Siebenundzwanzigstes Kapitel

 

Für den nächsten Morgen hatte ich große Pläne. Ich wollte zur Bank, die Plastikkotze kaufen, mir die Kunstgalerie ansehen und eventuell noch einmal an dem lieblichen Fluß Ness entlangwandeln. Aber ich wachte zu spät auf und hatte nur noch Zeit, mich in meine Klamotten zu werfen, die Rechnung zu bezahlen und schweißtriefend zum Bahnhof zu watscheln. Über Inverness hinaus fahren nur noch wenige Züge – nach Thurso und Wick nur dreimal am Tag –, ich konnte es mir also nicht erlauben, zu spät zu kommen.

Und wirklich wartete der Zug auch schon leise summend und fuhr auf die Minute pünktlich ab. Vor einer Kulisse aus sanften Bergen und dem kalten, glatten Beauly Firth glitten wir aus der Stadt und ratterten bald in einem hübschen Tempo durch die Gegend. Diesmal fuhren mehr Leute mit, es gab auch wieder einen Minibarservice – Bravo, British Rail! –, aber keiner wollte was, weil die meisten Fahrgäste Rentner und mithin Selbstversorger waren.

Ich kaufte mir ein Tandoori-Chicken-Sandwich und einen Kaffee. Was für ein Fortschritt! Ich weiß noch, wie man kein British-Rail-Sandwich essen konnte, ohne sich zu fragen, ob das der letzte Akt vor einer langen Phase an einer lebenserhaltenden Maschine war. Aber es gab sowieso selten welche zu kaufen, weil der Speisewagen geschlossen war. Nun indes aß ich ein Tandoori-Chicken-Sandwich und trank einen richtig guten Kaffee, und es war mir sogar von einem freundlichen, ansehnlichen jungen Mann in einem Zwei-Wagen-Zug durch die Highlands zum Platz gebracht worden.

Hier ist eine interessante Statistik für Sie, die langweilig sein mag, aber beachtenswert ist. Die Ausgaben für die Eisenbahninfrastruktur pro Person pro Jahr betragen in Belgien und Deutschland 20 Pfund, in Frankreich 31 Pfund, in der Schweiz mehr als 50 Pfund und in Großbritannien knapp unter üppigen 5 Pfund. In der Europäischen Gemeinschaft geben nur Griechenland und Irland pro Kopf weniger für die Verbesserung ihres Eisenbahnnetzes aus als Großbritannien. Sogar Portugal ist spendabler. Und trotz dieser geringen Mittel ist die britische Eisenbahn, alles in allem betrachtet, exzellent. Die Züge sind viel sauberer als früher und die Beamten im allgemeinen geduldiger und hilfsbereiter. Die Fahrkartenkontrolleure sagen nun immer »Bitte« und »Danke«, und das Essen ist genießbar.

Dankbar vertilgte ich also mein Tandoori-Chicken-Sandwich und meinen Kaffee und nutzte die Zeit zwischen den Bissen zum Beobachten eines weißhaarigen Paars an einem Tisch gegenüber, das sich angelegentlich mit seiner Reiseverpflegung beschäftigte. Sie bauten kleine Plastikboxen mit Schweinepastete und hartgekochten Eiern vor sich auf, zogen Thermosflaschen heraus, drehten Deckel auf und förderten kleine Salz- und Pfefferstreuer zutage. Ist es nicht erstaunlich? Man gibt einem Paar alter Leute eine Leinenreisetasche, ein paar Tupperbehälter und eine Thermosflasche, und sie amüsieren sich stundenlang damit. Diese hier werkelten mit wohlgeordneter Präzision und in völligem Schweigen vor sich hin, als hätten sie sich seit Jahren auf dieses Ereignis vorbereitet. Als all das Essen nett zurechtgelegt war, aßen sie vier Minuten lang wie die Spätzchen und verbrachten einen Großteil des restlichen Morgens damit, leise alles wieder wegzupacken. Sie sahen sehr glücklich aus.

