Dreizehntes Kapitel

 

Ich ließ meine Prinzipien sausen und mietete mir für drei Tage ein Auto. Es ging leider nicht anders. Ich wollte die Cotswolds besuchen, und jedes Kind weiß, daß das ohne eigenen fahrbaren Untersatz nicht machbar ist. Schon 1933 bemerkte J. B. Priestley in seinem English Journey, daß selbst damals nur eine einzige Eisenbahnlinie durch die Cotswolds verlief. Jetzt gibt es nicht einmal mehr die, und die eine, die außen herum verläuft, nützt einem nichts.

Ich mietete mir also in Oxford ein Auto und fuhr mit diesem schwindelerregenden Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten los, das mich befällt, wenn ich mich als Herr über zwei Tonnen unvertrauten Metalls fühle. Meine Erfahrung mit Mietautos ist, daß sie einen normalerweise nicht aus einer Stadt herauslassen, bevor sie sich nicht von allem und jedem verabschiedet haben. Meins nahm mich mit auf eine lange Tour durch Botley und Hinkley, auf eine nostalgische Rundreise um das Rover-Werk in Cowley und hinaus durch Blackbird Leys, beförderte mich zweimal um einen Kreisverkehr und schleuderte mich dann wie ein Raumschiff auf der Erdumlaufbahn zurück in Richtung Stadt. Ich war machtlos dagegen, vor allem, weil ich intensiv bemüht war, die Scheibenwischer am Rückfenster abzustellen, die ebenfalls einen eigenen Willen zu haben schienen. Von der Vorderscheibe versuchte ich gleichzeitig eine unansehnliche Schicht schaumiger Waschsubstanz wegzubekommen, die, einerlei, welchen Schalter ich drückte oder an welchem Hebel ich zerrte, in dicken Stoßbächen herausschoß und die Sicht trübte.

Zumindest gab mir mein Auto die Chance, das wenig bekannte, aber faszinierende Gebäude des Kartoffelvermarktungsverbandes in Cowley zu sehen, auf dessen Parkplatz ich einbog, um zu wenden, als ich mich total verirrt hatte. Das Ding war ein massiver Sechziger-Jahre-Bau, vier Stockwerke hoch und so groß, daß dort sicher 400 bis 500 Arbeiter herumwerkeln konnten. Ich stieg aus, um die Windschutzscheibe mit ein paar aus dem Handbuch herausgerissenen Seiten abzuwischen, das ich im Handschuhfach gefunden hatte, starrte aber bald in die atemberaubend grandiose Zentrale des Kartoffelvermarktungsverbandes. Wie viele Menschen braucht man, um Kartoffeln zu vermarkten? Bestimmt saßen hinter Türen mit der Aufschrift »Abteilung für ungewöhnliche Garnierungen« Leute in weißen Hemden an langen Tischen, und ein Typ mit einem Flipchart verklickerte ihnen was von aufregenden Plänen für die Pentland-Squires-Herbstkampagne. In welch seltsamem, eng begrenzten Universum müssen sie leben. Stellen Sie sich vor, Sie widmen sich während Ihres gesamten Arbeitslebens eßbaren Knollen, und es raubt ihnen den Schlaf, weil schon wieder jemand anders die Nummer Zwei bei Chips und Kartoffelbreipulver geworden ist. Stellen Sie sich die Cocktailparties dieser Menschen vor! Lieber nicht.

Ich kehrte zum Wagen zurück, experimentierte dort eine Weile mit den Knöpfen und Reglern und dachte, wie sehr ich Autos doch haßte. Manche Menschen sind für Autos gemacht, manche nicht. So einfach ist das. Ich hasse Autofahren, ich hasse es, über Autos nachdenken zu müssen, und ich hasse es, über Autos zu reden. Und am allermeisten hasse ich es, wenn ich ein neues Auto habe und ins Pub gehe. Denn immer fängt einer an, mich auszufragen, wovor ich jedesmal Angst habe, weil ich nicht mal die Fragen verstehe.

