Einundzwanzigstes Kapitel

 

Am nächsten Morgen ging ich zum Bahnhof in Porthmadog – nicht dem Spielzeugeisenbahnhof der Blaenau-Ffestiniog-Bahn, sondern dem echten von British Rail. Das Bahnhofsgebäude war geschlossen, aber auf dem Bahnsteig standen etliche Leute, die alle eifrig bemüht waren, sich nicht anzuschauen. Ich glaube, sie standen jeden Morgen an derselben Stelle. Ich bin sogar ziemlich sicher, denn als ich dort wartete, kam ein Mann im Anzug und schaute mich erst überrascht und dann böse an, weil ich offenbar seinen Quadratmeter Bahnsteig okkupierte. Er bezog ein, zwei Meter weiter weg Stellung und beäugte mich mit einem Ausdruck, den man ohne weiteres als haßerfüllt bezeichnen konnte. Wie leicht ist es bisweilen, sich in Großbritannien Feinde zu machen. Man braucht nur auf der falschen Stelle zu stehen oder sein Auto in der falschen Einfahrt zu wenden – dem Typ stand WENDEN VERBOTEN auf der Stirn geschrieben – oder in aller Unschuld den Platz eines anderen im Zug zu besetzen, und sie hassen einen still und heimlich bis ins Grab.

Schließlich kam ein Sprinter mit zwei Wagen, und wir stiegen ein. Mit den harten Sitzen, dem rätselhafterweise gleichzeitig heißen und kalten Durchzug, der grellen Beleuchtung und vor allem der üblen Farbe – orangene Streifen und kompromißlos zackige Zickzackzierleisten – sind das wirklich überaus unbequeme, rein zweckmäßige, unschöne Züge. Wie kann man bloß auf den Gedanken kommen, daß Zugreisende so früh am Morgen gleich von Unmengen Orange umgeben sein wollen? Wehmütig erinnerte ich mich an die altmodischen Züge, die es noch gab, als ich nach Großbritannien gekommen war. Sie bestanden aus einer Reihe separater Abteile ohne Gänge, jedes eine kleine, in sich abgeschlossene Welt. Es war immer ein erregender Moment, wenn man die Wagentür öffnete und nie wußte, was einen dahinter erwartete, und es hatte etwas angenehm Intimes und Schicksalhaftes, auf engstem Raum mit völlig Fremden zu sitzen. Einmal saß ich in solch einem Abteil, und ein Fahrgast, ein schüchterner junger Mann im Trenchcoat, erbrach sich urplötzlich heftig auf den Boden – es war während einer Grippeepidemie – und erdreistete sich dann, am nächsten Bahnhof aus dem Wagen zu stolpern, während wir verbleibenden drei mit verkniffenen Gesichtern und eingezogenen Zehen schweigend in den Abend hineinfuhren und typisch britisch so taten, als sei nichts geschehen. Wenn ich’s mir recht überlege, ist es vielleicht doch besser, daß es die Züge nicht mehr gibt. Aber mit orangefarbenen Zickzackzierleisten kann ich mich trotzdem nicht anfreunden.

Die Küstenstrecke führte an den breiten Flußmündungen und zerklüfteten Bergen der glatten, grauen Cardigan Bay entlang. Die Städte am Wegesrand hatten alle Namen, die klangen, als würge eine Katze ein Haarknäuel heraus: Llywyngwril, Morfa Mawddach, Llandecwyn, Dyffryn Ardudwy. In Penrhyndeudraeth füllte sich der Zug mit uniformierten Schulkindern aller Altersstufen. Ich rechnete schon damit, daß sie gleich johlen und rauchen und Sachen durch die Gegend schmeißen würden, aber sie hatten samt und sonders untadelige Manieren. Sie stiegen in Harlech aus, und plötzlich war es im Wageninneren leer und ruhig – so ruhig, daß ich hörte, wie sich das Paar hinter mir in Walisisch unterhielt, was mich erfreute. Bei Barmouth überquerten wir auf einem gebrechlichen Holzdamm noch eine breite Flußmündung. Irgendwo hatte ich gelesen, daß dieser Damm einige Jahre lang geschlossen und Barmouth bis vor kurzem der Endbahnhof dieser Strecke gewesen war. Es schien ein kleines Wunder, daß BR das Geld zur Reparatur des Damms investiert hatte und die Strecke aufrechthielt, aber ich wette, wenn ich in zehn Jahren wieder hierherkomme, ist dieses halbvergessene Zockelbähnchen nach Porthmadog in den Händen von Enthusiasten vom Schlage der Blaenau-Ffestiniog-Spinner, und ein Sturkopf mit einem akkuraten kleinen Schnauzbart erzählt mir, ich könne meinen Anschlußzug in Shrewsbury nicht kriegen, weil der Fahrplan des Clubs es nicht erlaube.