Auf komische, aber herzerwärmende Weise erinnerten sie mich an meine Mutter, denn auch sie ist Tuppertopf-Anhängerin. Sie picknickt nicht in der Bahn, weil es in ihrem Teil des Landes keine Personenzüge mehr gibt, aber sie legt gern herrenlose Essensreste in Plastikbehälter verschiedener Größe und verstaut sie ordentlich im Kühlschrank. Mit Müttern ist das ohnehin so ein Ding, glaube ich. Kaum hat man das Haus verlassen, schmeißen sie fröhlich alles weg, was man in seiner Kindheit und Jugend gehegt und gepflegt hat – die kostbare Sammlung Baseballkarten, die vollständigen Playboy-Jahrgänge 1966 – 75, die Highschool-Jahrbücher –, aber gibt man ihnen einen halben Pfirsich oder einen Löffel übriggebliebene Erbsen, packen sie sie in eine Tupperschüssel hinten in den Kühlschrank und hüten sie dort mehr oder weniger für immer.

Wir ratterten durch eine immer einsamere, kargere, baumlose, kalte Landschaft, die Heide klammerte sich an die Berghänge wie Flechte an Felsen, und die wenigen Schafe liefen erschrocken weg, wenn der Zug vorbeikam. Ab und zu fuhren wir durch gewundene Täler mit vereinzelten Bauernhöfen, die von weitem romantisch und hübsch und von nahem trostlos und ungemütlich aussahen. Es waren meist kleine Häuser mit massenweise Blech überall – Blechschuppen, Blechhühnerställen, Blechzäunen –, und sie sahen baufällig und verwittert aus. Es war eine dieser schrägen Gegenden, wo nichts weggeworfen wird. Jeder Hof war zugemüllt mit Bergen von ausrangiertem Zeugs, als glaube der Besitzer, daß er eines Tages 132 halbverrottete Zaunpfähle, eine Tonne kaputte Backsteine und die Karosserie eines 64er-Ford-Zodiac brauche.

Zwei Stunden nach unserer Abfahrt von Inverness kamen wir in einen Ort namens Golspie. Eine gar nicht so kleine Stadt mit großen Sozialbausiedlungen und ganzen Straßenzügen mit solch grauen Kieselrauhputzbungalows, die anscheinend öffentlichen Toiletten nachempfunden sind und für die man in Schottland eine seltsame Zuneigung hegt. Keine Spur von Fabriken oder sonstigen Arbeitsstätten. Womit, überlegte ich, verdienen all die Menschen in all den Häusern in Golspie ihre Brötchen? Dann kam Brora, auch keine kleine Gemeinde, mit Strandpromenade, aber ohne Hafen, soweit ich sehen konnte. Und ohne Fabriken. Was arbeiten sie bloß in diesen Kaffs inmitten des Nichts?

Danach wurde die Landschaft ziemlich öde, Bauernhäuser oder Weidetiere gab’s nicht mehr. Es schien so, als führen wir eine Ewigkeit durch eine große schottische Leere, durch meilenweites Niemandsland. Auf halber Strecke kamen wir dann zu einem Ort namens Forsinard: zwei Häuser, ein Bahnhof und ein unerklärlich großes Hotel. Was für eine seltsame, abgeschiedene Welt es war. Und dann endlich, endlich waren wir in Thurso, der nördlichsten Stadt auf der britischen Hauptinsel, hier war Schluß, in jeder Hinsicht. Auf leicht wackeligen Beinen trat ich aus dem kleinen Bahnhof und begab mich auf der langen Hauptstraße ins Zentrum.

Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete, aber meine anfanglichen Eindrücke stimmten mich hoffnungsfroh. Offenbar eine saubere, ordentliche Stadt, eher behaglich als protzig, erheblich größer, als ich erwartet hatte, und mit mehreren kleinen Hotels. Ich nahm ein Zimmer im Pentland Hotel, ein durchaus nettes Haus, wenn man sich in der Grabesstille am Ende der Welt wohlfühlt. Ein sympathischer Empfangsmensch händigte mir den Schlüssel aus, ich verfrachtete meine Sachen in ein abgelegenes Zimmer, das ich über gespenstisch gewundene Flure erreichte, und machte mich dann an die Stadtbesichtigung.