»Aha, du hast also ein neues Auto?« geht es los. »Wie fährt es sich?«

Sehen Sie, da bin ich schon verloren. »Hm, wie ein Auto eben. Hast du noch nie in einem drin gesessen?«

Und dann bombardieren sie einen. »Wie ist er im Verbrauch? Wieviel Liter? Wieviel Umdrehungen hat er? Hat er obenliegende Zwillingsnockenwellen oder einen doppelläufigen Lichtmaschinenvergaser mit voller Pike und einem doppeltgemoppelten Trittbrett?« Ich begreife ums Verrecken nicht, warum jemand den ganzen Scheiß über eine Maschine wissen will. Nichts anderes interessiert die Leute so sehr. Ich bin immer versucht zu sagen: »He, ich habe gehört, du hast einen neuen Kühlschrank. Wieviel Liter Frigen faßt das gute Stück? Wieviel Joules verbraucht es? Cool, das Teil?«

Dieses Auto hatte das übliche Aufgebot an Knöpfen und Kippschaltern, alle mit einem Symbol versehen, das bloß dazu da war, einen zu verwirren. Also wirklich, was soll man mit einem Schalter anfangen, auf dem 101 steht? Wie soll unsereins kapieren, daß ein Rechteck, das wie ein Fernseher mit schlechtem Empfang aussieht, »Rückfenster« bedeutet? In der Mitte dieses Armaturenbretts gab es zwei kreisrunde Skalen gleicher Größe. Klar, auf der einen konnte man die Geschwindigkeit ablesen, aber die andere gab mir ein totales Rätsel auf. Sie hatte zwei Zeiger, deren einer sich sehr langsam vorwärtsbewegte und deren anderer sich überhaupt nicht zu bewegen schien. Ich schaute sie eine Ewigkeit an, bis mir schließlich dämmerte – und ich lüge nicht –, daß es eine Uhr war.

Als ich endlich Woodstock, zehn Meilen nördlich von Oxford, erreicht hatte, war ich rechtschaffen erschöpft und heilfroh, krachend an einem Bordstein halten und das Ding ein paar Stunden verlassen zu können. Ich muß sagen, ich mag Woodstock sehr. Angeblich ist es im Sommer grauenhaft, aber ich habe es immer nur außerhalb der Saison besucht, und da war es wunderschön. Seine georgianischen Häuser strahlen etwas Selbstbewußtes, ja, Hoheitsvolles aus, es gibt viele gemütliche Pubs und die verschiedensten interessanten Läden, deren Fassaden ausnahmslos unverdorben sind. Im Dorf gibt es kein Stück Messing, das nicht glänzt. Die Post hat ein altmodisches schwarzsilbernes Schild, viel eleganter und stilvoller als das neue rotgelbe Logo, und sogar die Barclays Bank hat wahrhaftig dem Drang widerstanden, die Front ihres Hauses mit schwimmbeckenblauen Plastikplatten zu verkleiden.

In der High Street rangierten die Volvos, und die tweedige Landaristokratie flanierte mit Weidenkörben am Arm vorbei. Auch ich schlenderte an den stolzen Häusern und Läden entlang, blieb hier und da vor Schaufenstern stehen und stand auf einmal vor dem Eingang zu Blenheim Palace und dem Park. Unter einem imposanten Zierbogen befand sich ein Kartenhäuschen mit Schild, dem ich entnahm, daß der Eintritt für einen Erwachsenen 6,90 Pfund kostete. Genaueres Studium enthüllte, daß das die Erlaubnis zur Besichtigung des Schlosses, des Schmetterlingshauses sowie die Benutzung der Miniatureisenbahn, des Abenteuerspielplatzes, ja, der ganzen Palette der kulturellen Zerstreuungen beinhaltete. Weiter unten hieß es, der Zutritt zum Park allein betrage 90 Pence. Man kann mich ja leicht verarschen, aber niemand knöpft mir ohne guten Grund 90 Pence ab. Meine stets zuverlässige topographische Karte besagte, daß hier öffentliches Wegerecht bestand, also schritt ich mit höhnischem Grinsen und der Hand auf der Brieftasche durch das Tor, und der Mann im Kartenhäuschen war klug genug, sich nicht mit mir anzulegen.

