Sechsundzwanzigstes Kapitel
Reden wir über was Erfreulicheres. Reden wir über John Fallows. Der stand 1987 eines Tages am Schalter einer Londoner Bank und wartete, daß er bedient wurde. Da trat der Möchtegern-Bankräuber Douglas Bath vor ihn, schwenkte ein Gewehr und verlangte Geld von dem Kassierer. Stinkwütend sagte Fallows, er solle sich ans Ende der Schlange »verpissen« und warten, bis er dran sei. Vermutlich nickten die anderen Wartenden zustimmend. Auf diesen Verlauf der Ereignisse nicht vorbereitet, verließ Bath die Bank lammfromm und mit leeren Händen und wurde unweit davon verhaftet.
Ich erzähle das, um meine Behauptung zu untermauern, daß, wenn eine wertvolle Eigenschaft die Briten charakterisiert, dann das angeborene Gefühl für gute Manieren und daß man sie unter Einsatz seines Lebens verteidigt. Achtung für und stillschweigende Rücksicht-nahme auf andere sind solch fundamentale Bestandteile des britischen Lebens, daß kaum ein Gespräch ohne beginnt. Begegnungen mit Fremden werden gewöhnlich mit den Worten eingeleitet: »Es tut mir furchtbar leid, aber.« Dann folgt irgendeine Bitte: »Können Sie mir sagen, wo es nach Brighton geht? … mir helfen, meine Hemdgröße herauszufinden? … Ihren Überseekoffer von meinen Füßen nehmen?« Und wenn Sie der Bitte nachgekommen sind, schenken sie Ihnen stets ein schüchternes, entschuldigendes Lächeln, sagen wieder, daß es ihnen leid tut, und bitten um Verzeihung dafür, daß sie Ihre Zeit in Anspruch genommen oder gedankenlos ihren Fuß dort hingestellt haben, wo ja ganz offensichtlich Ihr Überseekoffer stehen mußte. Ich liebe es.
Den lebendigen Beweis für meine Argumentation lieferte eine Frau, die vor mir stand, als ich am späten Vormittag aus dem Caledonian auscheckte. Mit hilflosem Blick sagte sie zu dem Empfangsmenschen: »Es tut mir furchtbar leid, aber ich schaffe es anscheinend nicht, den Fernseher in meinem Zimmer anzustellen.« Wohlgemerkt, sie war den ganzen Weg nach unten gekommen, um sich zu entschuldigen, weil der Fernseher des Hotels nicht funktionierte! Mir floß das Herz über vor Wärme und Zuneigung für dieses merkwürdige, unergründliche Land.
Und es geschieht alles instinktiv, das kommt noch dazu. Ich erinnere mich, als ich, neu im Land, eines Tages an einem Bahnhof ankam und sah, daß nur zwei von etwa einem Dutzend Schalter offen waren. (Zum besseren Verständnis des ausländischen Lesers sollte ich erklären, daß in Großbritannien folgende Regel gilt: Ganz einerlei, wie viele Schalter es in einer Bank, einer Post oder einem Bahnhof gibt, es sind immer nur zwei besetzt. Außer bei Hochbetrieb. Da ist nur einer auf.) An beiden wurde bedient. In einem anderen Land wäre nun eins von beidem passiert: Entweder hätten sich die Kunden vor den Schaltern gedrängelt und alle gleichzeitig verlangt dranzukommen, oder es hätte zwei sich langsam vorwärtsschiebende Schlangen gegeben, voll ärgerlicher Wartender, die überzeugt waren, daß sich die andere Schlange schneller bewegte.
Hier in Großbritannien waren die Leute spontan auf ein viel vernünftigeres und raffinierteres Verfahren gekommen. Sie hatten eine einzige Schlange ein paar Meter weit von beiden Schaltern entfernt gebildet. Immer wenn einer frei wurde, ging der erste in der Schlange hin, und der Rest schlurfte einen Schritt vor. Es war wunderbar fair und demokratisch, und das Bemerkenswerte war, daß es niemand befohlen oder auch nur vorgeschlagen hatte.
Es geschah einfach.