Laut Stadtarchiv hatte Thurso seinen großen Tag 1834, als Sir John Sinclair, ein Lokalmatador, hier den Begriff »Statistik« prägte, aber seitdem ist es doch erheblich ruhiger geworden. Wenn er nicht Neologismen ausheckte, baute Sinclair die Stadt fleißig um, stattete sie mit einer prächtigen Bibliothek in einem nicht zu überladenen Stil und mit einem kleinen Platz samt Park in der Mitte aus. Um den Platz herum steht heute ein bescheidenes Viertel mit nützlichen, freundlichen Lädchen – Drogerie und Fleischerei, Weinhandlung, ein, zwei Damenboutiquen, etliche Banken, jede Menge Friseursalons (warum sind in abgelegenen Nestern immer so viele Friseursalons?). Es gab ein kleines altmodisches Woolworth’s, aber von diesem und den Banken abgesehen, schien fast alles in lokalem Besitz, was Thurso eine heimelige Atmosphäre verlieh, die Atmosphäre einer echten, eigenständigen Kommune. Es gefiel mir sehr.

Ich bummelte ein wenig durch die Einkaufsstraßen und folgte dann ein paar Nebenstraßen zum Hafenviertel, wo ein Fischlagerhaus einsam und allein auf einem unendlich großen, leeren Parkplatz an einem riesigen, leeren Strand stand, an den die Wellen krachten. Wie üblich am Meer blies einen ein frisches, kräftiges Lüftchen ordentlich durch, und die Welt war in ein ätherisches nördliches Licht getaucht, das dem Wasser eine seltsame Leuchtkraft, ja, allem einen merkwürdigen blaßbläulichen Schimmer verlieh, was mein Gefühl, weit weg von zu Hause zu sein, noch verstärkte.

Am anderen Ende des Strands stand ein Geisterturm, ein Stück alte Burg, und ich marschierte los, um nachzuforschen. Zwischen mir und meinem Ziel floß ein felsiger Bach, deshalb mußte ich zu einer Fußgängerbrücke in einiger Entfernung vom Strand zurück und mir dann über einen matschigen, großzügig mit Abfall bestreuten Pfad einen Weg suchen. Der Burgturm war verfallen, die unteren Fenster und Türöffnungen waren zugemauert. Ein Schild daneben teilte mir mit, daß der Küstenpfad geschlossen, weil teilweise abgetragen war. Lange blieb ich auf dieser kleinen Landzunge stehen und starrte aufs Meer, dann drehte ich mich zur Stadt um und überlegte, was ich tun sollte.

Denn für die nächsten drei Tage sollte Thurso mein Zuhause sein, und ich wußte nicht so recht, wie ich eine so lange, leere Zeit ausfüllen sollte. Zwischen einem Schnaufer Seeluft und dem Gefühl, vollständig abgeschnitten zu sein, beschlich mich leise Panik. Ich war am Ende der Welt, es gab niemanden zum Reden und die aufregendste Unterhaltung bot ein alter zugemauerter Turm. Ich wanderte auf demselben Weg zurück in die Stadt und machte in Ermangelung einer Alternative noch einmal einen Schaufensterbummel. Und dann passierte es vor einem Gemüsegeschäft – ach, auf einer langen Reise weit weg von zu Hause passiert es mir immer. Und stets sehe ich dem Moment mit Grausen entgegen.

Ich begann, mir unbeantwortbare Fragen zu stellen!

Lange, einsame Reisen wirken sich nämlich sehr verschieden auf die Gemüter aus. Es hat ja auch etwas Abnormes, sich ohne besonderen Grund und mit unterbeschäftigtem Hirn an einem fremden Ort aufzuhalten. Da wird man schließlich ein bißchen verrückt im Kopf. Ich habe es oft bei anderen erlebt. Manche so mutterseelenallein Reisende fangen an, mit sich selbst zu reden. Sie murmeln vor sich hin und meinen, es hört keiner. Andere suchen verzweifelt die Gesellschaft Wildfremder, fangen an Ladentheken und Hotelrezeptionen mit Smalltalk an und lungern verdächtig lange dort herum, bevor sie sich dann endlich trollen.

