Fünfzehntes Kapitel

 

Ich fuhr nach Retford. Ich weiß nicht, warum. Noch während meiner Morgentoilette, dem sanften Entfernen der Taschentücher aus meinen geschwollenen Nüstern, während des Frühstücks und Auscheckens und des langen Gangs zum Bahnhof war es meine feierliche, gehorsame Absicht gewesen, Norwich und von dort aus Lincoln zu besuchen. Aber sobald ich den Bahnhof betrat und eine British-Rail-Karte an der Wand sah, packte mich jäh das eigenartige Verlangen, was vollkommen Neues anzuschauen, und Retford bot sich geradezu zwingend an.

Die letzten sieben Jahre war ich nämlich jedesmal auf der Fahrt von Leeds nach London und umgekehrt durch Retford gekommen. Es war einer der Haupthaltebahnhöfe an der Ostküstenstrecke, doch ich hatte nie erlebt, daß dort jemand ein- oder ausstieg. Auf meinem British-Rail-Streckenplan hatte man Retford sogar Großbuchstaben zugebilligt, ihm typographisch die gleiche Stellung eingeräumt wie Liverpool, Leicester, Nottingham, Glasgow und all den anderen bedeutenden Gemeinwesen Großbritanniens, und trotzdem wußte ich nichts über die Stadt. Bevor ich ihren einsamen Bahnhof zum erstenmal vom Zug aus sah, hatte ich noch nie von ihr gehört. Ich kannte nicht einmal jemanden, der dort gewesen war oder etwas über sie wußte. Mein Book of British Towns des Britischen Automobilclubs enthielt ausführliche, wohlwollende Beschreibungen jeder noch so obskuren Gemeinde – Kirriemuir, Knutsford, Prestonpans, Swadlincote, Bridge of Allan, Duns, Forfar, Wigtown –, aber über Retford bewahrte es strengstes Stillschweigen. Sehr mysteriös und klar an der Zeit, daß ich mir diesen Ort anschaute.

Also fuhr ich zunächst mit dem Zug nach Peterborough und von dort weiter auf der Hauptstrecke nach Norden. Ich hatte nicht besonders gut geschlafen, weil ich einen sehr beunruhigenden Traum von Cagney und Lacey gehabt und dann noch entdeckt hatte, daß ich seit 1975 keine US-Einkommensteuererklärung abgegeben hatte. (Sie drohten, mich dem Kerl zu überantworten, der sich im Vorspann das Hemd auszieht, Sie können sich also vorstellen, in welchem Zustand sich meine Bettwäsche befand, als ich, nach Atem ringend, in der Morgendämmerung erwachte.) Nun freute ich mich auf eine dieser ruhigen, einlullenden Fahrten, auf die man bei British Rail immer hoffen kann – wo die Schuhe zu Hausschuhen werden und man sanft in den Schlaf gesummt wird.

Mit einiger Bestürzung hörte ich daher, daß hinter mir ein Handybenutzer saß. Man sollte diese Leute langsam mal wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses drankriegen, finden Sie nicht? Dieser hier nervte ganz besonders, weil er mit lauter, selbstgerechter Stimme in einem Schwachsinnsjargon so eindeutig sinnlose Anrufe tätigte.

»Hallo, hier ist Clive. Ich bin im l0.07-Uhr-Zug und müßte erwartungsgemäß um dreizehn Uhr im Büro sein. Dann brauche ich ein Eilbriefing über das Pentland-Squire-Projekt. Wie bitte? Nein, bei Maris Pipers bin ich mitnichten auf dem laufenden. Hör mal, fällt dir ein Grund ein, warum jemand ein Arschloch wie mich beschäftigen sollte? Wie bitte? Weil ich ein Mensch bin, der glücklich wie ein Ferkel im Mist ist, nur weil er ein Handy hat? He, die Idee ist nicht uninteressant!« Ein paar Augenblicke Schweigen und dann: »Hallo, Liebes. Ich bin gegen fünf zu Haus. Ja, wie immer. Quatsch, dir das überhaupt zu erzählen, aber ich hab ja nun dieses Telefon und bin ein totaler Flachwichser. Ich rufe wieder aus Doncaster an. Natürlich völlig grundlos.«

Dann: »Hier ist Clive. Ja, ich bin immer noch im Zug, aber wir hatten Probleme mit den Weichen, deshalb rechne ich jetzt eher mit einer voraussichtlichen Ankunftszeit um 13.02 Uhr, statt wie geplant um 13.00 Uhr. Wenn Phil anruft, sagt ihm doch bitte, daß ich immer noch ein totaler Flachwichser bin. Super.« Und so ging das den ganzen Morgen.