Etwas Ähnliches passierte nun. Denn nachdem die Dame mit dem widerspenstigen Flimmerkasten ihre Entschuldigung vorgebracht hatte (und ich muß sagen, daß der Empfangsmensch sie ungewöhnlich anstandslos akzeptierte und sogar soweit ging, anzudeuten, falls sich sonst noch etwas im Zimmer der Frau als funktionsuntüchtig erweise, solle sie doch um Gottes willen nicht die Schuld bei sich suchen), wandte er sich an mich und einen weiteren, ebenfalls wartenden Herrn und fragte: »Wer ist der nächste?« Woraufhin der Herr und ich uns dem komplizierten Procederé, »Nach Ihnen«, »Nein, nach Ihnen«, »Aber ich bestehe darauf«, »Ach, das ist aber sehr liebenswürdig« unterwarfen, und mir das Herz nun geradezu überfloß.
Und so trat ich denn an meinem zweiten Morgen in Edinburgh, aufgemuntert von dieser heiteren, zivilisierten Begegnung, glücklich und zufrieden und eins mit der Welt aus dem Hotel. Die Sonne schien, und die Stadt war wieder wie verwandelt. Die George Street und die Queen Street waren ausgesprochen hinreißend, die steinernen Fassaden glänzten im Sonnenschein, die feuchte, drückende Dunkelheit, die sie am Vortag verdüstert hatte, war gänzlich geschwunden. Der Firth of Forth schimmerte in der Ferne, und die kleinen Parks und Plätze waren grün und voller Leben. Ich stapfte The Mound zu den alten Stadtterrassen hoch, um mich umzuschauen, und war erstaunt, wie anders alles aussah. Princes Street war immer noch eine Schandmeile architektonischer Fehltritte, aber die dichtgedrängten, eleganten Dächer und hochauf-ragenden Kirchtürme auf den Hügeln dahinter verliehen der Stadt Charakter und Eleganz, was mir am Vortag völlig entgangen war.
Den Morgen machte ich einen auf Tourist, ich besuchte die Kathedrale St. Giles, schaute mir Holyroodhouse an und kletterte auf den Gipfel des Calton Hill. Dann holte ich meinen Rucksack und ging zum Bahnhof, froh, daß ich mit Edinburgh meinen Frieden geschlossen hatte und wieder auf Achse war.
Und was ist doch eine Zugreise für eine feine Sache! Schon als wir aus Edinburgh durch die ruhigen Vororte und über die Brücke über den Forth hinauszockelten, begann die Bewegung der Bahn mich einzulullen. (Und meine Güte, die Brücke ist ein mächtiges Bauwerk; plötzlich begriff ich, warum die Schotten sich nicht genug darüber auslassen können.) Der Zug war fast leer und richtig feudal. Er war in beruhigenden Blau- und Grüntönen gehalten, ein scharfer Kontrast zu den diversen Triebwagen, in denen ich während der letzten Tage gereist war. Er erwies sich tatsächlich als so beruhigend, daß meine Lider bald unerträglich schwer wurden und mein Hals sich in ein gummiartiges Material verwandelte. Im Handumdrehen sackte mir der Kopf auf die Brust, und ich beschäftigte mich nun nur noch mit der leisen, stetigen Produktion etlicher Liter Spucke – für die ich leider keine rechte Verwendung hatte.
Manche Leute sollten in der Eisenbahn einfach nicht schlafen, oder wenn sie eingeschlafen sind, stillschwei-gend mit einer Plane bedeckt werden, und ich fürchte, ich gehöre dazu. Unbestimmbare Zeit später erwachte ich mit einem brünftigen Schnauben, schlug kurz und wild mit den Armen um mich, hob den Kopf von der Brust und stellte fest, daß ich von Bart bis Gürtelschnalle von einem Spinnennetz aus Sabber besudelt war und drei Leute mich mit seltsam teilnahmsloser Miene anstarrten. Wenigstens blieb mir die übliche Erfahrung erspart, aufzuwachen und festzustellen, daß mich eine Gruppe kleiner Kinder mit offenen Mündern anstarrt und angesichts der Entdeckung, daß dieser sabbernde Koloß lebendig ist, kreischend die Flucht ergreift.
