Achtzehntes Kapitel
Mit dem Zug fuhr ich nach Leeds und von dort nach Manchester – eine lange, gemächliche, nicht unangenehme Fahrt durch steile Täler, die dem Tal, in dem ich wohnte, sehr ähnlich waren; nur daß in diesen überall alte Fabriken und rußgeschwärzte, dicht gedrängte Dörfer standen. Es gab drei Typen von alten Fabriken: 1. Verfallene mit zerbrochenen Fenstern und zu VERMIETEN-Schildern. 2. Verschwundene, das heißt, kahle, leere Stellen. 3. Nichts produzierende wie Büros von Kurierdiensten oder Doit-Yourself-Baumärkte und dergleichen. Ich muß an Hunderten solcher alten Fabriken vorbeigefahren sein, aber erst, als wir schon mitten in den Vororten Manchesters waren, sah ich eine, die noch damit beschäftigt war, etwas herzustellen.
Da ich spät zu Hause abgefahren war, war es schon vier Uhr und wurde langsam dunkel, als ich aus Piccadilly Station heraustrat. Die Straßen glänzten im Regen, es herrschte lebhafter Verkehr, und die Menschenmassen hasteten vorbei, was Manchester eine attraktive Großstadtatmosphäre verlieh. Aus einem total hirnrissigen Grund hatte ich ein Zimmer in einem teuren Hotel, dem Piccadilly, gebucht. Es war im elften Stock, doch wenn man hinausschaute, meinte man, im fünfundachzigsten zu stehen. Hätte meine Frau eine Leuchtrakete und Lust gehabt, aufs Dach zu steigen, hätte ich sie sogar gesehen. Manchester kam mir riesengroß vor – eine unendliche Stadtlandschaft mit trüben gelben Lampen und sich langsam durch die Straßen wälzendem Verkehr.
Ich spielte am Fernseher herum, konfiszierte das Briefpapier und das zweite Stückchen Seife und steckte ein Paar Hosen in die Hosenpresse, obwohl ich wußte, daß meine Beinkleider an den komischsten Stellen plissiert herauskommen würden. (Liegt es an mir, oder sind diese Apparaturen total widersinnig?) Bei dem Preis war ich wild entschlossen, meinen Aufenthalt weidlich auszu-nutzen. Als ich alles erledigt hatte, spazierte ich los und suchte mir was zum Essen.
Bei Speiselokalen und mir verläuft etwas umgekehrt proportional – je mehr es gibt, desto weniger finde ich eines, das auch nur im geringsten meinen moderaten Bedürfnissen entspricht. Im Grunde suchte ich ein kleines italienisches Ecklokal – mit karierten Tischdecken und Kerzen auf Chiantiflaschen und netter Fünfziger-Jahre-Atmosphäre. Die gab’s in britischen Großstädten immer zuhauf, aber jetzt sind sie nur noch verteufelt schwer zu finden. Ich lief und lief und fand nur entweder diese landesweiten Ketten-Läden mit großen Plastikspeisekarten und gräßlichem Essen oder Hotelspeisesäle, in denen man für drei bombastisch beschriebene und enttäuschend verkochte Gänge 17,95 Pfund hinblättert.
Schließlich landete ich in Chinatown, das sich der Welt mit einem großen farbenprächtigen Torbogen ankündigt und dann sofort ganz kleinlaut wird. Zwischen großen Bürogebäuden gab es ein paar Restaurants, aber ich kann nicht behaupten, daß ich meinte, in eine kleine Ecke des Orients geraten zu sein. Die größeren, besseren Restaurants waren proppenvoll, so daß ich schließlich in eines im zweiten Stock ging, wo die Einrichtung schäbig, das Essen bestenfalls genießbar und die Bedienung total gleichgültig war. Auf der Rechnung bemerkte ich einen Extraposten neben einer Rubrik, die als »S. C.« ausgewiesen wurde.
»Was ist denn das?« fragte ich die Kellnerin, die, möchte ich doch gern bemerken, die ganze Zeit ungewöhnlich mürrisch gewesen war.
»Suhvice chawge – Bedienung.«
Ich schaute sie überrascht an. »Warum gibt es dann, bitte sehr, auch eine Rubrik für Trinkgeld?«
Sie zuckte gelangweilt mit den Schultern: Nicht mein Problem.
