Sechzehntes Kapitel
Ich verbrachte einen netten Abend in Lincoln, wanderte vor und nach dem Dinner durch seine steilen, uralten Straßen, bewunderte die riesige, dunkle kompakte Kathedrale mit ihren zwei gotischen Türmen und freute mich sehr darauf, sie am nächsten Morgen zu besichtigen. Ich mag Lincoln, teils, weil es so hübsch und gut erhalten, teils, weil es so angenehm abgeschieden ist. Es wurde einmal als Mont Saint Michel auf dem Festland bezeichnet, weil es sich über das große Meer der Ebene von Lincolnshire erhebt, und der Vergleich stimmt. Wenn man auf die Karte schaut, sind Nottingham und Sheffield gleich um die Ecke, aber man hat das Gefühl, als sei Lincoln weit weg und ganz vergessen. Und das gefällt mir sehr.
Ungefähr zur Zeit meines Besuches stand im Independent ein interessanter Bericht über einen seit langem schwelenden Streit zwischen dem Dekan der Kathedrale und seinem Finanzdezernenten. Offenbar hatte letzterer mit Frau, Tochter und einem Freund der Familie sechs Jahre zuvor die kostbare Kopie der Magna Charta aus dem Besitz der Kathedrale auf eine sechsmonatige Ausstellungstournee durch Australien mitgenommen, um Gelder aufzutreiben. Dem Independent zufolge hatten die australischen Besucher der Ausstellung in dem halben Jahr insgesamt magere 938 Pfund gespendet, was den Schluß nahelegt, daß die Australier entweder ungewöhnlich knickerig sind oder der gute alte Independent ein ganz kleines bißchen sorglos mit den Fakten umgeht. Wie dem auch sei, die Tour war ein finanzielles Desaster. Sie machte einen Verlust von mehr als 500000 Pfund – recht bedacht, ein happiger Betrag für vier Leute und ein Stück Pergament. Einen Großteil der Schulden hatte freundlicherweise die australische Regierung beglichen, doch die Kathedrale plagte sich immer noch mit einem Minus von 56000 Pfund herum. Zum Schluß ging der Dekan mit der Story an die Presse und verursachte einen Aufschrei der Empörung im Kapitel; der Bischof von Lincoln ließ die Angelegenheit untersuchen und befahl dem Kapitel zurückzutreten, das Kapitel weigerte sich, und nun war so ungefähr jeder auf jeden wütend. Und das seit sechs Jahren.
Als ich also die wunderschöne, ungeheuer große, hallende Kathedrale betrat, hatte ich ja sehr gehofft, daß Gesangbücher durch die Gegend flogen und im Querschiff Kirchenmänner ganz unziemlich miteinander rangen, doch es war alles enttäuschend ruhig. Ja, ich hatte sogar das Vergnügen, in dem Kirchengebäude kaum von einherschlurfenden Touristentrupps gestört zu werden. Angesichts der Horden, die Salisbury, York, Canterbury, Bath und so viele andere große Kirchen in England heimsuchen, mutet es wie ein kleines Wunder an, daß Lincoln immer noch relativ unbekannt ist. Man findet schwerlich einen architektonisch so majestätischen Bau, der offenbar nur wenigen Eingeweihten bekannt ist – mit Ausnahme Durhams vielleicht.
Das Hauptschiff war vollgestellt mit Metallpolsterstühlen. Das habe ich nie verstanden. Warum keine Holzstühle? In jeder englischen Kathedrale, die ich je gesehen habe, stehen mehr oder weniger unordentliche Reihen von Stühlen, die man zusammenklappen oder wegstapeln kann. Warum? Räumen sie die Stühle zum Volkstanz weg oder was? Ganz egal, wieso, sie sehen immer billig und in der sie umgebenden Pracht hoher, aufstrebender Gewölbe, Buntglasfenster und gotischer Maßwerke völlig fehl am Platze aus. Manchmal zerreißt es einem schier das Herz, in einem Zeitalter solch extremen Preisbewußtseins zu leben. Andererseits bemerkt man durch die modernen Entgleisungen erst recht, wie verschwenderisch man sich früher der Kunstfertigkeiten von Steinmetzen, Glasgießern und Holzschnitzern bediente und wie wenig man mit den Materialien geizte.
