte, daß ich Amerikaner bin, schweifte sie sofort ab und ließ sich ausführlich über einen Trip aus, den sie und Arthur – Arthur war der schüchtern lächelnde Dämlack neben ihr – kürzlich zu Freunden in Kalifornien gemacht hatten. Und langsam verwandelte sich das Gespräch in eine vermutlich oft heruntergeleierte Tirade über die Unzulänglichkeiten der Amerikaner. Ich werde nie begreifen, was sich die Leute eigentlich dabei denken. Glauben sie, ich weiß ihren Freimut zu schätzen? Nehmen sie mich auf den Arm? Oder vergessen sie schlicht und ergreifend, daß ich auch zu dieser minderen Spezies gehöre? Sie reden zum Beispiel auch oft völlig ungeniert mit mir über das Problem der Einwanderung.
»Die Amerikaner sind so aufdringlich, finden Sie nicht?« Die Lady rümpfte die Nase und trank einen Schluck Tee. »Man braucht nur fünf Minuten mit einem Fremden zu plaudern, und schon denkt er, man ist sein Freund. In Encino hat mich doch tatsächlich ein Mann – ein pensionierter Postangestellter oder so was – um meine Adresse gebeten und gesagt, wenn er das nächste Mal in England sei, wolle er vorbeikommen! Können Sie sich das vorstellen? Ich kannte den Mann überhaupt nicht!« Wieder nahm sie einen Schluck Tee und dachte einen Moment nach.
»Seine Gürtelschnalle war sehr ungewöhnlich. Ganz aus Silber und mit kleinen Edelsteinen.«
»Mir macht das Essen zu schaffen«, sagte ihr Gatte und reckte sich ein wenig, um einen Monolog zu beginnen, aber es wurde rasch deutlich, daß er zu den Männern gehörte, die in Gegenwart ihrer Gattinnen nie über den ersten Satz einer Geschichte hinauskommen.
»O ja, das Essen!« rief sie und bemächtigte sich des Themas.
»Die Amerikaner haben eine recht ungewöhnliche Einstellung zum Essen.«
»Wieso, weil sie schmackhaftes Essen mögen?« erkundigte ich mich mit einem matten Lächeln.
»Nein, mein Lieber, es geht um die Portionen. Die Portionen in Amerika sind richtiggehend obszön.«
»Einmal habe ich ein Steak bekommen …« begann der Mann mit einem kleinen Gluckser.
»Und was sie der Sprache antun! Sie können einfach kein Queen’s English.«
Moment mal. Solche Herrschaften können über amerikanische Essensportionen und freundliche Typen mit bunten Gürtelschnallen sagen, was sie wollen, aber bei der Diskussion über das amerikanische Englisch verstehe ich keinen Spaß. »Warum sollten sie Queen’s English sprechen?« fragte ich eine Spur frostig.
»Es ist ja nicht ihre Königin.«
»Aber was sie für Worte gebrauchen. Und die Akzente! Welches Wort war es noch, daß dir so mißfallen hat, Arthur?«
»›Normalcy‹«, sagte Arthur. »Einmal habe ich einen Burschen kennengelernt …«
»Aber ›normalcy‹ ist kein Amerikanismus«, sagte ich.
»Es ist in Großbritannien geprägt worden.«
»O nein, das glaube ich nicht, mein Lieber«, sagte diese dumme Pute im Brustton der Überzeugung und bedachte mich mit einem herablassenden Lächeln. »Nein, ganz bestimmt nicht.«
»1687«, sagte ich. Eine dreiste Lüge. Das heißt, nicht ganz; »normalcy« ist ein Anglizismus. Ich konnte mich nur nicht an Einzelheiten erinnern. Aber dann hatte ich einen Geistesblitz.
»Daniel Defoe benutzt es in seinem Buch Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders.« Wenn man als Amerikaner in England lebt, gewöhnt man sich an die ewige Behauptung, Amerika sei der Tod der englischen Sprache. Das erzählt man mir gern und oft, normalerweise bei Dinnerparties, und normalerweise ist es jemand, der ein bißchen zu tief ins Glas geschaut hat. Manchmal auch eine nicht zurechnungsfähige, zu stark gepuderte alte Zicke wie die hier. Und irgendwann verliert man die Geduld. Ich sagte ihr also – ich sagte ihnen, denn ihr Gatte sah aus, als wolle er auch noch einen schlichten Gedanken äußern –, ob es ihnen nun passe oder nicht, die britische Sprache sei über die Maßen durch in Amerika geprägte Worte bereichert worden, Worte, ohne die sie gar nicht auskämen, und eines davon sei »moron«, Schwachkopf. Ich grinste zähnefletschend, trank meinen Kaffee aus und entschuldigte mich einen Hauch arrogant. Dann ging ich weg, um noch eine Epistel an die Redaktion der Times zu entwerfen.
Als John Price und ein sehr netter Bursche namens David Partridge am nächsten Morgen um 11 Uhr in Prices Auto vor dem Hotel vorfuhren, erwartete ich sie schon an der Tür. Mit der Begründung, ich könne das Kaff nicht länger ertragen, verbot ich ihnen, in Bowness eine Kaffeepause zu machen und hieß sie zu dem Hotel in der Nähe von Bassenthwaite fahren, wo Price uns Zimmer gebucht hatte. Dort ließen wir unser Gepäck, tranken etwas, erwarben in der Küche drei Lunchpakete, warfen uns in schicke Bergklamotten und machten uns zum Great Langdale auf. Na bitte, jetzt kamen wir der Sache doch schon näher.