»Das ist ja furchtbar«, sagte ich. »So verführen Sie die Leute ja dazu, zweimal Trinkgeld zu geben.«
Sie seufzte schwer, als habe sie das schon hundertmal gehört.
»Sie haben eine Beschwerde? Sie wollen Chef sprechen?«
Das Angebot klang, als müßte ich mich, wenn ich denn davon Gebrauch machte, mit dem Chef und ein paar seiner Jungs in einer dunklen Gasse auseinandersetzen. Ich beschloß, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen, und machte lieber einen langen Spaziergang durch Manchesters feuchte, schlecht beleuchtete Straßen. Ich kann mich nicht erinnern, je durch eine dunklere Stadt gelaufen zu sein. Und wo ich mich genau herumgetrieben habe, weiß ich auch nicht mehr, denn ich finde die Straßen in Manchester immer seltsam ununterscheidbar. Ich hatte das Gefühl, als liefe ich immer durch dieselbe.
Zum Schluß kam ich zu einem großen dunklen Koloß, dem Arndale Centre. Was für ein Monstrum! Wahrscheinlich ist es ja ganz nett, wenn man in einer Stadt, in der es soviel regnet wie in Manchester, alles unter einem Dach einkaufen kann, und wenn überhaupt, sind diese Dinger in der Stadt natürlich viel sinnvoller als außerhalb. Aber nachts war das Arndale Centre nur zehn Hektar Totenstille und ein massives Hindernis auf dem Weg zur Stadtmitte. Durch die Fenster sah ich, daß es seit meinem letzten Besuch aufgemotzt, ja richtig hübsch geworden war, aber die Außenfassade war immer noch so schrecklich gekachelt, daß es aussieht wie die größte Herrentoilette der Welt. Als ich durch die Cannon Street ging, sah ich auch, wie drei junge Männer mit kurzgeschorenen Schädeln und reich tätowierten Armen es just zu diesem Behufe nutzten. Sie achteten kaum auf mich, doch ich merkte plötzlich, daß es spät wurde und sich anständige Burschen wie ich auf den Straßen nicht gerade mehr tummelten. Ich beschloß, zurück ins Hotel zu gehen, bevor ich auch noch angepinkelt wurde.
Ich erwachte früh und begab mich mit dem festen Entschluß auf die regennassen Straßen, mir ein konkretes Bild von der Stadt zu verschaffen. Mit Manchester tue ich mich nämlich diesbezüglich schwer. Jede andere britische Großstadt hat eine städtebauliche Dominante, die sich mir eingeprägt hat: Newcastle die Brücke, Liverpool das Liver Building und die Docks, Edinburgh die Burg, Glasgow den riesigen Kelvingrove Park und die Häuser von Charles Rennie Mackintosh, sogar Birmingham hat den Bull Ring. (Und es soll ihn auch ruhig behalten!) Aber Manchester ist für mich der ewige weiße Fleck – ein Flughafen mit einer Stadt dran. Sagen Sie Manchester zu mir, und mir kommen nur verschwommene, unscharfe Vorstellungen in den Sinn. Ena Sharpies, L. S. Lowry, Manchester United, ein Plan, Straßenbahnen einzuführen, weil es sie in Zürich oder irgend so einer Stadt gibt und sie dort sehr gut zu funktionieren scheinen, das Hallé Orchestra, der alte Manchester Guardian und die eher rührenden Bemühungen, ungefähr alle vier Jahre den Zuschlag für die nächsten olympischen Sommerspiele zu ergattern, normalerweise mit ehrgeizigen Vorhaben gespickt, eine 400-Millionen-Pfund-Radrennbahn oder eine 250-Millionen-Pfund-Tischtennisanlage oder sonst ein Gebäude zu errichten, das lebenswichtig für die Zukunft einer untergehenden Industriemetropole ist.
Außer Ena Sharpies und L. S. Lowry könnte ich keinen einzigen berühmten Menschen aus Manchester nennen. Die Fülle an Statuen vor dem Rathaus weist eigentlich darauf hin, daß auch Manchester seinen Teil an großen Geistern hervorgebracht hat, aber die vielen Gehröcke und Backenbärte weisen ebenso darauf hin, daß es entweder aufgehört hat, Größen, oder aufgehört hat, Statuen zu produzieren. Ich schaute sie mir jetzt alle gründlich an und konnte mit keinem einzigen Namen etwas anfangen.