Wieder andere werden zu gierigen, zwanghaften Besichtigern und rennen bei ihrem einsamen Streben, alles zu sehen, mit ihrem Reiseführer in der Hand von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit. Ich kriege eine Art Fragedurchfall. Ich stelle mir insgeheim und ganz für mich Fragen – Dutzende und Aberdutzende –, auf die ich aber keine Antwort weiß. Und als ich jetzt so vor dem Obst- und Gemüsegeschäft in Thurso stand, mit geschürzten Lippen und mehr oder weniger leerem Kopf in sein dunkles Inneres schaute und völlig unvermittelt dachte: »Warum heißt es Mandarine?«, wußte ich, es hatte begonnen.

Verglichen mit anderen Fragen ist die nicht schlecht. Ich meine, warum heißt es Mandarine? Ich weiß nicht, wie Sie reagieren würden, aber wenn mir jemand eine unbekannte orangerote Frucht unter die Nase hielte, die etwas kleiner als ein Tennisball wäre und süß schmeckte, würde ich, glaube ich, nicht denken: Ach, wißt ihr, sie erinnert mich wahrhaftig an einen Mandarin.

Das Problem ist, wenn die Fragerei einmal angefangen hat, gibt’s kein Halten mehr. Ein paar Häuser weiter war ein Laden, der Pullover verkaufte, und ich dachte: Warum nennen die Engländer sie »Jumper«, Springer? Schon seit Jahren mache ich mir darüber immer mal wieder Gedanken, und ich würde es echt gern wissen. Muß man darin springen? Wenn man morgens ein solches Teil anzieht, sagt man sich dann: Heute ist mir nicht nur den ganzen Tag warm (keine unwichtige Überlegung in einem Land, in dem man nicht immer wie selbstverständlich mit Zentralheizungen rechnen kann), sondern ich wäre auch entsprechend gekleidet, wenn man von mir verlangte, ein bißchen zu springen.

Und so ging es immer weiter. Unter einem Meteoriten-hagel von Fragen lief ich durch die Straßen. Warum spricht man vom »Fuß des Berges« und nicht vom »Kopf des Berges«? Warum sagen wir, uns läuft die Nase? (Meine glitscht.) Wer aß die erste Auster, und wie, um alles in der Welt, hat mal jemand herausgefunden, daß Ambra ein exzellentes Fixateur für Parfüms ist?

Wenn das geschieht, dann bedarf es, das weiß ich aus jahrelanger Erfahrung, eines besonderen Schocks, damit mein Verstand aus der Isolationsfolter befreit wird. Gott sei Dank konnte Thurso mit einem aufwarten. Als ich in einer Seitenstraße gerade zu überlegen begann, warum wir »Hals über Kopf« sagen, stieß ich auf eine außergewöhnliche kleine Lokalität, die Fountain Restaurant hieß und drei komplette, aber auch komplett unterschiedliche Menüs anbot – ein chinesisches, ein indisches und ein »europäisches«. Weil sich in einer Stadt wie Thurso vermutlich keine drei verschiedenen Restaurants rentieren, gab es eines, das drei Küchen offerierte.

Von diesem Konzept sofort angetan, ging ich hinein und wurde von einer hübschen jungen Dame zu einem Tisch geleitet. Sie gab mir eine Speisekarte, die viele, viele Seiten hatte. Aus dem Titelblatt war ersichtlich, daß alle drei Mahlzeiten von einem einzigen schottischen Koch zubereitet wurden, ich studierte also Seite um Seite in der Hoffnung, »Haferkekse süß-sauer« oder »Haggis Biriyani« zu finden, aber die Gerichte waren ganz traditionell. Ich entschied mich für das chinesische Menü, setzte mich dann gemütlich hin und genoß einen Zustand seliger Fragelosigkeit.