Drei Stunden und 105 Meilen nach meiner Abfahrt war ich deshalb froh, daß ich in Shrewsbury umsteigen konnte, solange ich noch die Möglichkeit dazu hatte. Ich wollte meine Reise gen Norden, Richtung John O’Groats fortsetzen, aber als ich durch den Bahnhof ging, hörte ich eine Ansage für einen Zug nach Ludlow und stieg einfach ein. Seit Jahren hatte ich immer wieder gehört, daß Ludlow ganz entzückend sei, und ich dachte plötzlich, das könne meine letzte Chance sein, es zu sehen. Und so betrat ich etwa zwanzig Minuten später einen einsamen Bahnsteig und lief dann einen langen Hügel hinauf in die Stadt.

Und tatsächlich war Ludlow ein netter, bezaubernder Ort auf einem Berggipfel hoch oben über dem Fluß Teme. Und er hatte alles, was man zum Leben braucht – Buchläden, ein Kino, ein paar reizende Tea Rooms und Bäckereien, etliche »Familienmetzgereien« (Ich bin immer versucht, hineinzugehen und zu fragen: »Was kostet es, meine zu verwursten?«), ein altmodisches Woolworth’s und das übliche Aufgebot an Drogerien, Pubs, Kurzwarengeschäften und dergleichen. Alle ordentlich in Reih und Glied und mit ihrer Umgebung harmonierend.

Die Ludlow Civic Society hatte freundlicherweise an vielen Gebäuden Täfelchen angebracht, die mitteilten, wer einmal wo gewohnt hatte. Auch an der Wand des Angel, einer alten Postkutschenstation in der Broad Street, die leider – und hoffentlich nur vorübergehend – mit Brettern vernagelt war, verkündete ein Täfelchen, daß die berühmte Kutsche Aurora die circa 100 Meilen nach London in etwas mehr als siebenundzwanzig Stunden zurückgelegt hatte, was einmal mehr zeigt, wie weit der Fortschritt gediehen ist. British Rail schafft es heute in der Hälfte der Zeit.

Nicht weit davon entfernt stieß ich zufällig auf das Hauptbüro einer Organisation namens The Ludlow and District Cats Protection League. Da wurde ich neugierig. Was, um Himmels willen, taten die Einwohner Ludlows ihren Katzen an, das eine besondere Schutzbehörde erforderlich machte? Vielleicht fehlt mir ja das nötige Feingefühl, aber bevor man nicht eine Katze anzündet und auf mich wirft, weiß ich nicht, was man den Viechern antun könnte, das mich veranlassen würde, einen Wohltätigkeitsverband ins Leben zu rufen, der ihre Interessen vertritt. Außer dem rührenden Vertrauen auf die Zuverlässigkeit von Wettervorhersagen und der weitverbreiteten Liebe zu Witzen, in denen das Wort »Hintern« vorkommt, gibt es nichts, bei dem ich mich mehr als Außenseiter fühle als bei der Haltung der Nation gegenüber Tieren. Wußten Sie, daß die Königliche Gesellschaft zum Schutz von Kindern sechzig Jahre später als die Königliche Gesellschaft zum Schutz der Tiere gegründet wurde, und zwar als deren Ableger? Wußten Sie außerdem, daß Großbritannien 1994 für eine Weisung der Europäischen Gemeinschaft votierte, die Ruhepausen für transportiertes Vieh vorschreibt, aber gegen gesetzliche Ruhepausen für Fabrikarbeiter?

Obwohl ich das alles wußte, fand ich es trotzdem kurios, daß es hier ein Büro gab, das sich nur um die Sicherheit und das Wohlergehen der Katzen der Stadt und des Bezirks Ludlow kümmerte. Nicht weniger rätselhaft fand ich den geographisch seltsam begrenzten Bereich, in dem die Gesellschaft tätig war. Was würde passieren, überlegte ich, wenn die Mitglieder sahen, wie man eine Katze unmittelbar außerhalb der Bezirksgrenzen piesackte? Würden sie resigniert mit den Achseln zucken und sagen:

»Außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs?« Wer weiß das schon? Ich jedenfalls nicht, denn als ich mich dem Büro näherte, um Erkundigungen einzuziehen, stellte ich fest, daß es geschlossen war. Offenbar waren die Angestellten – und lesen Sie jetzt bitte nichts hier hinein – beim Lunch.