Ich wäre gern noch geblieben, aber ich mußte einen lebenswichtigen Termin einhalten. In Bradford gab es eine der – wie ich finde – aufregendsten cineastischen Darbietungen der Welt zu sehen. Am ersten Samstag jeden Monats zeigt Pictureville Cinema, das zu dem großen, allseits beliebten Museum of Photography, Film und Was-weiß-ich gehört, die Originalversion von This Is Cinerama. An keinem anderen Ort der Welt kann man dieses herrliche kinematographische Kunstwerk noch sehen, und dieser Tag nun war der erste Samstag des Monats.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freute. Ich war schon ganz zappelig vor Angst, daß ich meinen Anschluß in Doncaster verpassen würde, und dann bibberte ich, daß ich den in Leeds nicht schaffte, aber ich erreichte Bradford überaus rechtzeitig – fast drei Stunden zu früh, was mich nun auch wieder leicht ins Zittern brachte, denn was macht man in Bradford, wenn man drei Stunden totzuschlagen hat?
Bradford hat die Rolle seines Lebens darin gefunden, jeden anderen Ort auf diesem Planeten im Vergleich besser abschneiden zu lassen, und es spielt sie sehr gut. Auf meiner gesamten Reise sollte ich keine Stadt erleben, der man deutlicher ansah, wie verzweifelt sie war. Nirgendwo bin ich an mehr leeren Geschäften vorbeigekommen, deren Fensterscheiben weiß überstrichen oder mit zerrissenen Plakaten für Popkonzerte in dynamischeren Gemeinwesen wie zum Beispiel Huddersfield und Pudsey bepflastert waren, oder an mehr Bürogebäuden mit »Zu Vermieten«-Schildern. Mindestens jeder dritte Laden im Stadtzentrum war leer, und der Rest krepelte auch nur noch vor sich hin. Bald nach meinem Besuch kündigte Rackham’s, das größte Kaufhaus dort, seine baldige Schließung an. Das, was überhaupt noch an Leben existierte, hatte sich in einen charakterlosen Komplex namens Arndale Centre verzogen. (Und übrigens, warum heißen die Einkaufszentren aus den Sechzigern immer Arndale Centre?) Bradford schien einem tödlichen, irreversiblen Verfall preisgegeben zu sein.
Es war einstmals einer der großartigsten Komplexe viktorianischer Architektur weit und breit, aber jetzt würde man das kaum mehr erraten. En masse wurden die schönsten Häuser abgerissen, damit Platz war für neue, breite Straßen und Büroklötze mit angestrichenen Sperrholzinlets unter den Fenstern. Fast alles leidet unter dem gutgemeinten, aber stümperhaften Pfusch der Stadtplaner. Viele Hauptstraßen haben solche Zebrastreifen, die man in Etappen nimmt – auf der ersten schafft man es bis zu der Insel in der Mitte, dann wartet man Schulter an Schulter mit Unbekannten noch einmal lange, bevor man vier Sekunden bekommt, um auf die andere Seite zu sprinten –, was schon die einfachsten Besorgungen lästig macht, besonders wenn man diagonal auf die andere Seite hinüber will und an vier Ampeln warten muß, um eine Nettodistanz von 27 Metern zurückzulegen. Noch schlimmer, auf der Hall Ings und dem Princes Way wird der vom Schicksal gebeutelte Fußgänger in mehrere trostlose, bedrohliche Unterführungen gezwungen, die in große, runde Plätze münden und zum Himmel hin offen sind, aber immer im Schatten liegen und so schlecht entwässert werden, daß, habe ich gehört, während eines Platzregens schon einmal jemand ertrunken ist.
Es überrascht Sie sicher nicht, wenn ich Ihnen erzähle, daß ich mir über diesen planerischen Wahnsinn immer sehr viel den Kopf zerbrochen habe. Eines Tages holte ich mir aus der Bücherei von Skipton ein Buch mit dem Titel Bradford – Unsere Stadt von morgen oder so ähnlich. Es stammte aus den späten Fünfzigern oder frühen Sechzigern und enthielt jede Menge Schwarz-weiß-Perspektivzeichnungen von glitzernden Fußgängerzonen mit wohlhabenden, selbstbewußt einherschreitenden, Strichmännchen ähnlichen Gestalten und Bürogebäuden des Typus, der sich nun drohend über mir erhob. Und da begriff ich jäh und mit erstaunlicher Klarheit, was sie versuchten. Sie glaubten nämlich wirklich, sie bauten eine neue Welt – ein Großbritannien, in dem die düsteren, rußgeschwärzten Häuser und engen Straßen der Vergangenheit abgerissen und von sonnigen Plätzen, blitzblanken Bürogebäuden, Büchereien, Schulen und Krankenhäusern ersetzt würden, die durch buntgekachelte, unterirdische Wege miteinander verbunden wären, auf denen sich die Fußgänger ungefährdet vom vorbeifließenden Verkehr bewegen konnten. Alles sah hell und sauber und fröhlich aus. Es gab sogar Bilder von Frauen mit Kinderwagen, die auf den runden Plätzen unter freiem Himmel stehenblieben und ein Schwätzchen hielten. Dabei herausgekommen ist nun eine Stadt mit leeren, heruntergekommenen Bürohochhäusern, abschreckenden Straßen, Fußgängerabflußrohren und wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit. Das wäre vielleicht eh passiert, aber dann hätten wir wenigstens eine Stadt mit zerbröckelnden alten Häusern statt zerbröckelnden neuen gehabt.
