Drittes Kapitel

 

Seit Sommer 1986 war ich nicht mehr in Wapping gewesen und wollte es unbedingt wiedersehen. Ich hatte mich mit einem alten Freund und Kollegen verabredet und ging nun zur Chancery Lane, wo ich die U-Bahn nahm. Ich mag die U-Bahn sehr. Es hat etwas Surreales, ins Erdinnere zu tauchen und in einen Zug zu steigen. Dort unten herrscht eine eigene kleine Welt mit eigenen seltsamen Wind- und Wettersystemen, gespenstischen Geräuschen und öligen Gerüchen. Selbst wenn man so tief in die Erde hinabgestiegen ist, daß man ganz die Orientierung verliert und sich nicht wundern würde, einem Trupp verrußter Bergleute zu begegnen, die von der Schicht kommen, rumpelt und zittert doch immer noch ein Zug auf einer unbekannten Linie noch tiefer unten vorbei. Und all das geschieht in einer phantastischen Ruhe und Ordnung. Tausende von Menschen laufen über Treppen und Rolltreppen, steigen aus vollen Zügen ein und aus, gleiten mit wackelnden Köpfen in die Dunkelheit und sprechen nie, wie Gestalten aus Die Nacht der lebenden Toten.

Als ich auf dem Bahnsteig unter einer elektronischen Anzeigetafel stand, die verkündete, daß der nächste Zug nach Hainault in 4 Minuten eintreffen würde, widmete ich meine Aufmerksamkeit der grandiosesten aller zivilisierten Gesten, dem Londoner U-Bahnplan. Ein Werk der Vollkommenheit, im Jahre 1931 erschaffen von einem vergessenen Helden namens Harry Beck, einem arbeitslosen technischen Zeichner, der eins begriff: Unter der Erde ist es egal, wo man ist. Beck sah (und was war das für ein Geniestreich!): Solange die Bahnhöfe in der richtigen Reihenfolge gezeigt und die Linienkreuzungen deutlich dargestellt werden, konnte er den Maßstab nach Gusto verzerren, ja, ihn völlig vernachlässigen. Er zeichnete seinen Plan präzise und ordentlich wie einen elektrischen Schaltplan und erschuf damit ein gänzlich neues, imaginäres London, das nur wenig mit der geographischen Beschaffenheit der Stadt darüber gemein hat.

Ich verrate Ihnen einen lustigen Trick, den Sie an Leuten aus Neufundland oder Lincolnshire ausprobieren können. Bringen Sie sie zur Bank Station und sagen Sie ihnen, sie sollen nach Mansion House fahren. Wenn sie Becks Plan benutzen – und selbst Leute aus Neufundland verstehen ihn in Null Komma nichts –, nehmen sie natürlich wohlgemut die Central Line zur Liverpool Street, steigen dort in die Circle Line nach Westen und fahren noch fünf Stationen. Wenn sie dann in Mansion House ankommen und wieder auftauchen, stellen sie fest, daß sie sich nur sechzig Meter vom Ausgangspunkt befinden und Sie in der Zwischenzeit schön gefrühstückt und ein bissel eingekauft haben. Jetzt gehen Sie mit ihnen zur Great Portland Street und sagen Sie, Treffpunkt ist Regent’s Park (genau, dasselbe noch mal in Grün), und dann zur Temple Station mit Instruktionen, sich in Aldwych zu treffen. Da werden Sie Ihren Spaß haben! Und wenn Sie sie loswerden wollen, verabreden Sie sich mit ihnen am Bahnhof Brompton Road. Der ist 1947 geschlossen worden, Sie brauchen die Herrschaften also nie wiederzusehen.