Dann kam das Essen, und ich muß sagen, es schmeckte wie ein chinesisches Gericht, von einem schottischen Koch gekocht – womit ich nicht sagen will, daß es nicht gut war. Witzigerweise war es nur völlig anders als irgendeine chinesische Speise, die ich je gekostet hatte. Je mehr ich aß, desto besser schmeckte es mir. Wenigstens war es anders, und das war in diesem Stadium der Reise alles, was ich wollte.

Danach ging es mir viel besser. Weil ich sonst nicht wußte, wohin, schlenderte ich noch einmal in die Nähe des Fischlagerhauses, um die Abendluft zu genießen. Doch als ich in der Dunkelheit stand, der hämmernden Brandung lauschte und zufrieden zu der sternenübersäten Himmelskuppel über mir schaute und plötzlich dachte: Wer war der Meinung, daß Hereford und Worcester flotte Namen für Grafschaften sind, wußte ich, es war Zeit, ins Bett zu gehen.

 

Am nächsten Morgen wurde ich früh von meinem Wecker geweckt, und erhob mich nur widerwillig. Denn ich hatte meinen Lieblingstraum geträumt. Ich besitze eine große, einsame Insel, nicht unähnlich denen hier oben an der schottischen Küste, und lade sorgfältig ausgewählte Leute ein: den Typen, der die Weihnachtsbaumlichter erfunden hat, die ausgehen, wenn ein Glühbirnchen platzt, den Menschen, der für die Rolltreppenwartung auf dem Flughafen Heathrow zuständig ist, beinahe alle, die je eine Benutzeranleitung für einen PC verfaßt haben, und natürlich John Selwyn Gummer. Ich schicke sie mit einer minimalen Überlebensration los, jage dann mit einer wildkläffenden Hundemeute hinter ihnen her und bringe sie alle gnadenlos zur Strecke. Doch plötzlich fiel mir ein, daß ich einen großen aufregenden Tag vor mir hatte. Ich fuhr nach John O’Groats!

Seit Jahren hatte ich von John O’Groats gehört, aber nicht den leisesten Schimmer, wie es dort war. Angeblich über alle Maßen exotisch, und ich wollte unbedingt dorthin. Aufgeregt frühstückte ich im Pentland Hotel, wo ich der einzige Mensch im Speisesaal war, und fand mich Punkt neun bei William Dunnet’s, dem ortsansässigen Fordhändler, ein. Ich hatte ein paar Tage zuvor telefonisch dort ein Auto reservieren lassen, weil man John O’Groats zu dieser Jahreszeit nicht anders erreichen kann.

Der Mann im Ausstellungsraum brauchte einen Moment, um sich an die Vereinbarung zu erinnern. »Ah, Sie sind der Bursche da unten aus dem Süden«, sagte er, als es ihm einfiel. Das brachte mich doch ein wenig aus dem Konzept. Man hört nicht oft, daß Yorkshire als »da unten im Süden« bezeichnet wird.

»Sind das von hier aus nicht alle Orte?« fragte ich.

»Nun ja, wahrscheinlich«, sagte er, als sei er auf etwas selten Tiefgründiges gestoßen.

Er war ein freundlicher Bursche – in Thurso sind alle Leute freundlich –, und während er die umfangreiche Bürokratie erledigte, ohne die er mir die Verantwortung für zwei Tonnen gefahrlichen Metalls nicht übertragen konnte, plauderten wir angeregt über das Leben in diesem entfernten Außenposten der Zivilisation. Mit dem Auto dauerte es sechzehn Stunden nach London, nicht, daß jemals jemand dorthin fuhr, erzählte er. Für die meisten Leute sei Inverness, vier Stunden mit dem Wagen, die südliche Grenze der bekannten Welt.

Mir kam es vor, als hätte ich seit Monaten mit niemandem gesprochen, und ich laberte ihn mit Fragen zu. Womit verdienten sich die Leute in Thurso ihren Lebensunterhalt? Wieso war die Burg so verfallen? Wo fuhren sie hin, wenn sie ein Sofa kaufen, einen Film sehen oder ein chinesisches Gericht essen wollten, das nicht ein Schotte gekocht hatte, oder wenn sie sonst etwas erleben wollten, das jenseits der bescheidenen Vergnügungs-möglichkeiten lag, die der Ort bot?