Sobald man das Tor passiert, ist alles wie verwandelt. Gerade noch war man in einem geschäftigen Dorf, und dann betritt man ein Arkadien, durch das nur noch ein paar Gainsborough-Gestalten promenieren müßten, damit es vollkommen wäre. Vor mir breitete sich fast ein Hektar sorgfältig komponierter Landschaft aus – behäbige, dicke Kastanien- und anmutige Ahornbäume, Rasenflächen, glatt wie Billardtische, ein Zierteich, der von einer eindrucksvollen Brücke überspannt wurde, und im Zentrum all dessen der ehrwürdige Barockbau des Blenheim Palace. Alles sehr edel.

Ich folgte dem Weg, der sich an dem vollen Besucherparkplatz vorbei durch den Schloßpark wand, und weiter am Rand des Pleasure Gardens entlang. All das wollte ich mir auf dem Rückweg genauer ansehen, denn nun ging ich erst mal zum Ausgang an der Straße nach Bladon. Bladon ist ein unter heftigem Güterverkehr bebendes, unscheinbares kleines Nest, doch in seiner Mitte befindet sich der Friedhof, auf dem Winston Churchill begraben liegt. Es hatte angefangen zu regnen, und da es eine ganz schön lange Wanderung an einer vielbefahrenen Straße entlang war, zweifelte ich allmählich, ob sich die Mühe lohnte. Als ich ankam, war ich aber froh. Der Friedhof war wunderhübsch und sehr abgeschieden und Churchills Grab so unauffällig, daß ich ziemlich lange zwischen den kippenden Grabsteinen suchen mußte. Ich war der einzige Besucher. Churchill und Clemmie teilen sich eine einfache, scheinbar vergessene Grabstelle, was ich überraschend anrührend und eindrucksvoll fand. Da ich ja nun einmal aus einem Land komme, wo selbst die obskursten und nichtsnutzigsten Präsidenten eine riesige Gedenkbibliothek kriegen, wenn sie den Löffel abgeben – sogar Herbert Hoover hat weit draußen in Iowa eine Grabstätte, die wie das Hauptquartier der Welthandelsorganisation aussieht –, fand ich es doch sehr bemerkenswert, daß nicht mehr als eine bescheidene Statue auf dem Parliament Square und dieses simple Grab an den größten Staatsmann Großbritanniens im zwan-zigsten Jahrhundert erinnern. Solch löblich demonstrierte Zurückhaltung beeindruckte mich wirklich sehr.

Ich ging zurück nach Blenheim und schnüffelte ein bißchen im Pleasure Gardens und den anderen Freiluftattraktionen herum.

»Pleasure Gardens«, der Vergnügungspark, war offenbar die Abkürzung für »Es ist uns ein Vergnügen, Ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen«, denn er schien nur dazu da, die Besucher zu animieren, sich in einem Geschenkeladen und einem Tea Room von weiteren Summen zu trennen oder Gartenbänke und dergleichen Gegenstände aus dem Blenheim-Estate-Sägewerk zu kaufen. Dutzende Menschen bummelten munter und zufrieden herum. Es störte sie offenbar nicht im geringsten, daß sie 6,90 Pfund für das Privileg bezahlt hatten, etwas anzuschauen, das sie gratis in jedem anständigen Gartencenter sehen konnten. Beim Rückweg aus den Gardens in Richtung Schloß ergriff ich die Gelegenheit zur Besichtigung der Miniaturdampfeisenbahn. Sie befuhr einen in der Länge entschieden moderaten Streckenabschnitt in einer Ecke der Anlage. Den Anblick von fünfzig Engländern, die in kaltem, grauem Nieselregen rittlings auf einer kleinen Eisenbahn hockten und darauf warteten, daß diese 65 Meter weit fuhr, und das lustig fanden, werde ich nicht so schnell vergessen.

Ich ging über einen gepflasterten Weg zum vorderen Teil des Schlosses und über Vanbrughs prachtvolle Brücke zu der mächtigen, lächerlich egozentrischen Säule des ersten Duke of Marlborough, die auf der Spitze eines

Hügels errichtet worden ist und Schloß und See überblickt. Ein höchst außergewöhnliches Teil, wirklich, nicht nur, weil es so hoch und eindrucksvoll ist, sondern weil es den Blick aus mindestens einhundert Schloßfenstern dominiert. Was ist das für ein Mensch, überlegte ich, der auf seinem eigenen Grund und Boden eine dreißig Meter hohe Säule für sich errichten läßt? Der Kontrast zu dem einfachen Grab des guten alten Winnie war frappierend.