Mit einer Geste, die ebenso zum Lachen wie zum Weinen ist, versuchen die Behörden heutzutage, ihren mageren Vorrat an alten Gebäuden zu promoten. In einer bescheidenen Ansammlung enger Straßen an einem Hang, der gerade weit genug vom Stadtzentrum entfernt war, daß er den Bulldozern entkam, stehen immer noch etwa drei Dutzend große, eindrucksvolle Lagerhäuser, die meisten zwischen 1806 und 1874 in einem selbstbewußten, klassizistischen Stil erbaut. Sie sehen eher aus wie Handelsbanken als Wollagerhallen, so daß die Gegend den Namen Little Germany erhielt. Früher gab es jede Menge solcher Viertel – ja die ganze Stadtmitte bestand noch bis in die fünfziger Jahre hinein so gut wie nur aus Lagerhäusern, Fabriken, Banken und Bürohäusern, die sich ausschließlich dem Wollhandel verschrieben hatten. Und dann – der Himmel weiß, warum – ging es mit dem Wollgeschäft einfach zu Ende. Die Fabriken verschwanden, die Büros wurden dunkel, die einst geschäftige Wollbörse verkümmerte zu einem staubigen Nichts, und man würde nun nie glauben, daß Bradford einmal groß und bedeutend war.
Von all den blühenden Wollvierteln der Stadt – Bermondsey, Cheapside, Manor Row, Sunbridge Road – haben nur ein paar Gebäude von Little Germany überlebt, und selbst dieses hoffnungslose kleine Viertel wirkt irgendwie trostlos, als ob es keine Zukunft habe. Zur Zeit meines Besuchs waren zwei Drittel der Häuser eingerüstet, und der Rest war »Zu vermieten«. Die renovierten sahen schick und edel aus, aber trotzdem so, als würden sie für immer und ewig leerstehen und zur Gesellschaft auch noch die zwei Dutzend anderen bekommen, die gerade renoviert wurden.
Es wäre doch eine gute Idee, dachte ich, wenn die Regierung Milton Keynes evakuieren und die Versicherungsgesellschaften und andere Firmen anweisen würde, in Städte wie Bradford zu ziehen, damit in diesen echten Städten wieder ein bißchen Leben entstünde. Dann würde Milton Keynes wie Little Germany jetzt werden, ein Ort der Leere, durch den die Leute Spazierengehen und sich ihre Gedanken machen könnten. Aber das wird natürlich nie geschehen. Die Regierung würde so etwas nie anordnen, und die Marktkräfte würden es auch nicht bewirken, denn die Firmen wollen große, moderne Gebäude mit viel Parkraum. Wer kann ihnen das verübeln? Und außerdem: selbst wenn ein Wunder geschehen und man für diese herrlichen alten Bauten Mieter finden würde, bliebe es doch immer nur eine kleine, gut erhaltene Enklave im Herzen einer sterbenden Stadt.
Trotzdem hat auch Bradford seine Reize. Das Alhambra Theatre, 1914 in einem aufregend überladenen Stil mit Minaretten und Türmen erbaut, ist kostspielig und gekonnt renoviert worden und (mit Ausnahme vielleicht des Empire in Hackney) immer noch das beste Theater für Weihnachtsspiele. (Die ich im übrigen absolut liebe.) Ein paar Wochen nach diesem Besuch fuhr ich wieder dorthin, um Billy Pearce in Aladdin zu sehen. Ob ich gelacht habe? In die Hose habe ich mir gemacht! Das Museum of Film, Photography, Imax Cinema und noch was (ich kann mir den genauen Namen einfach nicht merken) hat einen willkommenen Lebensfunken in eine Ecke der Stadt gebracht, die in puncto Unterhaltungswert auf die schrecklichste Eissporthalle der Welt setzen mußte. Es gibt ein paar gute Pubs. In einem, dem Mannville Arms, trank ich ein Bier und aß eine Portion Chili. Das Mannville ist in Bradford so bekannt, weil der Yorkshire Ripper sich dort rumgetrieben hat, es sollte aber wegen seines Chili berühmt sein, das ist nämlich hervorragend.