Das beste am U-Bahnfahren ist, daß man die Orte über sich nie zu Gesicht bekommt. Man muß sie sich vorstellen. In anderen Städten sind die Bahnhofsnamen phantasielos und profan: Lexington Avenue, Potsdamer Platz, Third Street South. Aber in London klingen sie wildromantisch und verlockend: Stamford Brook, Turnham Green, Bromley-by-Bow, Maida Vale, Drayton Park. Da über einem ist gar keine Stadt, sondern ein Roman von Jane Austen! Man kann sich leicht einbilden, man gondelt unter einer halbmythischen Stadt aus einem goldenen vorindustriellen Zeitalter hin und her. Swiss Cottage ist keine verkehrsreiche Straßenkreuzung mehr, sondern ein Hexenhäuschen mitten in dem großen Eichenwald, der als St. John’s Wood bekannt ist. Chalk Farm besteht aus weiten offenen Feldern, wo heiteres Landvolk in braunen Kitteln Kalkhalme mäht und erntet. In Blackfriars singen Mönche in Kutten, der Oxford Circus wird von einer Zirkuskuppel überspannt, Barking ist gefährlich, da hecheln wilde Hundemeuten, White City ist ein ummauertes, turmbewehrtes Atlantis, ganz aus blendend weißem Elfenbein erbaut, und im Holland Park drehen sich die Windmühlen.

Gibt man sich freilich diesen kleinen Tagträumereien allzusehr hin, kann es passieren, daß einen die Dinge enttäuschen, wenn man wieder an die Oberfläche tritt. Als ich nun am Tower Hill ausstieg, gab es weder einen Turm noch einen Hügel.

Ich lief die gräßliche Straße namens The Highway entlang und sperrte angesichts all der Neubauten Mund und Nase auf. Es war wie in einem Wettbewerb häßlicher Häuser. Fast ein Jahrzehnt lang waren offenbar Architekten hierhergekommen und hatten gesagt: »Was, das findet ihr nicht gut? Wartet, bis ihr seht, was ich kann.« Und siehe da, was erhob sich stolz über all den unschönen neuen Bürobauten? Das häßlichste, klotzigste Monstrum Londons, der News-International-Komplex. Er sah aus wie die zentrale Klimaanlage für unseren Planeten.

Ich meldete mich am Empfang und wartete davor, während mein Kollege gerufen wurde. Das gespenstischste an dieser Situation war nun, wie friedlich alles war, ganz im Gegensatz zu 1986. Ich erinnerte mich lebhaft an Demonstrantenhorden, berittene Polizisten und wütende Streikposten, die in einem Moment die Zähne fletschten und einen mit stieren Blicken anbrüllten und im nächsten sagten: »O hallo, Bill, hab dich gar nicht erkannt.« Und einem dann eine Zigarette anboten und darüber redeten, was für eine schreckliche Sache das ja nun alles sei. Und es stimmte, denn unter den 5000 Entlassenen waren Hunderte und Aberhunderte kreuzbraver, anständiger Archivare, Büroangestellte, Sekretärinnen und Boten, deren einzige Sünde es war, einer Gewerkschaft anzugehören. Die meisten trugen es uns, die wir noch arbeiteten, nicht persönlich nach, und das werde ich ihnen ewig hoch anrechnen. Aber ich gestehe, daß ich damals bei dem Gedanken, Vince werde mit einer Machete aus der Menge treten, doch immer ein bißchen schneller durch das Tor ging.

Ungefähr 400 Meter weiter an der Nordseite des Geländes, an der Pennington Street, steht ein niedriges, fensterloses Backsteingebäude, ein altes Speicherhaus, Überbleibsel aus den Zeiten, als das East End ein florierender Hafen und Warenumschlagplatz für die City war. Ausgerechnet dieses Haus wurde, ausgeweidet und mit allen High-Tech-Insignien versehen, zum Büro der Times  und der Sunday Times und ist es bis zum heutigen Tage. Und während wir uns in dem langen Winter 1986 dort drinnen mit der neuen computerisierten Technologie abplagten, hörten wir die Sprechchöre und Tumulte, das gedämpfte Hufeknallen der Polizeipferde, das Geschrei und Gekreische einer Schlagstockattacke. Sehen konnten wir nichts, weil das Haus keine Fenster hatte. Es war schon sehr seltsam. Wir schauten uns alles in den Neun-Uhr-Abendnachrichten an, traten dann hinaus und kriegten es live geboten. Die bittersten, gewalttätigsten Arbeitskämpfe, die man bis dato auf den Straßen Londons erlebt hatte, sie spielten sich direkt vor dem Haupteingangstor ab. Es war bizarr.