Daß ich kein sehr klares Bild von der Stadt habe, liegt nicht nur an mir. »Die Stadt von morgen – gestalten wir sie heute«, lautet zwar ihr offizielles Motto, aber sie kann sich eindeutig nicht entscheiden, wo ihr Platz in der Welt ist. In Castlefield ist man allerdings eifrig dabei, heute die Stadt von gestern zu erschaffen. Die Backsteinviadukte und Lagerhäuser sind gründlich geputzt und die alten Kais neu gepflastert worden. Den bogenförmigen Fußgänger-brücken hat man einen glänzenden neuen Anstrich verpaßt und allenthalben großzügig antikisierende Bänke, Poller und Laternenpfähle verstreut. Wenn alles fertig ist, kann man genau sehen, wie das Leben in Manchester im neunzehnten Jahrhundert war – das heißt, gewesen wäre, wenn es Weinstuben, schmiedeeiserne Abfallkörbe und Wegweiser für Museumspfade gegeben hätte. An den Kais von Salford wiederum ist man genau andersherum verfahren und hat alles getan, um die Vergangenheit auszulöschen: an der Stätte des einstmals blühenden Hafens am Manchester Ship Canal wurde einfach eine Art Mini-Dallas kreiert. Sehr abartig – mitten in einem weiten urbanen Niemandsland ein Haufen glasiger moderner Bürogebäude und Luxusapartments, die offenbar alle leer standen.
Das einzige, was man in Manchester nur mit Mühe findet, ist dasjenige, mit dem man doch eigentlich rechnet – reihenweise enge, kleine Coronation Streets. Angeblich gab es die in Hülle und Fülle, doch jetzt kann man meilenweit laufen, ohne eine einzige Backsteinhäuserreihe zu erblicken. Doch das macht nichts, man kann sich ja einfach die echte Coronation Street in den Filmstudios von Granada anschauen. Und das tat ich dann auch – in Gesellschaft aller Einwohner Nordenglands. An der Straße zu den Studios entlang gibt es weiträumige ungeteerte Auto- und Busparkplätze, und sogar um Viertel vor zehn morgends füllten sie sich schon. Busse von weit und fern – aus Workington, Darlington, Middlesborough, Doncaster, Wakefield, jeder nur denkbaren Stadt im Norden – spuckten Scharen rüstiger, weißhaariger Menschen aus, während aus den Autoparkplätzen ganze Sippen strömten, und alle waren fröhlich und guter Dinge.
Ich stellte mich in einer gut 130 Meter langen Schlange an, in der die Leute zu dritt oder zu viert nebeneinanderstanden, und fragte mich schon, ob das nicht ein Fehler war, doch als sich die Drehkreuze in Bewegung setzten, ging alles wie am Schnürchen, und innerhalb weniger Minuten war ich drin. Zu meiner großen und nachhaltigen Überraschung war es richtig toll. Ich hatte nur einen Spaziergang über den Coronation-Street-Set und eine rasche Führung durch die Studios erwartet, aber das Ganze war eine Art Vergnügungspark, und zwar ein richtig guter. Sie hatten so ein Motionmaster-Kino, wo die Sitze kippen und ruckeln und man meint, man würde durch den Weltraum geschleudert oder vom Rand eines Berges geschubst. In einem zweiten Kino setzte man eine Plastikbrille auf und schaute sich eine liebenswürdig schundige 3-D-Komödie an. Es gab eine unterhaltsame Demonstration von Soundeffekten, eine hinreißend makabre Schau mit Spezialeffekt-Make-up und eine lebhafte, höchst amüsante Debatte in einer Unterhaus-Kulisse, von einem Trupp jugendlicher Schauspieler in Szene gesetzt. Das alles war nicht nur perfekt gemacht, sondern auch sehr geistreich und originell.
Selbst nach zwanzig Jahren England bin ich immer wieder erstaunt und beeindruckt von der Qualität des Humors, dem man an den unwahrscheinlichsten Orten begegnet – dort, wo er in anderen Ländern einfach nicht vorkommen würde. Man findet ihn in den Sprüchen der Standbesitzer in der Petticoat Lane und in den Darbietungen von Straßenkünstlern – also Leuten, die mit brennenden Keulen jonglieren oder Kunststücke auf Einrädern vollführen und dabei die ganze Zeit Witze über sich und ausgewählte Leute aus dem Publikum reißen –, bei Weihnachtsspielen, in Kneipengesprächen und Begegnungen mit Fremden an einsamen Orten.