Da stieg ich dann erleichtert als einziger der vielen Fahrgäste in Retford aus, ein so ungewöhnliches Ereignis, daß die Bahnhofsangestellten zu den Fenstern gerannt kamen. Durch dichte Regenschleier ging ich in die Stadt. Mit Freude kann ich berichten, daß Retford ein entzückender, charmanter kleiner Ort ist, selbst unter den tiefhängenden, grauen Wolken, unter denen weit gepriesenere Städte eintönig und müde wirken. Die Hauptattraktion ist ein außerordentlich großer, schöner Marktplatz, von einem malerischen Durcheinander georgianischer Häuser umgeben. Neben der größten Kirche thront eine schwergewichtige schwarze Kanone mit einer Plakette, auf der »Erbeutet in Sewastopol 1865« steht. Eine bemerkenswerte Initiative seltens der Bewohner, fand ich – schließlich erstürmen nicht jeden Tag die Einwohner eines Marktfleckens in Nottinghamshire eine Festung auf der Krim und bringen Beute heim! Auch die Läden schienen zu florieren und waren gut sortiert. Ich kann nicht gerade behaupten, ich würde gern meine Ferien dort verbringen, aber ich freute mich, daß ich es schließlich gesehen und wohlauf und liebenswert gefunden hatte.

In einem kleinen Café trank ich einen Tee und nahm dann einen Bus nach Worksop, einer Stadt ähnlicher Größe und vergleichbaren Tempos (die im übrigen sehr wohl im AA Book of British Towns erwähnt wird). Offenbar hatten Retford und Worksop darum gestritten, wer die Hauptverwaltung des Bassetlaw District Council beherbergen sollte, und Worksop hatte verloren, denn sie war dort, und zwar, wie vorherzusehen, häßlich und kompromißlos modern. Aber der Rest der Stadt war auf eine unaufdringliche Weise doch ganz nett.

Ich war freilich nicht hierhergekommen, weil ich Worksop besuchen wollte, sondern Welbeck Abbey in der Nähe, angeblich eines der feinsten Häuser in diesem gar nicht so großen Gebiet, das unter dem Namen Dukeries firmiert. Nur jeweils zwanzig Meilen voneinander entfernt, haben in dieser obskuren Ecke der Nord-Midlands fünf uralte Herzogtümer ihren Sitz – Newcastle, Portland, Kingston, Leeds und Norfolk. Die Linien derer von Leeds und Portland sind erloschen, die anderen, schätze ich mal, verzogen. (Der Herzog von Newcastle wohnt laut Simon Winchester in Their Noble Lordship in einem bescheidenen Haus in Hampshire. Das lehrt ihn hoffentlich, wie dumm es war, nicht in Hopsburgen und Miniaturdampfeisenbahnen zu investieren.)

Welbeck ist der Stammsitz des Portland-Clans, obwohl auch der seit 1954 nicht mehr dort lebt – wegen eines ähnlich bedauerlichen Mangels an Voraussicht, was Abenteuerspielplätze und Kuscheltierzoos betrifft. Ich verehre ja nun schon seit langem den fünften Herzog von Portland, einen W. J.C. Scott-Bentinck (1800-1879). Der alte W. J. C. (ja, er war mir ans Herz gewachsen) war einer der großen historischen Einsiedler und scheute keine Mühe, menschlichen Kontakt zu meiden. Er lebte in einer kleinen Ecke seines Schlosses und kommunizierte mit seinen Dienern durch Zettel, die in einen besonderen, in die Tür zu seinen Räumen geschnitzten Briefkasten gesteckt wurden. Das Essen wurde ihm mittels einer kleinen Eisenbahn von der Küche in den Speisesaal gebracht. Bei zufälligen Begegnungen blieb er stocksteif stehen, während die Diener angewiesen waren, an ihm vorbeizugehen wie an einem Möbelstück. Wer diesen Befehl mißachtete, mußte auf der Privateisbahn des Herzogs bis zur Erschöpfung Schlittschuh laufen. Besucher durften das Haus und die Parkanlagen besichtigen – »solange«, wie der Herzog sagte, »sie so freundlich sind, mich nicht zu sehen«.