Vielleicht bin ich ja ein zu simples Gemüt, aber mir schien immer, daß das Ausmaß von Blenheim Palace und das Ausmaß von Marlboroughs Leistung seltsam dis-proportional sind. Ich hätte ja verstanden, wenn eine dankbare Nation ihn in einem Irrsinnsfreudentaumel mit, sagen wir, lebenslänglich zwei Wochen Ferien auf den Kanarischen Inseln oder einem Besteck oder einer Teemaschine belohnt hätte, aber in meinem ganzen Leben werde ich nicht begreifen, wie ein paar Siege an obskuren Orten wie Oudenard und Malplaquet als ausreichend betrachtet werden, dem intriganten alten Knacker eines der großen Schlösser Europas und die Herzogswürde zu schenken. Noch bemerkenswerter finde ich, daß beinahe 300 Jahre später die Erben des Herzogs das Anwesen mit Miniatureisenbahnen und Hopsburgen verunzieren, Eintritt verlangen und unverdiente Standes- beziehungs-weise Adelsprivilegien genießen dürfen, nur weil ein uralter Ahnherr zufallig das Talent besaß, schon mal eine Schlacht zu gewinnen. Eine höchst absonderliche Regelung.

Ich erinnere mich, gelesen zu haben, daß der zehnte Duke of Marlborough zu Besuch bei einer seiner Töchter einmal völlig konsterniert von der Treppe herunter verkündete, seine Zahnbürste schäume nicht richtig. Es stellte sich heraus, daß sein Kammerdiener ihm immer die Zahnpasta auf die Bürste getan hatte und folglich der Herzog nicht ahnte, daß Zahnhygienegeräte nicht spontan schäumen. Damit ist doch alles gesagt.

Während ich da so stand und den Anblick genoß und über das kuriose Phänomen des Geburtsadels nachdachte, ritt eine gepflegte junge Frau auf einem rötlichbraunen Gaul sehr dicht an mir vorbei. Ich habe keine Ahnung, wer sie war, aber sie sah reich und privilegiert aus. Ich schenkte ihr ein kleines Lächeln, wie man das draußen so macht, wenn man Fremden begegnet, und sie starrte mich an, als sei es absolut unter ihrer Würde, zurückzulächeln. Da erschoß ich sie, ging zum Auto und fuhr weiter.

 

Ich gondelte zwei Tage durch die Cotswolds, und es gefiel mir nicht die Bohne – nicht weil die Cotswolds häßlich waren, sondern das Auto. In einem privaten fahrbaren Untersatz ist man praktisch von der Welt abgeschnitten, und das Tempo ist völlig verkehrt. Ich hatte mich daran gewöhnt, mich in Geh- beziehungsweise höchstens British-Rail-Geschwindigkeit fortzubewegen, was natürlich oft auf ein und dasselbe hinausläuft. Nachdem ich also einen ganzen Tag lang durch diverse Chippings und Slaughters und Tweeness-upon-the-Waters gesaust war, war es geradezu eine Erleichterung, das Auto auf einem Parkplatz in Broadway stehenzulassen und die eigenen Füße zu benutzen.