Erschreckt vor meinem Publikum zurückweichend, tupfte ich mich diskret mit dem Jackenärmel ab und konzentrierte mich auf den Blick nach draußen. Wir ratterten durch eine weite, offene Landschaft, die eher nett als dramatisch war – Ackerland bis weit zu den großen, runden Bergen hin –, und der Himmel schien unter seinem eigenen schweren Grau zu kollabieren. Von Zeit zu Zeit hielten wir in einer trägen, kleinen Stadt mit einem toten, kleinen Bahnhof – Ladybank, Cupar, Leuchars – und erreichten schließlich mit Dundee, Arbroath und Montrose eine größere, etwas geschäftigere Welt. Drei Stunden nach unserer Abfahrt von Edinburgh glitten wir in spärlichem, rasch schwindendem Licht nach Aberdeen hinein.
Neugierig drückte ich das Gesicht gegen die Scheibe. Ich war noch nie in Aberdeen gewesen und kannte auch niemanden, der dort gewesen war. Ich wußte fast nichts über die Stadt, außer, daß sie von der Nordseeölindustrie beherrscht wird und sich stolz »Granite City« nennt. Sie war mir immer irrsinnig abgelegen erschienen, als würde ich dort wahrscheinlich nie hinkommen, deshalb wollte ich sie unbedingt sehen.
Ich hatte mich in einem Hotel eingemietet, das in meinem Reiseführer wärmstens empfohlen wurde (der dicke Wälzer endete als Feuerholz), sich aber als ödes, überteuertes Hochhaus in einer Seitenstraße entpuppte. Mein Zimmer war klein und düster, das Mobiliar angeschlagen, das Bett vom Format einer Gefängnis-pritsche, die Zudecke hauchdünn, das einzige Kissen alles andere als weich und die Tapete eifrig bemüht, von einer feuchten Wand zu fliehen. In einem ambitionierten Moment hatte die Hotelleitung eine Art Mischpult am Bett anbringen lassen, von dem aus man Lampen, Radio und
Fernseher einschalten konnte und in dem überdies ein Wecker eingebaut war, aber nichts davon funktionierte. Den Weckerknopf hatte ich sofort in der Hand. Seufzend ließ ich meine Siebensachen aufs Bett plumpsen und kehrte auf die dunklen Straßen Aberdeens zurück auf der Suche nach Essen, Trinken und granitenem Glanz.
Eines habe ich über die Jahre gelernt: Die Eindrücke, die man von einer Stadt gewinnt, werden unweigerlich von dem Weg geprägt, den man für die Anreise wählt. Fahren Sie durch die grünen Vororte Richmond, Barnes und Putney nach London hinein und steigen Sie, sagen wir, in Kensington Gardens oder Green Park aus, und Sie glauben, inmitten einer riesigen, wohlgepflegten ländlichen Idylle zu sein. Nehmen Sie die Strecke über Southend, Romford und Liverpool Street, und Sie bekommen ein völlig anderes Bild. Vielleicht lag es also lediglich an dem Weg, den ich von meinem Hotel aus nahm. Ich lief jedenfalls knapp drei Stunden straßauf, straßab und fand an Aberdeen nichts auch nur annähernd Bewundernswürdiges. Es gab hier und da ein paar Lichtblicke – eine Fußgängerzone am Mercat Cross, ein interessant aussehendes kleines Museum namens John Dun’s House, ein paar eindrucksvolle Universitätsgebäude –, aber sooft ich auch kreuz und quer durchs Zentrum ging, ich stieß immer nur auf einen riesigen, glamourösen neuen Einkaufskomplex, den zu umschiffen absolut nervig war (grummelnd landete ich stets aufs neue in Sammellagern für Pappkartons und Ladebuchten, von denen aus es nicht weiterging). Oder ich fand mich in einer breiten, endlosen Straße mit genau den gleichen Läden wieder, die ich in den letzten sechs Wochen in jeder zweiten Stadt gesehen hatte. Es war wie überall und nirgends – wie ein kleines Manchester oder ein x-beliebiger Teil von Leeds. Vergebens suchte ich eine einzige Stelle, wo ich mich hinpflanzen, die Hände in die Hüfte stemmen und sagen konnte: »Aha, das also ist Aberdeen.« Vielleicht lag es ja auch an der düsteren Jahreszeit. Irgendwo hatte ich gelesen, daß Aberdeen neunmal den Wettbewerb »Britain in Bloom« gewonnen hatte, aber ich sah kaum einen Park oder grünen Fleck. Vor allem hatte ich selten das Gefühl, mitten in einer reichen stolzen, aus Granit erbauten Stadt zu sein.