Ich kam zum Beispiel einmal in Waterloo Station an, wo ein einziges Chaos herrschte, weil auf der Straße nach Clapham Junction ein Brand ausgebrochen und der Bahnverkehr unterbrochen war. Ungefähr eine Stunde lang blieben Hunderte von Menschen mit unglaublicher Geduld und eiserner Ruhe stehen und betrachteten eine leere Anzeigetafel. Hin und wieder ging das Gerücht durch die Menge, daß gleich ein Zug vom Bahnsteig 7 abfahren würde, und dann tigerten alle los, nur um an der Schranke ein neues Gerücht zu hören, daß nämlich der Zug in Wirklichkeit von Bahnsteig 16 oder eventuell auch 2 abfahren würde. Nachdem ich schließlich die meisten Bahnsteige des Bahnhofs besucht und in etlichen Zügen gesessen hatte, die nirgendwohin fuhren, fand ich mich im Gepäckwagen eines Schnellzugs wieder, der angeblich in Kürze nach Richmond fuhr. In dem Wagen befand sich ein weiterer Fahrgast: Ein Mann im Anzug saß auf einem Haufen Postsäcke. Er hatte einen dichten roten Bart – man hätte eine Matratze damit ausstopfen können – und den lebensmüden Blick dessen, der jeglicher Hoffnung entsagt hat, je wieder nach Hause zu kommen.
»Sind Sie schon lange hier?« fragte ich.
Nachdenklich stieß er die Luft aus. »Sagen wir mal so: Als ich hier reinkam, war ich sauber rasiert.« Ich liebe es.
Witz und besonders der trockene, ironische, sich gegenseitig verarschende Witz ist ein so fundamentaler Bestandteil des täglichen Lebens in Großbritannien, daß man es kaum noch merkt. Erst am Vortag hatte ich in Skipton um eine einfache Fahrkarte nach Manchester mit Quittung gebeten. Der Mann am Schalter händigte sie mir mit den Worten aus: »Die Fahrkarte ist gratis … aber die Quittung kostet 18,50 Pfund.« Hätte er das in Amerika gesagt, hätte der Kunde sich empört: »Was? Was sagen Sie da? Die Fahrkarte ist gratis, aber die Quittung kostet 18,50 Pfund? Was ist denn das für eine hirnverbrannte Regelung?« Wenn es in Disneyland eine Unterhausdebatte gegeben hätte, wäre sie bierernst, läppisch, furchterregend konkurrenzmäßig und in drei Minuten vorüber gewesen. Die Schauspieler auf beiden Seiten des Parlaments wären lediglich zutiefst, wenn auch kurz, darum besorgt gewesen, die besten zu sein. Hier lief es so überkandidelt, daß auch nicht die entfernteste Möglichkeit bestand, daß überhaupt jemand gewann. Es sollte nur allen Spaß bringen, und es war auch so lustig und klug gemacht, daß ich es kaum aushalten konnte. Und mir wurde ganz flau, weil ich wußte, daß ich es sehr vermissen würde.
Überhaupt nicht komisch ging es freilich in der Coronation Street zu. Das kommt daher, daß es für Millionen von uns eine quasi religiöse Erfahrung ist. Ich mag Coronation Street deshalb so sehr, weil es eine der ersten Serien war, die ich im britischen Fernsehen gesehen habe. Natürlich hatte ich keinen Schimmer, was ablief. Ich kapierte nicht die Hälfte dessen, was die Figuren sagten, oder warum sie alle Chuck hießen. Aber komisch, ich war sofort gefesselt. Wo ich herkam, handelten Soap-Operas immer von reichen, skrupellosen, enorm erfolgreichen Menschen mit 1500-Dollar-Anzügen und Büros hoch oben in häßlichen Wolkenkratzern, und die Hauptfiguren wurden immer von Schauspielerinnen und Schauspielern gespielt, die, vor die Wahl gestellt, schauspielern zu können oder wirklich tolles Haar zu haben, sich immer für das Haar entschieden hätten. Und in dieser erstaunlichen Serie wohnten ganz normale Leute in einer ganz normalen Straße im Norden Englands, sprachen eine Sprache, die ich kaum verstand, und taten eigentlich nie viel. Noch vor der ersten Werbepause war ich der Sendung rettungslos verfallen.