Um die Moral aufrechtzuerhalten, ließ uns die Firma jeden Abend Sandwiches und Bier bringen, was man als nette Geste empfand, bis man feststellte, daß die Großzügigkeit sorgfältig so kalkuliert war, daß jedes Belegschaftsmitglied ein schlabbriges Schinkensandwich und eine Halbe-Liter-Dose pißwarmes Heineken-Bier erhielt. Wir bekamen auch Hochglanzbroschüren mit den Plänen der Firma für den Tag danach. Ich entsinne mich deutlich, daß auf den Perspektivzeichnungen der Architekten ungewöhnlich geschmeidige, kerngesunde Journalisten in einem großen Schwimmbad von einem niedrigen Sprungbrett hechteten oder am Rand saßen und die Füße ins Wasser baumeln ließen. Andere Exkollegen erinnern sich an Squash-Plätze und Fitneßräume, und einer sogar an eine Bowlingbahn. Fast alle aber wissen noch, daß eine große moderne Bar abgebildet war, eingerichtet wie eine Erster-Klasse-Lounge in einem internationalen Flughafen.

Schon vom Sicherheitskordon aus sah ich nun etliche neue Gebäude und war sehr gespannt, genau zu erfahren, mit was für Annehmlichkeiten die Belegschaft letztendlich beglückt worden war. Als mich mein alter Kollege – dessen Namen ich hier nicht preiszugeben wage, sonst findet er sich plötzlich in die Kleinanzeigenabteilung versetzt – am Empfang abholte, fragte ich ihn sofort. »Klar erinnere ich mich an das Schwimmbad«, war die Antwort. »Davon haben wir, als der Streik vorüber war, nie wieder was gehört. Aber wir wollen nicht ungerecht sein, sie haben unsere Arbeitszeit verlängert. Wir dürfen jetzt alle vierzehn Tage einen Tag extra arbeiten, ohne Bezahlung natürlich.«

»Damit wollen sie euch wohl zeigen, wie sehr sie euch schätzen?«

»Na, sie würden uns ja nicht bitten, mehr zu arbeiten, wenn sie nicht mit uns zufrieden wären, oder?«

Wohl wahr.

Wir schlenderten durch das Gelände, auf der einen Seite war das alte Backsteinspeicherhaus, auf der anderen die riesige Druckerei. Wie Statisten in einem Hollywoodfilm gingen Leute vorbei – ein Arbeiter mit einer langen Holzbohle, zwei Frauen in schicken Geschäftskostümen, ein Typ mit Bauhelm und Klemmbrett, ein Bote mit einer großen Topfpflanze im Arm. Als wir die Times-Redaktionsgemächerbetraten, schnappte ich leise nach Luft. Es ist immer ein kleiner Schock, an den Ort zurückzukehren, an dem man vor vielen Jahren gearbeitet hat, und dann dieselben Gesichter wie damals zu sehen, die sich über dieselben Schreibtische beugen – eine plötzliche Vertrautheit, als sei man nie weggewesen, gepaart mit einer zutiefst und von Herzen empfundenen Dankbarkeit, daß man weg ist.

Ich sah meinen alten Freund Mickey Clark, nun ein Medienstar, und fand Graham Searjeant in seiner kleinen Höhle aus Zeitungen und Pressemitteilungen, zum Teil aus den Tagen, als Mr. Morris Automobile herstellte, und begegnete vielen anderen Freunden und früheren Kollegen. Wie dann so üblich, verglichen wir Bäuche und kahle Stellen und stellten Listen von Toten und Vermißten auf. Es war so richtig schön. Dann nahmen sie mich mit zum Lunch in die Kantine. In dem alten Times-Gebäude in der Gray’s Inn Road war die Kantine in einem Kellerraum mit dem Charme und der Atmosphäre eines U-Bootes gewesen, und das Essen wurde einem von humorlosen, faden Damen hingeklatscht, bei denen man immer an Maulwürfe in Schürzen denken mußte. Diese Kantine jedoch war hell und geräumig, und es gab eine reiche Auswahl an verlockenden Gerichten, die von zwitschernden Cockney-Mädchen in hellen, sauberen Uniformen serviert wurden. Der Eßbereich selbst war bis auf den Ausblick unverändert. Wo sich einstmals ein schlammiger, von vergammelten Kanälen voller Bettgestelle und Einkaufswagen durchzogener Morast ausgebreitet hatte, standen nun Designerbauten und Schickimicki-Apartmenthäuser, die man immer in sanierten Hafenvierteln in Großbritannien findet und deren Balkone todsicher aus rot angestrichenen Stahlrohren bestehen.