Und zu allem Überfluß konnte ich mich nicht entscheiden, wo ich essen wollte. Ich gieperte nach etwas anderem, etwas, das ich auf dieser Reise nicht schon hundertmal gegessen hatte – Thai oder Mexikanisch vielleicht, oder vielleicht Indonesisch oder sogar Schottisch –, aber ich fand immer wieder nur die üblichen chinesischen oder indischen Restaurants, wie üblich in einer Seitenstraße, wie üblich eine Treppe hoch, die aussah, als sei sie erst kürzlich für ein Motorradrennen benutzt worden, doch ich konnte mich nicht überwinden, diese schreckliche Klettertour ins Unbekannte zu machen. Ich wußte ja eh genau, was mich dort oben erwartete – trübes Licht, ein Empfangsbereich mit einem gepolsterten Tresen, asiatische Klimpermusik, Tische voll Edelstahl-tellerwärmern und Biergläsern. Nein, danke. Verzweifelt veranstaltete ich schlußendlich eine Runde »Ene mene mu«, und das Schicksal bestimmte einen Inder. Es war bis auf das letzte Reiskorn so wie jedes indische Essen, das ich in den Vorwochen gegessen hatte. Selbst der Rülpser nach dem Essen schmeckte genauso wie immer. Unzufrieden und miesepetrig kehrte ich in mein Hotel zurück.
In der aufrichtigen Hoffnung, daß die Stadt mir besser gefallen würde, machte ich am nächsten Morgen einen Spaziergang. Aber leider, leider wurde ich enttäuscht. Aberdeen war eigentlich ganz in Ordnung, doch fade bis zur Schmerzgrenze. Ich bummelte durch das neue Einkaufszentrum und streifte ziemlich weit durch die Straßen im Umkreis, doch ich fand sie alle gleich farblos, man konnte sie getrost vergessen. Und dann begriff ich, daß das Problem nicht sosehr in Aberdeen begründet war, als im Wesen des modernen Großbritannien. Britische Städte sind wie ein Kartenspiel, das endlos neu gemischt und ausgeteilt worden ist – die gleichen Karten, andere Reihenfolge. Wenn ich aus einem anderen Land nach Aberdeen gekommen wäre, hätte ich es wahrscheinlich angenehm und schön gefunden. Es war wohlhabend und sauber, hatte Buchläden und Kinos, eine Universität und im großen und ganzen alles, was man in einer Stadt braucht. Ich bezweifle ja nicht, daß man nett dort leben kann. Es war nur so sehr wie überall sonst auch.
Nachdem ich diesen kleinen Gedanken in meinem Kopf verstaut hatte, mochte ich es viel lieber. Ich meine nicht, daß ich darauf brannte, mit Sack und Pack dort hinzuziehen – und wieso auch? Genau die gleichen Dinge, die Läden, Bibliotheken und Freizeitzentren, Pubs und Fernsehprogramme, Telefonzellen, Postgebäude, Ampeln, Parkbänke, Zebrastreifen, Seeluft und Post-indischem-Essen-Rülpser konnte ich ja genauso überall sonst haben. Aber eben das, was Aberdeen am Abend zuvor langweilig und vorhersagbar gemacht hatte, machte es komischerweise nun vertraut, ja richtig heimelig. Doch nie hatte ich auch nur eine Spur das Gefühl, daß ich in Granite City war, und ohne Bedauern holte ich meine Sachen aus dem Hotel und kehrte zum Bahnhof zurück, um meine Fahrt gen Norden fortzusetzen.