Dann wurde ich, brutal, wie das Leben so spielt, zu abendlichem Arbeiten in der Fleet Street gezwungen und abtrünnig. Mit dem Ergebnis, daß ich heutzutage nicht mal mehr ins Zimmer darf, wenn Coronation Street läuft, denn ich frage die ganze Zeit:
»Wo ist Ernie Bishop? Wer ist denn das? Stan Ogden ist tot?«
Nach einer Minute werde ich hinausgescheucht. Aber nun entdeckte ich in den Studios, daß es, selbst wenn man Coronation Street jahrelang nicht gesehen hat, trotzdem herrlich ist, auf dem Set herumzulaufen, weil es selbige Straße ist. Es ist auch der echte Set. (Wenn sie montags dort filmen, schließen sie den Park.) Man meint, man sei in einer richtigen Straße. Die Häuser sind echt, aus echten Backsteinen. Enttäuscht war ich nur, als ich wie alle anderen durch die Ritzen in den Gardinen linste und sah, daß es leere Gemäuer und innen drin nur Stromkabel und Sägeböcke waren. Außerdem war ich verwirrt, als ich einen Friseursalon und zwei moderne Häuser sichtete, und regelrecht bekümmert, daß der Kiosk viel schicker und ordentlicher war als früher. Doch ich fühlte mich trotzdem auf vertrautem, heiligem Boden. Scharen von Leuten gingen ehrfürchtig schweigend die Straße auf und ab, identifizierten Haustüren und lugten durch Spitzenvorhänge. Ich hielt mich an eine freundliche, kleine Dame mit silberblaugetöntem Haar unter einem durchsichtigen Regenhut, den sie offenbar aus Frischhaltefolie fabriziert hatte, und sie informierte mich nicht nur darüber, wer nun in welchem Haus wohnte, sondern auch, wer damals vor langer Zeit in welchem Haus gewohnt hatte, so daß ich recht bald auf dem aktuellen Stand war. Und genauso bald war ich von einer ganzen Schar kleiner, silberblaugetönter Damen umgeben, die meine entsetzten Fragen (»Wie? Deirdre hat einen jungen Liebhaber? Nein, so was!«) beantworteten und gegebenenfalls ernsthaft nickten. Es ist eine zutiefst erregende Erfahrung, diese berühmte Straße auf und ab zu gehen – Sie grinsen vielleicht, aber Sie wissen ganz genau, daß Sie das gleiche empfinden würden –, und es war doch ein regelrechter Schock, an den beiden Enden um die Ecke zu gehen und sich wieder in einem Vergnügungspark zu befinden.
Ich wollte nicht länger als eine Stunde dortbleiben, war aber noch nicht annähernd soweit, mich der Führung durch die Studios anzuschließen oder im Coronation Street-Geschenkeladen umzutun, als ich auf die Uhr schaute und, vor Schreck schnaubend, sah, daß es fast ein Uhr war. In leichter Panik eilte ich zurück zu meinem weit entfernten Hotel, weil ich Angst hatte, daß ich für einen weiteren Tag bezahlen müßte oder zumindest meine Hosen in der Hosenpresse verbrutzelt wären.
Eine Dreiviertelstunde später stand ich dann am Rand des Piccadilly Gardens mit einem schweren Rucksack und völlig unentschlossen, wo ich als nächstes hinfahren sollte.
In die Midlands, hatte ich vage vorgehabt, denn auf meinen früheren Streifzügen hatte ich mit dieser edlen, wenn auch herausfordernden Region immer kurzen Prozeß gemacht. Aber als ich so dastand, hielt neben mir ein verblaßter roter Doppeldeckerbus mit dem Fahrtziel WIGAN, und da war mein Schicksal entschieden. Zufallig guckte auch Der Weg nach Wigan Pier hinten aus meiner Hosentasche, und ohne Bedenken – klugerweise – nahm ich das als Zeichen.