Aus Gründen, die man nur erraten kann, benutzte der adlige Herr sein umfangreiches Erbe, um ein zweites Herrenhaus unter der Erde zu bauen. Bei dessen Konstruktion beschäftigte er bis zu 15000 Männer, und als es fertig war, hatte es, unter vielem anderen, eine fast fünfundsiebzig Meter lange Bibliothek und den größten Ballsaal in England, der 2000 Gästen Platz bot – ganz schön schräg, so was zu bauen, wenn man nie Gäste hat. Ein Labyrinth von Tunneln und Geheimgängen verband die Räume und verlief in beträchtlicher Länge ins Land hinein. Als »erwarte er einen Atomkrieg«, meinte einmal ein Historiker. Wenn der Herzog nach London mußte, ließ er sich in seiner Pferdekutsche einschließen und fuhr damit durch einen anderthalb Meilen langen Tunnel in die Nähe des Bahnhofs von Worksop. Dort wurde sie auf einen speziellen offenen Güterwagen geladen und rollte in der Hauptstadt, immer noch verplombt, zu seiner Residenz, Harcourt House.

Als der Herzog starb, fanden seine Erben die überirdischen Zimmer ohne Möbel vor. Nur in einem Raum thronte mitten drin sein Nachtstuhl, während die Haupthalle rätselhafterweise keinen Boden mehr hatte. Die meisten Räume waren rosa gestrichen. Das eine Zimmer im oberen Stock, in dem der Herzog hauste, war bis zur Decke mit Hunderten grüner Kisten vollgepackt, und in jeder lag eine einzige dunkelbraune Perücke. Kurz und gut, den Mann kennenzulernen hätte sich gelohnt.

Mit einer gewissen Ungeduld schlenderte ich also durch Worksop zum Clumber Park, einem angrenzenden National Trust-Besitz, und fand – das hoffte ich zumindest – den Weg zur Welbeck Abbey, die etwa drei, vier Meilen entfernt lag. Es war ein langer Marsch über einen schlammigen Waldpfad. Laut Wegbeschilderung lief ich auf dem »Robin Hood Way«, aber wie im Sherwood Forest fühlte ich mich nicht. Es war eher eine endlose Kiefernschonung, eine Art Baumschule. Sie wirkte übernatürlich still und leblos. Ein Ambiente, in dem man halbwegs erwartet, über eine locker mit Blättern bedeckte Leiche zu stolpern. Davor habe ich überhaupt immer Angst, denn dann würde mich die Polizei interviewen und mich sofort verdächtigen, weil ich Fragen wie: »Wo waren Sie am Nachmittag des Mittwoch, 3. Oktober, um 16 Uhr?« nicht beantworten könnte. Ich stelle mir immer vor, wie ich in einem fensterlosen Verhörraum schmore und sage: »Mal sehen, äh, ich glaube, vielleicht war ich in Oxford oder vielleicht auch auf dem Küsten weg in Dorset. Himmel, ich weiß es nicht.« Und im Handumdrehen hätten sie mich in Parkhurst oder sonstwo eingebuchtet.

Es wurde immer seltsamer. Ein eigentümlicher Wind erhob sich in den Baumwipfeln, sie bogen sich und tanzten, doch unten am Boden war alles ruhig, bis dahin kam er nicht. Reichlich gespenstisch das Ganze. Dann kam ich durch eine steile Sandsteinschlucht, über deren Hänge sich knorrige Baumwurzeln rankten. Zwischen den Wurzeln waren Hunderte Inschriften sorgfaltig eingekratzt. Namen, Daten und hier und da ineinanderverschlungene Herzen. Die Daten umfaßten eine außergewöhnlich lange Zeitspanne: 1861, 1962, 1947, 1990. Wirklich, ein komischer Ort. Entweder war er sehr beliebt bei Liebespaaren, oder ein Paar war sehr lange zusammen gegangen.

Kurz danach erreichte ich ein einsames Pförtnerhaus, dessen Dachfirst mit Pechnasen versehen war. Dahinter erstreckte sich ein offenes Feld mit stoppeligem Winterweizen und noch weiter dahinter, durch eine Baumreihe knapp sichtbar, gewahrte ich ein verwinkeltes grünes Kupferdach – Welbeck Abbey, hoffte ich. Ich ging am Rand des riesigen, matschigen Feldes entlang und brauchte bald eine Dreiviertelstunde, um mich bis zu einem befestigten Weg durchzukämpfen. Wähnte mich aber nun sicher am richtigen Ort, denn der Weg lief an einem schmalen verschilften See entlang, und laut meiner stets zuverlässigen Karte war das weit und breit das einzige Gewässer. Ich marschierte ungefähr eine Meile, dann landete ich vor einer ziemlich noblen Einfahrt neben einem Schild, »Privat – Zutritt verboten«. Ansonsten gab es keinen Hinweis, was dahinter lag.