Wo ich auch sein wollte. Ich ging über die Straße in ein nettes, kleines Selbstbedienungsrestaurant mit Salatbar namens Olive Branch, wo ich mich rasch zum Paria machte, weil ich mich an einen Tisch für vier Personen setzte. Bei meiner Ankunft war das Ding praktisch leer gewesen, und ich hatte mit meinem Rucksack und dem schwankenden Tablett den erstbesten leeren Tisch genommen. Aber kaum saß ich, strömten die Massen, und den Rest meiner kurzen Lunchpause spürte ich die bohrenden Blicke der Leute, die von der Kasse kamen, sahen, daß ich einen Tisch besetzte, der offensichtlich nicht für einen einsamen Gast bestimmt war, und nun ihre Tabletts in die unpopuläre Abteilung »Weitere Tische im ersten Stock« tragen mußten. Da wollte wohl keiner gern hin. Während ich versuchte, schnell zu essen und mich möglichst unsichtbar zu machen, kam ein Mann von zwei Tischen entfernt, fragte mich demonstrativ, ob ich einen der Stühle brauche, und nahm ihn, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich verzehrte mein Mahl und schlich mich in Schimpf und Schande davon.

Zurück am Bahnhof erstand ich eine Fahrkarte für den nächsten Zug über Shrewsbury nach Manchester Piccadilly. Wegen eines Versagens der Weichen irgendwo auf der Strecke kam der Zug vierzig Minuten zu spät an. Er war proppenvoll und die Fahrgäste ziemlich gereizt. Ich fand einen Platz, indem ich ein paar Herrschaften an einem Tisch dazu brachte, widerwillig Platz zu machen und mich voller Verachtung anzustarren. Noch mehr Feinde! Heute war nicht mein Tag. In dem überheizten Waggon saß ich dann auf engsten Raum gequetscht mit Winterjacke und dem Rucksack auf dem Schoß und nährte die vage Hoffnung, noch bis Blackpool weiterfahren zu können, aber ich war so fest eingeklemmt, daß ich meinen Fahrplan nicht herausholen und nachschauen konnte, wo ich umsteigen mußte. Also blieb ich sitzen und vertraute darauf, daß ich von Manchester aus einen Zug dorthin bekam.

Auch British Rail hatte einen rabenschwarzen Tag. Wir tuckerten aus dem Bahnhof und blieben nach etwa einer Meile aus keinem ersichtlichen Grund stundenlang stehen. Endlich verkündete eine Stimme, daß dieser Zug wegen weiterer Defekte auf der vor uns liegenden Strecke in Stockport enden werde, was allgemeines Stöhnen hervor-rief. Nach etwa zwanzig Minuten schließlich setzte er sich stockend in Bewegung und holperte durch die grüne Landschaft. An jedem Bahnhof entschuldigte sich die Stimme für die Verspätung und verkündete erneut, daß der Zug in Stockport ende. Als wir die Stadt endlich neunzig Minuten zu spät erreichten, erwartete ich, daß alle aussteigen würden, aber keiner rührte sich, ich also auch nicht. Nur ein Fahrgast, ein Japaner, stieg brav aus und mußte dann fassungslos zusehen, wie der Zug ohne weitere Erklärung, vor allem aber ohne ihn nach Manchester weiterfuhr.

In Manchester entdeckte ich, daß ich einen Zug nach Preston brauchte. Da die Bildschirme nur die Endbahnhöfe angaben und nicht die Bahnhöfe dazwischen, dackelte ich los und stellte mich in eine Schlange Reisender, die einen Bahnhofsbeamten um Auskunft baten. Zu seinem Pech gab es in Großbritannien keinen Bahnhof, der »Verpißt euch!« hieß, denn genau das hätte er ganz augenscheinlich gern den Leuten gesagt. Mich hieß er, zum Bahnsteig 13 zu gehen, und ich marschierte los, doch die Bahnsteige endeten bei Nummer 11. Ich kehrte zu ihm zurück und teilte ihm mit, daß ich keinen Bahnsteig 13 finden könne. Da stellte sich heraus, daß Bahnsteig 13 über eine Geheimtreppe und dann eine Fußgängerbrücke zu erreichen war. Es war bestimmt der Bahnsteig für verschwundene Züge. Traurig und verloren standen dort Scharen von Reisenden, die alle aussahen wie Leute in dem Monty Python-Sketch mit dem Milchmann. Schlußendlich wurden wir zu Bahnsteig 3 zurück-geschickt. Der Zug kam an, es war natürlich ein Eilzug mit zwei Waggons, und die üblichen 700 Fahrgäste quetschten sich hinein.

So geschah es dann, daß ich vierzehn Stunden nach meiner Abfahrt aus Porthmadog müde, zerzaust, hungrig und zutiefst vergrätzt in Blackpool ankam, wo ich sowieso nicht sonderlich gern hinwollte.