Als ich den Ort das letztemal an einem August-nachmittag ein paar Jahre zuvor gesehen hatte, war er ein Alptraum aus stehendem Verkehr und Herden einher-schlurfender Tagesausflügler gewesen, aber nun außerhalb der Saison war er abgeschieden und friedlich, die High Street beinahe leer. Broadway ist wunderhübsch mit seinen tief gezogenen Satteldächern, den Flügelfenstern, zahlreichen Giebeln und hübschen kleinen Gärten. Der goldene Kalkstein der Cotswolds hat was. Wie er das Sonnenlicht absorbiert und dann reflektiert, scheinen selbst an den trübsten Tagen Dörfer wie Broadway in einen nie verlöschenden Schimmer getaucht. Der Tag war aber sogar sonnig und strahlend, ein Hauch herbstlicher Frische lag in der Luft, die Welt fühlte sich wunderbar sauber, wie frischgewaschen an. Auf der Hälfte der High Street sah ich einen Wegweiser für den Cotswold Way und nahm stante pede einen Pfad zwischen alten Häusern hindurch. Ich folgte ihm über eine sonnenbeschienene Wiese und den langen Hang hinauf zum Turm von Broadway. Der Blick von dort über das breite Vale of Evesham war, wie immer von solchen Aussichtspunkten, sensationell – sanft gewellte, trapezförmige Äcker, die sich bis zu den dunstigen, bewaldeten Höhen hinzogen. Großbritannien hat immer noch mehr Landschaften, die wie Illustrationen aus einem Kinderbuch aussehen als alle anderen Länder, die ich kenne – eine bemerkenswerte Leistung auf einer solch dicht besiedelten, industrialisierten kleinen Insel. Und dennoch konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß der Blick vor zehn oder zwanzig Jahren lohnender, weil idyllischer gewesen wäre.

Bei einer so zeitlos bezaubernden Landschaft, die so harmonisch in einer uralten Vergangenheit verwurzelt ist, vergißt man leicht, wie rasch sie verlorengehen kann. Natürlich störten auch Hochspannungsmasten, hier und dort Neubausiedlungen und ferne, in der Sonne glitzernde Verbrauchermärkte das Panorama vor mir. Viel schlimmer aber war, daß das dichte, sorgsam geknüpfte Netzwerk von Hecken deutliche Zeichen von Zerrissenheit und Zerfall zeigte, als hätten müßige Finger eine Frottierplüschdecke kaputtgezupft. Schon standen Reste dicht wuchernder Hecken einsam und verloren inmitten ansonsten konturenloser Wiesen.

Wußten Sie, daß England zwischen 1945 und 1985 96000 Meilen Hecken verloren hat – genug, um die Erde viermal zu umgürten? Die Landschaftspolitik der Regie-rung war so konfus, daß die Farmer vierundzwanzig Jahre lang einen Zuschuß zum Heckenpflanzen und einen zum Umgraben bekommen konnten. Zwischen 1986 und 1990 gingen trotz der Tatsache, daß es keine Regierungsgelder mehr zum Heckenumpflügen gab, weitere 53000 Meilen verloren. Oft hört man das Argument (und das weiß ich, weil ich einmal ein dreitätiges Symposion über Hecken besucht habe; so was nehme ich auf mich, damit meine Kinder Reeboks tragen können), daß die Hecken eigent-lich ein vergängliches landschaftliches Charakteristikum seien, ein Relikt aus der Zeit, als die Gemeindeländereien eingefriedet wurden, und daß der Versuch, sie zu erhalten, lediglich die natürliche Entwicklung des Landes hemme. Wahrhaftig hört man immer öfter, daß jedwedes Bewahren engstirnig und rückwärts gerichtet sei und den Fortschritt behindere. Mir liegt ein Zitat von Lord Palumbo vor, der behauptet, daß die ganze, ach so vage Vorstellung von Erbe und Überlieferung »von der Sehnsucht nach dem nichtexistenten goldenen Zeitalter belastet sei, das, hätte es denn existiert, sehr gut der Tod aller Erfindung hätte sein können«. Es bricht mir das Herz, so töricht ist es.

Mal ganz abgesehen davon, daß man als logische Konsequenz dieses Arguments Stonehenge und den Tower of London abreißen müßte, gibt es viele Hecken tatsächlich schon sehr, sehr lange. Ich weiß von einer besonders hübschen Hecke in Cambridgeshire, sie heißt Judith’s Hedge, die älter als die Kathedrale von Salisbury ist, älter als das Münster in York, ja älter als höchstens eine Handvoll Gebäude in Großbritannien, und dennoch gibt es kein Gesetz, das ihre Zerstörung verhindern würde. Wenn die Straße verbreitert werden müßte oder die Eigentümer beschlossen, sie wollten ihren Besitz lieber mit Zaunpfählen und Stacheldraht begrenzen, wäre es nur das Werk einiger Stunden, 900 Jahre buchstäblich lebendiger Geschichte wegzubaggern.