Ich kaufte eine einfache Fahrkarte und setzte mich hinten aufs Oberdeck. Wigan kann nicht mehr als 15 oder 16 Meilen von Manchester entfernt sein, doch es dauerte fast den ganzen Nachmittag, bis wir dort waren. Wir ruckelten und schwankten durch endlose Straßen, die immer gleich aussahen. Sie waren von Reihenhäusern gesäumt, von denen jedes vierte ein Friseursalon war, und reich bestückt mit Autowerkstätten und Backsteineinkaufsvierteln mit der ewig gleichen Ansammlung von Supermärkten, Banken, Videotheken, Imbißbuden und Wettbüros. Wir fuhren durch Eccles und Worsely, dann durch ein überraschend schickes Stück und weiter nach Boothstown und Tyldesley und Atherton und Hindley und in andere Orte, von denen ich noch nie gehört hatte. Der Bus hielt so oft an, daß es einem manchmal vorkam wie alle sechs Meter, und an fast jeder Haltestelle stiegen viele Leute aus und ein. Die meisten sahen arm und abgearbeitet und zwanzig Jahre älter aus, als sie wahrscheinlich waren. Außer ein paar alten Männern mit Schlägermützen und gelbbraunen, bis zum Kragen zugezogenen Marks-&-Spencer-Jacken waren die Fahrgäste alle Frauen im mittleren Alter mit den abenteuerlichsten Frisuren und dem heiseren, lockeren Lachen von Kettenraucherinnen. Aber sie waren durch die Bank freundlich und munter und offenbar mit ihrem Schicksal durchaus zufrieden. Sie nannten sich »Darlin’« und »Love«.
Am bemerkenswertesten – das heißt, je nachdem, wie man es betrachtet, vielleicht auch am wenigsten bemerkenswert – war, wie ordentlich und gepflegt die endlosen kleinen Reihenhäuser waren, an denen wir vorbeifuhren. Sie alle verrieten, daß es bescheiden und genügsam zuging, aber jedes Fenster blitzte, jede Treppe war strahlend sauber und jedes Gesims glänzte frisch gestrichen. Ich nahm Der Weg nach Wigan Pier heraus und tauchte ein wenig in eine andere Welt ein, die zwar genau in dieser Gegend angesiedelt war, aber so gar nicht zu dem paßte, was ich sah, wenn ich von den Seiten aufblickte.
Orwell – und vergessen wir nicht, daß er von ziemlich privilegierter Herkunft und Etonschüler war – betrachtete die arbeitenden Klassen wie wir heute vielleicht die Bewohner der Inselgruppe Yap als seltsames, aber interessantes anthropologisches Phänomen. In Wigan Pier erzählt er, was für eine Schrecksekunde er in seiner Jugend erlebte, als er sich in Gesellschaft einer Gruppe Arbeiter befand und Angst hatte, er müsse gleich aus der Flasche trinken, die sie herumgehen ließen. Seitdem ich das gelesen habe, hege ich hinsichtlich des alten George, offen gestanden, gewisse Zweifel. Bei ihm erscheint die Arbeiterklasse aus den Dreißigern wahrhaftig ekelerregend verdreckt, aber alles, was ich je gehört und gesehen habe, beweist, daß die meisten eher einen Sauberkeitsfimmel hatten. Mein Schwiegervater zum Beispiel wuchs in einer bettelarmen Umgebung auf und erzählte immer die grauslichsten Geschichten von Not und Entbehrung – Sie wissen schon, so in dem Stil: Vater bei Arbeitsunfall in der Fabrik draufgegangen, siebenunddreißig Geschwister, zum Abendessen nur Flechtenbrühe und ein Stück Dachschiefer außer sonntags, da gaben sie schon mal ein Kind in Zahlung und kauften für einen Penny Rüben. Sein Schwiegervater – aus Yorkshire – erzählte noch grauslichere Geschichten. Wie er 47 Meilen in die Schule gehopst war, weil er nur einen Schuh hatte und sich von einer Diät aus trockenen Brötchen und Rotzestullen ernährte. »Aber«, fügten sie unweigerlich stets hinzu, »wir waren immer sauber und das Haus pikobello.« Und man muß sagen, sie waren die peinlichst saubergeschrubbten Menschen, die man sich vorstellen kann, desgleichen ihre unzähligen Brüder und Schwestern und Freunde und Verwandten.
Zufallig habe ich mich auch vor nicht allzulanger Zeit mit Willis Hall, dem Autor und Stückeschreiber (und obendrein überaus netten Menschen), unterhalten, und irgendwie kamen wir auf dieses Thema zu sprechen. Hall ist – arm – in Leeds aufgewachsen, und er bestätigte prompt, daß die Häuser zwar karg eingerichtet und die Lebensbedingungen hart waren, es aber auch nirgendwo nur das kleinste Staubkörnchen gegeben hatte.