Mir fiel auf, daß ich zwar sieben Monate an dieser Stätte gewirkt, Wapping indes nie gesehen hatte. Und plötzlich war ich begierig, es anzuschauen. Als ich meinen Nachtisch verspeist und liebevoll Abschied von meinen Exkollegen genommen hatte, eilte ich durch die Sicherheitstore. Ich versäumte absichtlich, meinen Besucherpaß abzugeben, denn ich hoffte, daß Atombombenangriffssirenen losheulen und Männer in Chemiekriegsschutzanzügen losflitzen und das ganze Gelände nach mir absuchen würden. Die Pennington Street hinauf beschleunigte ich dann aber doch meine Schritte auf doppelte Geschwindigkeit und warf ängstliche Blicke zurück, weil mir plötzlich eingefallen war, daß das bei News International durchaus im Bereich des Möglichen lag.

Ich war nie zu Fuß durch Wapping gegangen. Während des Streiks war das gefährlich. Die Pubs und Cafés des Bezirks wimmelten von übellaunigen Druckern und Sympathisanten – aus unerfindlichen Gründen waren schottische Bergleute besonders gefürchtet –, die einem Journalistenweichei mit Vergnügen Arme und Beine ausgerissen und diese für den abendlichen Umzug als Fackeln benutzt hätten.

Besonders wenn abends nach einer großen Demonstration die Dunkelheit eingesetzt hatte, war es so gefährlich, daß die Polizei uns oft erst in den frühen Morgenstunden hinausließ. Wir wußten aber nie, wann wir losdurften, sondern mußten uns mit unseren Autos hintereinander aufstellen und dann Stunde um Stunde in der eisigen Kälte ausharren. Irgendwann zwischen 23 Uhr und ein Uhr dreißig – wenn ein beträchtlicher Teil der grölenden Massen zurückgeschlagen, in den Knast oder einfach heimgewandert war – wurden die Tore aufgerissen, und eine mächtige Flotte News-International-Lastwagen röhrte eine Rampe hinunter, wo sie von der verbleibenden Menge mit einem Hagel Ziegelsteinen oder Absperrgittern begrüßt wurde. Wir Restlichen wurden instruiert, uns im Konvoi eiligst durch die Seitenstraßen zu verdrücken.

Das klappte einige Abende auch hervorragend, aber einmal wurden wir losgeschickt, als gerade die Pubs zumachten. Wir fuhren durch eine düstere, enge Straße, und plötzlich sprangen Leute aus dem Dunkel auf uns zu, traten gegen die Türen und wuchteten hoch, was immer sie zu fassen kriegten. Schreckliches Glassplittern und ungnädiges Gebrüll ertönten, aber zu meinem großen, nachhaltigen Erstaunen stieg ungefähr sechs Autos vor mir ein hibbeliger kleiner Mann vom Auslandsressort aus, um den Schaden an seinem Auto zu begutachten. Vielleicht dachte er, er sei über einen Nagel gefahren. Wir dahinter kamen natürlich alle zum Stehen. Ich erinnere mich, daß ich empört und bestürzt beobachtete, wie er versuchte, eine lose Leiste zurechtzudrücken. Und dann sah ich an meinem Fenster ein wütendes Gesicht – einen weißen Burschen mit tanzenden Rastalocken und Armeejacke –, und alles wurde alptraumartig. Wie komisch, dachte ich, daß ein völlig Fremder mich gleich aus dem Auto zerren und windelweich schlagen wird wegen Druckern, die er nicht kennt, die ihn aber durch die Bank als gammeligen Hippie verachtet und bestimmt nie in ihre Gewerkschaft aufgenommen hätten, die jahrzehntelang geradezu obszön überzogene Löhne herausgehandelt hatte. Gleichzeitig durchschoß mich die Befürchtung, daß ich mein teures Leben für einen Mann opfern sollte, der seine Staatsangehörigkeit aus wirtschaftlichem Eigennutz aufgegeben hatte, nicht wußte, wer ich war und mich ohne viel Federlesens rausschmeißen würde, wenn er eine Maschine fand, die meine Arbeit verrichtete, und der sich großherzig dünkte, wenn er mir Halb-Liter-Dosen Bier und schlaffe Stullen spendierte. Ich sah schon vor mir, wie die Firma an meine Frau schrieb: »Sehr geehrte Mrs. Bryson, in Würdigung des kürzlichen tragischen Todes Ihres Mannes durch die Hand eines entsetzlichen Mobs möchten wir Ihnen gern dieses Sandwich und diese Büchse Lager übersenden. PS – Würden Sie bitte unverzüglich den Parkausweis zurückschicken?«