Obwohl das Wetter wenig verheißungsvoll und es ja auch schon spät im Jahr war, drängten sich an den Parkplätzen und Straßenrändern im Tal die Autos. Überall wühlten Leute in Kofferräumen und holten ihre Ausrüstung heraus oder saßen in offenen Autotüren und zogen sich warme Socken und festes Schuhwerk an. Auch wir schnürten unsere Schuhe, schlossen uns einer wilden Armee Wanderer mit Rucksäcken und wollenen Kniestrümpfen an und begannen einen langen buckligen Berg namens Band zu erklimmen. Unser Ziel war der legendäre Gipfel des Bow Fell, mit 892 Metern die sechsthöchste Erhebung im Lake District. Vor uns bewegten sich Farbtupfer langsam und in gebührendem Abstand voneinander auf eine absurd weit entfernte Bergspitze zu, die in den Wolken verschwand. Wie immer war ich insgeheim erstaunt, daß so viele Leute von der Vorstellung besessen waren, es sei ein Spaß, sich an einem feuchten, schon winterlichen Samstagmorgen Ende Oktober einen Berghang hinaufzukämpfen.
Durch die grasbewachsenen, niedrigeren Hänge kletterten wir in immer kargeres Terrain, suchten uns über Fels und Geröll einen Weg, bis wir oben in den zottigen Wolkenfetzen anlangten, die über die Talsohle 300 Meter weiter unten trieben. Die Ausblicke waren sensationell – die gezackten Gipfel der Langdale Pikes erhoben sich gegenüber und umdrängten das enge und nun erfreulich weit entfernte Tal mit seinen winzigen, von Steinmauern eingefaßten Wiesen, und im Westen wogte ein Meer von braunen Bergmassiven, die in Nebel und niedrigen Wolken verschwanden.
Als wir weitermarschierten, wurde das Wetter erheblich schlechter. Eisstückchen wirbelten durch die Luft und schnitten uns in die Haut wie Rasierklingen. Und als wir uns Three Tarns näherten, wurde es wahrhaft bedrohlich. Dichter Nebel gesellte sich zu dem scharfen Eisregen, grimmige Windböen schlugen gegen den Berghang und reduzierten unsere Marschgeschwindigkeit auf ein Schneckentempo. Der Nebel begrenzte die Sicht auf ein paar Meter. Ein, zweimal gerieten wir vom Wege ab, was mich in Angst und Schrecken versetzte, weil ich eigentlich nicht hier oben sterben wollte – abgesehen von allem anderen, hatte ich noch 4700 Treuepunkte auf meiner Barclaycard, für die ich mir was aussuchen durfte. Da tauchte aus der Düsternis vor uns etwas auf, das beunruhigend wie ein orangefarbener Schneemensch aussah. Bei näherer Inspektion entpuppte es sich als ein Hightech-Wanderoutfit. Irgendwo drinnen steckte ein Mann.
»Bißchen frisch«, meinte das Bündel, leicht untertreibend.
John und David fragten ihn, ob er von weit herkomme.
»Nein, vom Blea Tarn.« Blea Tarn war zehn Meilen entfernt – über anstrengendes Gelände.
»Schlecht dort?« fragte John in der Diktion, die ich jetzt schon als die lakonische Sprache britischer Wanderer erkannte.
»Auf allen vieren«, sagte der Mann.
Sie nickten. Alles klar.
»Bald ist es hier auch so.«
Wieder nickten sie.
»Na, ich troll mich mal«, verkündete der Mann, als könne er nicht den ganzen Tag verquatschen, und stapfte ab in die weiße Suppe. Ich sah ihm hinterher, und als ich mich wieder umdrehte, weil ich zart zu bedenken geben wollte, ob wir nicht eventuell den Rückzug ins Tal antreten sollten, in eine warme Herberge mit heißem Essen und kaltem Bier, sah ich nur noch, wie Price und Partridge von den Nebeln zehn Meter vor mir verschluckt wurden.
»He, wartet auf mich!« krächzte ich und kraxelte hinter ihnen her.
Wir schafften es ohne weitere Vorkommnisse zur Spitze. Ich zählte dreiunddreißig Leute, die sich dort mit Sandwiches, Thermosflaschen und wild flatternden Karten an die vom Nebel weißen Felsbrocken drückten, und versuchte mir vorzustellen, wie ich das einem ausländischen Zuschauer erklären würde – drei Dutzend Engländer machen in einem Eissturm auf einem Berggipfel Picknick –, und stellte fest, daß es nicht zu erklären war. Wir trotteten zu einem Felsen, wo ein liebenswürdiges Paar seine Rucksäcke wegschob und auf ein Stück seines Picknickplatzes verzichtete, damit wir auch noch hinpaßten. Wir setzten uns, wühlten in dem schneidenden Wind in unseren braunen Tüten herum, schlugen mit tauben Fingern hartgekochte Eier auf, schlürften lauwarme Limo, futterten schlabbrige Käse-Pickle-Sandwiches, und starrten in die undurchdringliche Finsternis, durch die wir drei Stunden geklettert waren, um hierher zu gelangen, und ich dachte, wirklich, ich dachte ganz ernsthaft: Mein Gott, ich liebe dieses Land!