Das ist doch krank! Wenigstens die Hälfte der Hecken in Großbritannien datiert aus der Zeit vor den Einfriedungen, und bis zu einem Fünftel stammt aus angelsächsischen Zeiten. Aber ganz egal, man sollte sie ja auch gar nicht nur deshalb bewahren, weil sie schon seit Ewigkeiten da sind, sondern weil sie unbestreitbar die Landschaft verschönern. Sie tragen entscheidend dazu bei, England zu England zu machen. Ohne sie wäre es nur Indiana mit Kirchtürmen.

Manchmal könnte ich geradezu ausrasten. Dieses Land hat die anmutigste, parkähnlichste, die makellosest kom-ponierte Landschaft, die die Welt je gesehen hat; sie ist das Produkt jahrhundertelanger unermüdlicher, intuitiver Verfeinerungsarbeit, und nun ist man nur noch eine halbe Generation davon entfernt, das meiste davon für immer zu zerstören. Hier geht’s nicht um »die Sehnsucht nach einem nichtexistenten goldenen Zeitalter«. Hier geht’s um etwas, das grün und lebendig und unvergleichlich schön ist. Wenn also noch einmal jemand zu mir sagt: »Hecken sind in Wirklichkeit gar kein uraltes Merkmal dieses Landes«, kriegt er eins auf die Nase, denn ich bin zwar ein großer Anhänger von Voltaires berühmter Maxime, »Mein Herr, ich bin vielleicht nicht Ihrer Meinung, aber ich werde mit meinem Leben für Ihr Recht einstehen, ein komplettes Arschloch zu sein«, doch irgendwo ist Schluß.

 

Ich wanderte über einen kleinen Waldweg nach Snowshill, drei Meilen weiter. Die goldenen Blätter raschelten, und der weite blaue Himmel war leer bis auf ein gelegentlich langsam dahinziehendes Geschwader Zugvögel. Es war ein wunderschöner Tag, um draußen zu sein – so ein Tag, an dem man tief durchatmet und wie Paul Robeson »Zippity Doo Dah« singt. Snowshill döste im Sonnenschein, ein Häuflein Steincottages, um einen sich sanft neigenden Anger versammelt. Ich erstand eine Eintrittskarte zu Snowshill Manor, nun in den Händen des National Trust, aber von 1919 bis 1956 das Heim eines exzentrischen Knaben namens Charles Wade, der sein Leben dem Sammeln umfangreichen und völlig beliebigen Krimskrams widmete, manches ist sehr gut, anderes kaum mehr als Trödel – Klavichorde, Mikroskope, flämische Wandteppiche, Schnupftabak- und Tabakdosen, Karten und Sextanten, Samurai-Rüstungen, Hochräder –, was immer Ihr Herz begehrt. Dann war das Haus so voll, daß für ihn kein Platz mehr blieb. Seine letzten Jahre wohnte er glücklich und zufrieden in einem Anbau, der wie das Haus selbst seit Wades Ableben nicht verändert wurde. Snowshill Manor gefiel mir über die Maßen, und als später die Sonne im Westen unterging und sich die Welt mit langen Schatten und dem herrlich delikaten Duft nach brennendem Holz füllte, wanderte ich als zutiefst glücklicher Mensch zu meinem Auto zurück.

Ich verbrachte die Nacht in Cirencester und fuhr am nächsten Tag nach Besichtigung des netten, kleinen Corinium Museum mit seiner außerordentlichen, seltsamerweise kaum bekannten Sammlung römischer Mosaiken, Münzen und sonstiger Gegenstände nach Winchcombe, um mir etwas ganz Besonderes anzusehen. Auf einem Hügel über Winchcombe gibt es nämlich eine kaum besuchte, aber so einzigartige und wunderbare Stätte, daß ich sogar zögere, hier davon zu erzählen. Die meisten der relativ seltenen Besucher, die in diese ruhige Ecke der Cotswolds eindringen, geben sich nämlich mit einem Besuch Sudeley Castles oder einer Wanderung zu dem berühmten, einsamen Eiszeithügelgrab Belas Knap zufrieden. Ich aber eilte schnurstracks zu einem grasbewachsenen Bergpfad namens Salt Way. Er heißt natürlich so, weil im Mittelalter hier Salz hertransportiert wurde. Es war ein bezaubernder Spaziergang über offenes Land, mit weiten Blicken in tiefeingeschnittene Täler, die nie ein Auto gesehen oder das Geräusch einer Kettensäge gehört zu haben schienen.