Und ich erfuhr, daß Thurso wirtschaftlich von dem unweit gelegenen Atommeiler in Dounreay am Leben erhalten wurde, daß die Burg einst wohlerhalten und wunderschön gewesen war, der exzentrische Besitzer sie aber verfallen lassen hatte, und daß Inverness ein durchaus aufregendes Pflaster war. Darob muß ich zartes Erstaunen verraten haben, denn er lächelte und sagte schmunzelnd: »Na ja, dort gibt es ein Marks & Spencer.«

Dann nahm er mich mit nach draußen, setzte mich in den Fahrersitz eines Ford Thesauraus (oder was weiß ich, ich bin bei Autonamen nicht sehr gut), erklärte mir in aller Kürze die vielen beweglichen Hebel und Armaturen-brettknöpfe und sah mir dann mit starrem, nervösem Lächeln zu, wie ich Schalter und Regler betätigte, die dafür sorgten, daß die Rückenlehne von meinem Rücken wegschoß, der Kofferraum aufsprang, die Scheiben  wischer auf Platzregenstufe schalteten, und ich mir mit einem quälenden Knirschen der Gänge und etlichen ruckartigen Bewegungen einen neuen, reichlich holprigen Pfad vom Parkplatz bahnte und die Straße erreichte.

Sekunden später, denn so winzig ist Thurso, war ich auf der offenen Landstraße und bewegte mich wohlgemut auf John O’Groats zu. Es war eine faszinierend leere Landschaft. Eigentlich nur wogende winterbleiche Wiesen, die bis zu der tosenden See hinunterreichten, und die im Dunst liegenden Orkney-Inseln dahinter, aber das Gefühl der Weite und Offenheit brachte mich in Hochstimmung, und zum erstenmal seit Jahren fühlte ich mich vergleichsweise sicher hinter einem Steuerrad. Es gab überhaupt nichts zum Hineinkrachen.

Wenn man in den äußersten Norden Schottlands kommt, ist man wirklich völlig abseits vom Schuß. In ganz Caithness leben nur 27000 Menschen – in etwa die Bevölkerung von Haywards Heath oder Eastleigh in einem Gebiet, das beträchtlich größer ist als die meisten englischen Grafschaften. Die beiden Städte Thurso und Wick stellen mehr als die Hälfte dieser Bevölkerung und John O’Groats überhaupt keine, denn es ist keine Gemeinde, sondern nur eine Stelle, wo man anhalten und Postkarten und Eis kaufen kann.

Sie heißt nach Jan de Groot, einem Holländer, der im fünfzehnten Jahrhundert dort einen Fährbetrieb unterhielt. (Wenn er halbwegs bei Sinnen war, nach Amsterdam.) Offenbar nahm er 4 Pence, und in der Gegend wird erzählt, daß diese Summe von da an als Groat bekannt wurde, aber leider ist es eine rührende Erfindung. Wahrscheinlicher ist, daß der Holländer nach der alten englischen Silbermünze Groat benannt wurde, und nicht umgekehrt. Aber egal, wen interessiert das schon?

Heute besteht John O’Groats aus einem geräumigen Parkplatz, einem kleinen Hafen, einem einsamen weißen Hotel, ein paar Eisbuden und drei oder vier Läden, die Postkarten, Pullover und Videos von einem Sänger namens Tommy Scott verhökern. Angeblich war auch ein berühmter Wegweiser dort, mit den Angaben, wie weit es nach Sydney und Los Angeles ist, aber ich habe ihn nicht gefunden. Vielleicht nehmen sie ihn außerhalb der Saison weg, damit Leute wie ich ihn nicht als Souvenir mitgehen lassen. Nur ein Laden war auf. Ich ging hinein und war überrascht, daß dort drei Damen mittleren Alters arbeiteten. Die Besetzung schien ein bißchen übertrieben, denn ich war ganz offenkundig der einzige Tourist im Umkreis von 400 Meilen. Die Damen waren ausgesprochen munter und fidel und begrüßten mich aufs herzlichste mit diesem wundervollen Highland-Akzent – nüchtern und präzise und dennoch melodisch. Ich faltete ein paar Pullover auseinander, damit sie was zu tun hatten, wenn ich wieder weg war, betrachtete mit offenem Mund ein Demovideo von Tommy Scott, der auf diversen windumtosten Landzungen kecke schottische Weisen zum besten gab (schon gut, ich sag ja nichts), kaufte ein paar Postkarten, hielt mich lange bei einer Tasse Kaffee auf, schwatzte mit den Damen über das Wetter, ging dann auf den stürmischen Parkplatz hinaus und begriff, daß ich alles erlebt hatte, was man in John O’Groats erleben kann.