Danach hatte ich immer noch eine Stunde Zeit. Ich ging zum Museum of Television, Photography und tralala, das ich wertschätze, weil man gratis hineinkommt und weil ich solche Einrichtungen gerade in der Provinz sehr löblich finde. Ich schaute mich in den verschiedenen Ausstellungsräumen um und sah mit einem gewissen Erstaunen, wie sich Heerscharen von Leuten von erheblichen Summen Geldes trennten, um die Imax-Show um zwei Uhr zu sehen. Ich habe diese Imax-Vorführungen schon häufiger gesehen und verstehe, ehrlich gesagt, ihren Reiz nicht. Ich weiß, die Leinwand ist riesengroß und die Bildwiedergabe umwerfend, aber die Filme sind immer sturzlangweilig, und man muß sich die todernsten, bleiernen Kommentare anhören, wie die Menschheit dies erobert oder in Erfüllung ihres Schicksals jenes vollbracht hat. Die letzte Vorstellung, zu der die Massen strömten, hieß wahrhaftig Schicksal im Weltraum, dabei sieht doch ein Blinder mit Krückstock, daß die Zuschauer nur eine Fahrt mit der Achterbahn und einen kleinen Sturzkampfflug erleben wollen, so nach dem Motto:
»Vorsicht! Hier kommt mein Mittagessen.«
Die Leute bei Cinerama Corporation begriffen das vor etwa vierzig Jahren sehr gut und machten die todesmutige Achterbahnfahrt zum Schwerpunkt ihrer Werbekampagne. Ich habe This Is Cinerama zum ersten und letzten Mal bei einem Familienausflug nach Chicago 1956 gesehen. Der Film lief zwar schon seit 1952, war aber in den großen Städten ein solcher Kassenmagnet (und daher in der Provinz wie Iowa unerreichbar), daß er Jahr um Jahr lief. Meine Erinnerungen waren vage – 1956 war ich erst vier Jahre alt –, aber liebevoll, und jetzt konnte ich es nicht erwarten, ihn zu sehen.
Ja, ich war so aufgeregt, daß ich eine halbe Stunde zu früh aus dem Museum aller möglichen Dinge einschließlich Zelluloid hinaus- und zum Eingang des
Pictureville Cinema in der Nähe hinüberrannte. Dort stand ich dann eine Viertelstunde allein im eiskalten Nieselregen, bis sich die Pforten öffneten. Ich erwarb eine Karte, wobei ich darauf achtete, einen Sitz in der Mitte mit viel Platz zum Brechen zu bekommen, und begab mich in den Saal. Es war ein wunderschönes Kino mit Plüschsitzen und einer großen, gewölbten Leinwand hinter Samtvorhängen. Ein paar Minuten sah es so aus, als hätte ich das Ding ganz für mich allein, aber dann kamen allmählich weitere Zuschauer, und zwei Minuten vor Beginn war es so gut wie voll.
Punkt zwei Uhr wurde der Raum dunkel, der Vorhang öffnete sich ungefähr viereinhalb Meter – einen Bruchteil der gesamten Breite –, und über das bescheidene Stück Leinwand flimmerte ein Vorfilm mit Lowell Thomas (eine amerikanische Fünfziger-Jahre-Version von David Attenborough; er sah aber aus wie George Orwell), der in einem schamlos getürkten Arbeitszimmer voll Globetrotterobjekten saß und uns auf die Wunder, die wir gleich erschauen würden, vorbereitete. Gut, man muß es in seinem historischen Kontext betrachten. Cinerama wurde als verzweifelte Reaktion auf das Fernsehen geschaffen, das Hollywood Anfang der Fünfziger ratzfatz aus dem Geschäft zu werfen drohte. Dieser Vorfilm war also schwarz-weiß, wurde auf dem bescheidenen Rechteck in Form eines Fernsehbildschirms präsentiert und sollte eindeutig die Mahnung in unser Unterbewußtsein pflanzen, uns an solche Bildformate gar nicht erst zu gewöhnen. Nach einer kurzen, doch nicht uninteressanten Zusammenfassung der Geschichte des Films, sagte Thomas, wir sollten es uns bequem machen und das größte visuelle Spektakel genießen, das die Welt je gesehen hatte. Dann verschwand er, satte Orchesterklänge ertönten aus allen Ecken und Enden, die Vorhänge wurden, weit, weit zurückgezogen und enthüllten schließlich eine kolossale Leinwand, und wir waren auf einmal in einer knallbunten Welt, in einer Achterbahn auf Long Island, und Mann, war das gut!