Wieder war der Zug sehr sauber, fast leer und besänftigend blau und grau. Er bestand nur aus zwei Waggons, hatte aber einen Minibarservice. Das beeindruckte mich. Nur war der junge Bursche, der die Minibar schob, leider sehr emsig – ich hatte den Eindruck, daß er gerade mit dem Job angefangen hatte, mithin immer noch an dem Punkt war, wo es ihm Spaß machte, Tee auszuteilen und Geld zu wechseln. Da es nur zwei andere Fahrgäste und nur 55 Meter zu patrouillieren gab, kam er alle drei Minuten vorbei. Der ständige Krach des vorbeiratternden Wagens bewahrte mich aber wenigstens davor, einzunicken und in peinliche Hypersabberei zu geraten.
Wir fuhren durch eine schöne, unaufregende Landschaft. Ich kannte die Highlands nur an der dramatischeren Westküste, das hier war im Vergleich entschieden ruhiger – sanfte Berge, niedrige Bauernhöfe, gelegentliche Ausblicke auf ein leeres, stahlgraues Meer –, durchaus nicht unschön. Die Fahrt verlief ereignislos. Nur in Nairn stieg ein großes Flugzeug auf und vollführte alle möglichen erstaunlichen Dinge am Firmament, es klettere mehrere hundert Fuß senkrecht in die Höhe, kippte dann langsam nach vorn und stürzte sich zur Erde, um beinahe im letzten Augenblick in steilen Kurven wieder hochzufliegen. Es kam wahrscheinlich von einem Übungsflughafen der britischen Luftwaffe, aber ich fand es aufregender, mir vorzustellen, daß es von einem wahnsinnigen Selbstmörder gekidnappt worden war. Und dann passierte etwas Atemberaubendes. Das Flugzeug flog auf den Zug zu, hielt geradewegs Kurs auf uns, als habe der Pilot uns erspäht und fände es interessant, uns mitzunehmen. Es kam immer näher und wurde immer größer – ich schaute mich unbehaglich um, doch es war niemand da, mit dem ich das Erlebnis hätte teilen können –, bis es beinahe das ganze Fenster ausfüllte. Doch da fuhr der Zug in einen Tunnel, und das Flugzeug verschwand aus dem Blickfeld. Um meine Nerven zu beruhigen, kaufte ich mir einen Kaffee und ein Päckchen Kekse von der Minibar und wartete darauf, daß Inverness kam.
Ich mochte die Stadt sofort. Sie wird nie einen Schönheitswettbewerb gewinnen, hat aber ein paar liebenswerte Besonderheiten – ein altmodisches, kleines Kino namens La Scala, eine guterhaltene Marktpassage, auf einem Hügel eine große, hinreißend ausgenippte Sandsteinburg aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein paar prächtige Spazierwege am Fluß entlang. Mir hatten es besonders die trüb beleuchteten Arkaden angetan, eine überdachte Durchgangsstraße, die offenbar für immer und ewig im Jahre 1953 stehengeblieben war. Es gab einen Friseursalon mit einer sich drehenden rotweißen Stange davor und im Laden Fotos von Leuten, die aussahen, als seien ihre Frisuren in den Fünfzigern gestylt worden. Und ein Scherzartikelgeschäft bot nützliche, interessante Gegenstände feil, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte: Niespulver, Plastikkotze (sehr praktisch, um sich im Zug seinen Platz freizuhalten) und Kaugummi, das die Zähne schwarz färbt. Es war zu, aber ich beschloß, am nächsten Morgen zurückzukommen, um mich mit Vorräten einzudecken.
Inverness hat vor allem einen schönen, grün und gemächlich dahinfließenden Fluß, der romantisch mit Bäumen überhangen, am einen Ufer von großen Häusern, gepflegten, kleinen Parks und der alten Sandsteinburg (nun dem Sitz des Bezirksgerichts) gesäumt ist und am anderen von alten Hotels mit steilen Satteldächern, noch mehr großen Häusern und der gravitätischen, Nôtre-Dame-ähnlichen Kathedrale. Ich buchte ein Zimmer im nächstbesten Hotel und unternahm gleich darauf einen Spaziergang durch das schwächer werdende Dämmerlicht. Die eleganten Promenaden entlang des Flusses waren aufmerksam mit Bänken bestückt, sehr nett bei einem abendlichen Bummel. Ich lief ein, zwei Meilen auf der Seite des Flusses an der Haugh Road an kleinen Inseln vorbei, die man über viktorianische Fußgängerhänge-brücken erreichte.