Und während all dies ablief, während ein gigantischer, wilder Mann mit Rastalocken versuchte, meine Autotür aufzureißen, um mich zappelnd in die Dunkelheit zu zerren, ging ein Blödmann aus dem Auslandsressort vierzig Meter vor mir langsam um seinen Peugeot und begutachtete ihn in aller Seelenruhe, als wolle er ihn als Gebrauchtwagen kaufen. Gelegentlich blieb er stehen, um einen erstaunten Blick auf die Ziegelsteine und Schläge zu werfen, die auf die Autos hinter ihm prasselten. Vielleicht dachte er ja, dieses Gewitter sei eine recht merkwürdige Laune der Natur. Endlich stieg er wieder in sein Auto, schaute in den Rückspiegel, kontrollierte, ob seine Zeitung noch auf dem Sitz neben ihm lag, betätigte den Blinker, schaute erneut in den Spiegel und fuhr los. Mein Leben war gerettet.

Vier Tage später hörte die Firma auf, uns gratis Schnittchen und Bier zu schicken.

Deshalb war es nun sehr wohltuend, ohne Furcht um das eigene Leben durch die verschlafenen Straßen Wappings zu laufen. Ich war nie ein Anhänger dieser drolligen Vorstellung, daß London im wesentlichen eine Ansammlung von Dörfern ist – haben Sie schon mal ein Dorf mit Überführungen, Gasometern, torkelnden Pennern und Blick auf den Post Office Tower gesehen? Doch zu meiner freudigen Überraschung fühlte man sich in Wapping wahrhaftig fast wie auf dem Land. Es gab viele kleine, verschiedene Geschäfte, und die Straßen hatten heimelige Namen: Cinnamon Street, Waterman Way, Vinegar Street, Milk Yard. Die Sozialwoh-nungssiedlungen wirkten fröhlich und behaglich, und die hoch aufragenden Lagerhäuser waren fast alle in schicke Wohnhäuser konvertiert worden. Beim Anblick von noch mehr roten Hochglanzstahlrohrbalkonen und dem Gedanken, daß diese einstmals stolzen Arbeitsstätten nun eingebildete Yuppies namens Selena und Jasper beherbergten, überlief es mich unwillkürlich, aber ich muß zugeben, sie haben einen gewissen Wohlstand in die Gegend gebracht und die Lagerhäuser zweifellos vor einem viel traurigeren Schicksal bewahrt.

Bei den Wapping Old Stairs schaute ich mir den Fluß an und versuchte mir, natürlich ohne den geringsten Erfolg, auszumalen, wie solche alten Viertel im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ausgesehen haben, als hier Arbeiter herumwuselten und sich auf den Kais die Fässer mit Spezereien und Gewürzen stapelten, die den umliegenden Straßen ihre Namen gaben. Noch 1960 arbeiteten mehr als 100000 Menschen in den Docks oder verdienten ihren Lebensunterhalt in den Zulieferbetrieben, und Docklands war immer noch einer der größten Häfen der Welt. 1981 waren alle Londoner Docks geschlossen. Nun war der Blick auf den Fluß in Wapping so friedlich und ruhig, als schaue man eine Landschaft von Constable an. Ich betrachtete den Fluß gewiß eine halbe Stunde lang und sah ein einziges Schiff vorbeifahren. Dann drehte ich mich um und machte mich auf den langen Rückweg zum Hazlitt’s.