Ich wanderte im Hafen herum, schirmte vor den Fenstern des kleinen Museums, das bis zum Frühjahr geschlossen hatte, die Augen mit den Händen ab und lugte hinein, warf einen anerkennenden Blick auf den Pentland Firth, Stroma und den Old Man of Hoy und ging dann zurück zum Auto. Sie wissen das womöglich schon, aber John O’Groats ist nicht der nördlichste Punkt des schottischen Festlandes. Diese Auszeichnung gebührt einem Ort namens Dunnet Head, fünf oder sechs Meilen weiter. Dunnet Head hat der Menschheit sogar noch weniger Zerstreuung zu bieten als John O’Groats, doch es hat einen hübschen unbemannten Leuchtturm, sensationelle Blicke aufs Meer und natürlich eine hübsche Atmosphäre völliger Abgeschiedenheit.

Ich stand auf einer böigen Anhöhe, betrachtete lange die Welt um mich herum und wartete darauf, daß mich ein tiefsinniger Gedanke beschlich, denn ich war in gewisser Weise am Ziel. Ich wäre schon gern mit der Fähre zu den draußen gelegenen Inseln, den verstreuten Felsnasen bis ins weit entfernte Shetland getuckert, aber ich hatte keine Zeit mehr, und eigentlich war es auch nicht nötig. Trotz seines rauhen, luftigen Charmes würde Shetland doch nur ein weiteres Stück Großbritannien sein. Die gleichen Läden, dasselbe Fernsehprogramm, die gleichen Leute in den gleichen Marks & Spencer-Strickjacken. Das fand ich überhaupt nicht traurig – eher das Gegenteil –, aber ich verspürte auch nicht unbedingt das Bedürfnis, es nun zu sehen. Beim nächsten Mal würde es immer noch dort sein.

Einen Hafen mußte ich jedoch in meinem Miet-Ford noch anlaufen. Sechs oder sieben Meilen südlich von Thurso befindet sich das Dorf Halkirk, nun vergessen, aber wegen der angeblichen Unfreundlichkeit seiner Bewohner und weil es wirklich am Arsch der Welt liegt, im Zweiten Weltkrieg bei britischen Soldaten ein zutiefst, zutiefst unpopulärer Stützpunkt. Sie sangen ein bezauberndes kleines Lied.

 

This fucking town’s a fucking cuss

No fucking trams, no fucking bus,

Nobody cares for fucking us

In fucking Halkirk.

 

No fucking sport, no fucking games,

No fucking fun. The fucking dames

Won’t even give their fucking names

In fucking Halkirk.

 

Und in diesem liebevollen Geiste geht es noch zehn Strophen weiter. (Um die fällige Frage zu beantworten: Ich hatte vorher nachgeschaut, es war keiner der Standardtitel von Tommy Scott.) Über die einsame 6874 fuhr ich also nach Halkirk. An dem Ort war natürlich nicht viel dran – nur ein paar Straßen auf dem Weg nach nirgendwo, eine Fleischerei, ein Baumaterialiengeschäft, zwei Pubs, ein kleiner Lebensmittelladen und eine Dorfgemeinschaftshalle mit Kriegerdenkmal. Man merkte an keiner Stelle, daß Halkirk je mehr gewesen war als eine öde kleine Unterbrechung der allgemeinen Leere ringsherum, aber auf dem Denkmal standen die Namen von dreiundsechzig Toten aus dem Ersten Weltkrieg (neun hießen Sinclair und fünf Sutherland) und achtzehn aus dem Zweiten.