An einer Stelle namens Cole’s Hill stürzte der Pfad urplötzlich in einen wild wuchernden, dunklen Wald, in dem man sich wie in einem Ur-Wald fühlte und wegen der Brombeerranken kaum durchkam. Ich wußte, irgendwo hier drin war mein Ziel – eine Stätte, die auf der Karte als »römische Villa (Reste)« aufgeführt wurde. Ungefähr eine halbe Stunde lang schlug ich mit meinem Stock auf das Dickicht ein, dann fand ich die Grundmauern einer alten Wand. Es sah nach gar nichts aus – es hätten auch die Reste eines alten Schweinestalls sein können –, aber ein paar Meter weiter, beinah ganz überwuchert von wildem Efeu, waren noch mehr niedrige Mauern, eine ganze Reihe beidseitig eines Ganges, dessen Fliesen unter einem Teppich nasser Blätter lagen, und ich wußte, ich war in der Villa. In einem der Zimmerreste war der Boden sorgfaltig mit Düngerplastikbeuteln abgedeckt, die an den Ecken mit Steinen beschwert waren. Deshalb war ich hergekommen, was darunter lag, wollte ich sehen. Ein Freund hatte mir davon erzählt, aber ich hatte es nie so richtig geglaubt. Unter den Tüten war praktisch ein komplettes, etwa einsfünfzig mal einsfünfzig großes römisches Mosaik mit einem erlesenen Muster und bis auf ein paar brüchige Ränder makellos erhalten. Es ist schon komisch in einem einsamen Wald in einem Haus zu stehen, das einmal vor unvorstellbar langer Zeit einer römischen Familie gehörte, und ein Mosaik anzuschauen, das vor mindestens 1600 Jahren gelegt worden war, als das hier ein offener, sonniger Platz und dieser uralte Wald darum herum noch gar nicht gewachsen war. Es ist eine Sache, so etwas im Museum zu sehen, aber eine ganz andere, an der Stelle darauf zu stoßen, an der es entstanden ist. Ich habe keine Ahnung, warum das Mosaik nicht ins Corinium Museum gebracht worden ist. Ein schreckliches Versehen, vermute ich, aber ich bin überaus dankbar, daß ich die Gelegenheit hatte, es zu betrachten. Ich blieb lange auf einem Stein sitzen, wie festgenagelt vor Staunen und Bewunderung. Ich weiß nicht, was mich mehr ergriff, der Gedanke, daß auf diesem Boden einmal Menschen in Togen gestanden und ganz normal auf lateinisch miteinander geschwatzt hatten, oder daß es noch hier war, makellos und unberührt inmitten dieses dichten Gestrüpps.

Es klingt vielleicht schrecklich naiv, aber mir dämmerte zum erstenmal ganz ernsthaft, daß all die römischen Funde, die ich über die Jahre angeschaut hatte, nicht mit der Absicht erschaffen wurden, daß sie eines Tages in einem Museum landeten. Weil das Mosaik noch an seinem ursprünglichen Ort, nicht durch ein Seil abgetrennt und auch nicht in ein modernes Haus versetzt worden war, war es unabstreitbar ein Fußboden und nicht einfach nur ein nettes Kunstwerk. Es war zum Daraufherumlaufen da, zum Benutzen, und ohne jeden Zweifel waren römische Sandalen darüber geschlurft. Es schlug mich so seltsam in seinen Bann, daß ich ganz still vor mich hin staunte.

Nach langer Zeit stand ich auf, legte die Düngertüten sorgfaltig wieder an ihren Platz und beschwerte sie mit den Steinen. Dann nahm ich meinen Stock, betrachtete mein Werk, ob auch alles in Ordnung war, drehte mich um und begann langsam und allmählich, an diesen seltsamen, gedankenlosen Ort, das zwanzigste Jahrhundert, zurück-zukehren.