Fast alle großen Villen auf beiden Seiten des Flusses waren in einem Zeitalter erbaut, in dem man noch dienstbare Geister hatte. Wie, überlegte ich, war all dieser spätviktorianische Wohlstand nach Inverness gelangt, und wer unterhielt diese hübschen Ungetüme heute? Unweit der Burg, auf einem riesigen Grundstück, das Bauherrn wohl als erstklassige Lage bezeichnet hätten, stand ein besonders großes, reich verziertes Herrenhaus mit Türmen und Erkern. Ein wunderbares, weitläufiges Ding, eins, bei dem ich mir immer gleich vorstelle, daß ich mit dem Fahrrad darin herumfahren könnte. Es war mit Brettern verschlagen, baufällig und stand zum Verkauf. Wie kann man bloß, fragte ich mich, ein solch reizendes Haus so verfallen lassen? Als ich daran entlangspazierte, verlor ich mich in Tagträumereien, es für ein Spottgeld zu kaufen, zu sanieren und glücklich bis an mein Lebensende auf diesem hochherrschaftlichen Anwesen neben dem absolut bezaubernden Fluß zu leben, bis mir einfiel, was meine Familie wohl sagen würde, wenn wir doch nicht ins Land der Einkaufszentren, Fernseher mit hundert Programmen und der kindskopfgroßen Hamburger gingen, sondern in den feuchten Norden Schottlands.
Egal, denn leider muß ich gestehen, daß ich sowieso nicht in Inverness wohnen könnte, und zwar wegen zweier sensationell häßlicher moderner Bürogebäude an der Hauptbrücke, die das Stadtzentrum rettungslos verschan-deln. Als ich auf dem Rückweg darauf stieß, blieb ich wie angewurzelt stehen und staunte, daß man eine ganze Stadt mit zwei seelenlosen Gebäuden ruinieren kann. Nichts – weder Umfang noch Materialien noch der Stil – paßte zu der Umgebung. Sie waren nicht nur häßlich und groß, sondern so schlecht konstruiert, daß man tatsächlich zweimal um sie herumlaufen konnte, ohne je den Haupt-eingang zu finden. An der Straßenfront des größeren zum Flußufer hin befand sich eine riesige Ladebucht mit Metallkipptoren und nicht etwa ein Restaurant oder eine Gartenterrasse oder wenigstens Läden oder Büros mit einem schönen Ausblick. Dabei schaute das Gebäude auf einen der schönsten Flüsse Großbritanniens hinaus. Grauenhaft, einfach grauenhaft, es spottete jeder Beschreibung.
Kurz zuvor war ich in Hobart in Tasmanien gewesen, wo Sheraton ein überwältigend unansehnliches Hotel in das wunderhübsche Hafenviertel geklotzt hatte. Man erzählte mir, daß der Architekt nie dort gewesen war und das Hotelrestaurant nach hinten gesetzt hatte, wo die Gäste den Hafen überhaupt nicht sehen konnten. Das hatte ich seitdem für das Nonplusultra architektonischer Hirnlosigkeit gehalten. Ich glaubte ja nicht, daß dieses Duo von demselben Architekten entworfen worden war – denn was für eine entsetzliche Vorstellung, daß es vielleicht zwei so schlechte Architekten in der Welt gibt –, aber die Firma hätte ihn sicher mit Kußhand genommen.
Von all den Gebäuden in Großbritannien, die ich mit Inbrunst in die Luft sprengen würde – das Maples Building in Harrogate, das Hilton Hotel in London, die Post in Leeds, einen auf gut Glück herausgegriffenen Bau der British Telecom –, würde ohne Zögern meine erste Wahl auf eins von diesen beiden, egal, welches, fallen.
Und jetzt kommt der Knüller. Raten Sie, wer in diesen herzzerreißenden beiden Kästen residiert? Ich sag’s Ihnen. Das größere ist der regionale Hauptsitz des Highland Enterprise Board und das kleinere der Sitz des Inverness and Nairn Enterprise Board, und beide Körperschaften sind damit betraut, die Schönheit dieses hübschen, munteren Landstrichs zu bewahren. Prost Mahlzeit!