Vom Rand des Dorfes konnte man meilenweit über die grasbewachsenen Ebenen sehen, aber nirgendwo Reste von verfallenen Kasernen. Nein, diese Gegend schien nie etwas anderes gewesen zu sein als endlose Pampa. Neugierig betrat ich den Lebensmittelladen. Was für ein seltsames Ding – ein großer, schuppenähnlicher Raum, schlecht beleuchtet und bis auf ein paar Metallregale an der Tür leer. Auch dort lagen nur einige vereinzelte Päckchen mit allem möglichen Klimbim. Ein Mann stand an der Kasse, und ein alter Bursche vor mir tätigte einen kleineren Einkauf. Ich erkundigte mich nach dem Stützpunkt.

»Oh, aye«, sagte der Besitzer. »Das große Kriegsgefangenenlager. Am Ende des Krieges hatten wir vierzehntausend Deutsche hier. Hier gibt’s ein Buch, da ist alles drin.«

Zu meiner Verwunderung hatte er trotz des kargen sonstigen Angebots einen Stapel Bildbände neben der Kasse liegen. Titel: Caithness im Krieg oder so ähnlich. Es gab mir einen zum Anschauen. Er enthielt die üblichen Bilder von ausgebombten Häusern und Pubs, um die die Leute herumstanden und sich fassungslos am Kopf kratzten oder mit diesem idiotischen Katastrophenbildergrinsen in die Kamera starren, als dächten sie: Na, wenigstens kommen wir in die Picture Post. Ich fand kein einziges Bild von gelangweilten Soldaten in Halkirk, im Register wurde das Dorf nicht einmal erwähnt. Das Buch hatte den stolzen Preis von 15,95 Pfund.

»Wunderbares Buch«, spornte mich der Besitzer zum Kauf an.

»Preiswert.«

»Vierzehntausend Deutsche hatten wir hier im Krieg!« brüllte der alte, halbtaube Knabe.

Mir fiel nicht ein, wie ich taktvoll nach Halkirks gräßlichem Ruf fragen konnte. »Für die britischen Soldaten war es doch hier bestimmt ziemlich einsam«, überlegte ich laut.

»Ach nein, das glaube ich nicht«, widersprach der Mann.

»Thurso ist doch nur einen Katzensprung entfernt und Wick auch, wenn Sie mal eine Abwechslung wollten. Damals wurde viel getanzt«, fügte er einen Hauch zweideutig hinzu und nickte dann in Richtung des Buchs in meinen Händen. »Preiswert.«

»Ist von dem alten Stützpunkt noch was übrig?«

»Hm, die Gebäude sind natürlich nicht mehr da, aber wenn Sie hier hinten hinausgehen«, er gestikulierte in die entsprechende Richtung, »stoßen Sie noch auf die Fundamente.« Einen Moment schwieg er und sagte dann: »Und kaufen Sie das Buch nun?«

»Äh, hm – ich überleg’s mir noch mal«, log ich und gab es ihm zurück.

»Es ist preiswert«, sagte der Mann.

»Vierzehntausend Deutsche warn hier!« rief mir der Alte nach, als ich ging.

Zu Fuß schaute ich mir die Umgebung noch einmal an, gondelte dann noch ein bißchen im Auto herum, fand aber keine Spur von einem Gefangenenlager, und langsam dämmerte mir, daß es doch wohl auch ziemlich unwichtig war. Ich fuhr nach Thurso zurück und brachte dem freundlichen Fordhändler das Auto. Er war völlig überrascht, weil es erst kurz nach zwei war.

»Wollen Sie wirklich nicht noch woanders hinfahren?« sagte er. »Es ist doch schade, Sie haben das Auto ja für den ganzen Tag gemietet.«

»Wo könnte ich denn noch hinfahren?« fragte ich.

Eine Minute dachte er nach. »Hm, eigentlich nirgendwohin.«

Er sah ein wenig niedergeschlagen aus.

»Schon gut«, sagte ich. »Ich habe viel gesehen!« Und ich meinte es im weitesten Sinne.