Ich war im siebten Himmel. Der 3-D-Effekt war viel besser, als ich von der einfachen, uralten Vorführanlage erwartet hätte. Es war wirklich, als säße man in einer Achterbahn, bloß mit einem einzigartigen Unterschied: Es war eine Achterbahn aus dem Jahre 1951, sie erhob sich hoch über Parkplätze voll Vorkriegs-Studebakers und -De Sotos und donnerte angsteinflößend an Menschenmengen in weiten Hosen und farbenprächtigen, schlabbrigen Hemden vorbei. Es war kein Film. Es war eine Zeitreise.
Das meine ich wirklich. Die 3-D-Zauberei, der Stereoklang und die brillanten, gestochen scharfen Bilder warfen einen wie durch Magie vierzig Jahre zurück. Für mich schwang noch etwas Besonderes mit, denn im Sommer 1951, als diese Bilder gefilmt worden waren, lag ich im Bauch meiner Mutter eingerollt und nahm mit einer Geschwindigkeit zu, die ich erst wieder erreichen sollte, als ich fünfundreißig Jahre später aufhörte zu rauchen. Es war die Welt, in die ich hineingeboren wurde, und was schien sie doch hübsch, herrlich und vielversprechend gewesen zu sein.
Ich glaube, drei so glückliche Stunden habe ich noch nie erlebt. Wir reisten durch die ganze Welt, denn This Is Cinerama war kein herkömmlicher Film mit einer Handlung, sondern ein Reisebericht über Dinge, anhand derer dieses Wunder des Zeitalters möglichst effektvoll zur Geltung kam. Wir glitten in Gondeln durch Venedig, wir lauschten vor Schloß Schönbrunn den Wiener Sängerknaben, erlebten einen Zapfenstreich am Edinburgh Castle und einen langen Ausschnitt aus der Aida in der Mailänder Scala (das war ein bißchen langweilig). Und zum Schluß machten wir einen Flug über ganz Amerika. Wir stiegen hoch über den Niagarafällen auf – da war ich im Sommer zuvor gewesen, aber das hier unterschied sich gewaltig von dem touristenverstopften, mit Aussichtstürmen und Hotels zugestellten Chaos, das ich besucht hatte. Diese Niagarafälle ergossen sich vor Bäumen und flachen Gebäuden und halbleeren Parkplätzen. Wir besuchten Cypress Gardens in Florida, flogen lange über die wogenden Felder im Mittleren Westen und erlebten eine aufregende Landung auf dem Flughafen von Kansas City. Dann preschten wir ganz niedrig über die Rockies, ließen uns in die atemberaubende, ungeheure Tiefe des Grand Canyon fallen und flogen weiter durch die gewaltigen, kurvigen Schluchten des Zion Nationalparks, wo das Flugzeug haarscharf an bedrohlichen Felsvor-sprüngen entlangsauste und Lowell Thomas verkündete, daß ein solches Kunststück noch nie im Film versucht worden sei. Dazu sang der Mormon Tabernacle Choir in Stereo »God Bless America«. Es begann mit einem melodischen Summen und schwoll an zu einem Crescendo aus vollen Kehlen so nach dem Motto: »Jetzt ziehen wir den Krauts das Fell über die Ohren.«
Tränen der Freude und des Stolzes stiegen mir in die Augen, und ich konnte mich nur knapp davon abhalten, auf meinen Stuhl zu klettern und zu schreien: »Meine Damen und Herren, das ist mein Land!«
Und dann war es zu Ende, und wir schlurften in die nieselige, dämmrige Ödnis Bradfords, was schon ein ziemlicher Schock war, glauben Sie mir. Ich stand an der Bronzestatue von J. B. Priestley (der mit seinen fliegenden Frackschößen aussieht, als habe er starke Blähungen), starrte die traurige hoffnungslose Stadt vor mir an und dachte: Ja, ich bin soweit, ich gehe nach Hause.
Aber zuerst, dachte ich sofort danach, eß ich ein Curry.