Einen Augenblick lang schwindelte mir geradezu vor Unentschlossenheit (übrigens, falls ich je geadelt werde, hätte ich gern den Namen Lord Schwindel vor Unentschlossenheit), doch dann beschloß ich, mich ein paar Meter hinter die Einfahrt hinaufzuwagen – nur soweit, damit ich wenigstens einen Blick auf das Gebäude erhaschen konnte, für das ich den weiten Weg auf mich genommen hatte. Gedacht, getan. Die Anlagen waren äußerst kunstvoll und peinlichst gepflegt, aber gut durch Bäume abgeschirmt, also ging ich noch ein Stückchen weiter. Nach ein paar hundert Metern lichteten sich die Bäume, und man kam auf einen Rasen, das heißt, eine Art Übungsgelände mit Kletternetzen und Balken auf Stelzen. Was war hier bloß? Etwas entfernt befand sich neben dem See ein merkwürdig gepflasterter Bereich – wie ein Parkplatz im Niemandsland. Mit einem kleinen Freudenschrei erkannte ich die Eislaufbahn des Herzogs. Nun war ich schon so weit auf dem Grundstück, daß es auf Diskretion auch nicht mehr ankam. Mutig schritt ich fürbaß, bis ich direkt vor dem Haus stand. Es war nobel, aber seltsam charakterlos und außerdem mit etlichen neuen Anbauten plump verziert. Weiter hinten lag ein Cricketfeld mit einem todschicken Pavillon. Menschen waren nicht zu sehen, aber auf dem Parkplatz standen ein paar Wagen. Es beherbergte eindeutig irgendeine Institution – vielleicht ein Schulungszentrum für IBM oder so. Aber warum dann so anonym? Ich wollte schon hingehen und durch ein Fenster linsen, da ging eine Tür auf, und ein Mann in Uniform kam mit strenger Miene auf mich zu. Auf seinem Jackett stand »MOD Security«. O nein!

»Hallo«, sagte ich und lächelte ein wenig blöde.

»Ist Ihnen klar, Sir, daß Sie unbefugt den Besitz des Verteidigungsministeriums betreten?«

Ich schwankte einen Moment, unschlüssig, ob ich meine Tourist-aus-Iowa-Nummer abziehen sollte (»Wie bitte, ist das etwa nicht der Hampton Court Palace? Ich habe gerade 175 Pfund für ein Taxi bezahlt.«) oder ein umfassendes Geständnis ablegen sollte. Ich gestand. Mit leiser, respektvoller Stimme erzählte ich ihm, daß ich mein Leben lang von dem fünften Herzog von Portland fasziniert sei, mich seit Jahren danach verzehrte, diesen Ort zu besuchen, und nicht habe widerstehen können, einfach mal kurz hineinzuschauen, nachdem ich schon von so weit herkomme. Und das traf genau den richtigen Nerv, offenbar hegte er selbst eine gewisse Zuneigung zum alten W. J. C. Er eskortierte mich mit allen militärischen Ehren zum Rand des Anwesens, schien aber im stillen erfreut zu sein, jemanden vor sich zu haben, der seine Interessen teilte. Er bestätigte, daß der mit Platten ausgelegte Bereich die Eislaufbahn sei, und zeigte mir, wo die Tunnel verliefen – praktisch überall. Sie seien immer noch intakt, erzählte er, dienten jedoch nun als Depots. Der Ballsaal und die anderen unterirdischen Gemächer würden noch regelmäßig für Veranstaltungen und als Sporthalle benutzt. Das Verteidigungsministerium habe gerade eine Million Pfund für die Renovierung des Ballsaals hingeblättert.

»Aber was ist das hier denn jetzt?« fragte ich.

»Ein Übungszentrum, Sir.« Mehr sagte er nicht. Doch wir hatten sowieso das Ende der Einfahrt erreicht. Um sicherzugehen, daß ich wirklich verschwand, sah er mir hinterher. Ich latschte über das große Feld zurück und blieb dann stehen, um noch einmal das Dach von Welbeck Abbey zu betrachten, das sich über den Baumwipfeln erhob. Wie schön, daß das Verteidigungsministerium die Tunnel und unterirdischen Räume bewahrte, aber eine regelrechte Schande war es doch, daß es so kategorisch der Öffentlichkeit verschlossen war. Schließlich produziert die britische Aristokratie nicht alle Tage jemanden, der so ausgenippt war wie W. J. C. Scott-Bentinck und seine Marotten so auslebte. Der Gerechtigkeit halber muß ich aber sagen, daß sie ihr Bestes tun.

Diesen Gedanken in meinem Herzen bewegend, drehte ich mich um und machte mich auf den langen, mühseligen Marsch zurück nach Worksop.