»Als meine Mutter nach dem Krieg eine neue Wohnung bekam«, erzählte er mir, »schrubbte sie das alte Haus am letzten Tag von oben bis unten, bis es glänzte, obwohl sie wußte, daß es am nächsten Tag abgerissen wurde. Sie konnte den Gedanken, es schmutzig zu hinterlassen, einfach nicht ertragen – und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, niemand in dem Viertel fand das eigenartig.«
Obwohl Orwell ja dauernd seine Sympathien für die Massen bekundet, würde man sie nach Lektüre seiner Texte höherer intellektueller Leistungen nicht für fähig halten, und dennoch brachte schon ein einziges Viertel in Leeds so bedeutende Persönlichkeiten wie Keith Waterhouse und Peter O’Toole hervor, und ich weiß von einem ähnlich bettelarmen Bezirk in Salford, aus dem der Maler Harold Riley kam, und dergleichen hat sich sicher unzählige Male im ganzen Land wiederholt.
Orwell malte ein Bild solch entsetzlichen Elends, daß ich selbst jetzt, als wir über einen langen Hügel nach Wigan fuhren, noch überrascht war, wie adrett und gut erhalten es zu sein schien. Ich stieg aus, freute mich, wieder an der frischen Luft zu sein, und begab mich auf die Suche nach dem berühmten Pier. Wigan Pier ist ein interessantes Wahrzeichen, doch – ein weiterer Grund, hinsichtlich der reporterischen Fähigkeiten des alten George Vorsicht walten zu lassen – nachdem Orwell ein paar Tage in der Stadt verbracht hatte, kam er zu dem Schluß, der Pier sei abgerissen worden (Paul Theroux in Kingdom by the Sea übrigens auch). Ich lasse mich gern eines Besseren belehren, aber finden Sie es nicht auch ein wenig komisch, ein Buch mit dem Titel Der Weg nach Wigan Pier zu schreiben, ein paar Tage in der Stadt zu verbringen und nicht einmal auf die Idee zu kommen, zu fragen, ob der Pier noch steht?
Wie dem auch sei, heute können Sie ihn nicht verpassen, denn an allen Ecken und Enden weisen Wegweiser auf ihn hin. Der Pier – in Wirklichkeit bloß ein alter Kohleschuppen am Leeds-Liverpool-Canal – ist (selbstverständlich) zu einer Touristenattraktion restauriert worden und enthält ein Museum, einen Geschenkeladen, eine Imbißstube und ein Pub, das, offenbar, ohne daß es ironisch gemeint ist, The Orwell heißt. Ich hatte Pech, es war freitags geschlossen, und ich mußte mich damit begnügen, darum herumzuwandern und durch die Fenster des Museums die Ausstellungsstücke zu belugen, die doch recht interessant aussahen. Auf der anderen Straßenseite befand sich etwas beinahe so Atemberaubendes wie der Pier – eine echte Fabrik, die etwas produzierte. Quer über einem der oberen Stockwerke des großen roten Backsteingebäudes prangte der Name Trencherfield Mill.
Sie ist heutzutage eine solche Rarität, daß scharenweise Touristen hierherkommen. Vorn waren Schilder, auf denen der Weg zu Führungen, zum Fabrikladen und zur Snackbar angegeben war. Ich fand die Vorstellung ein bißchen abartig, Schlange zu stehen und Leuten dabei zuzuschauen, wie sie Federbetten machen oder was auch immer sie dort drinnen herstellen. Aber sei’s drum, auch die Fabrik war der Öffentlichkeit freitags nicht zugänglich. Die Snackbartür hatte ein Vorhängeschloß.
Also ging ich ins Stadtzentrum, ein ziemlicher Marsch, aber er lohnte sich. Wigan hat einen so nachhaltig schlechten Ruf, daß ich wiederum verblüfft war, wie hübsch und gutgepflegt es mittendrin ist. In den Läden herrschte reger Geschäftsbetrieb, und viele Bänke luden die vielen Leute zum Sitzen ein, die leider keine aktive Rolle in dem wirtschaftlichen Treiben um sie herum spielen konnten. Ein begabter Architekt hatte es erfolgreich geschafft, auf einfache, aber trügerisch clevere Weise eine neue Einkaufspassage in die existierende Struktur der Gebäude zu integrieren, indem er die Glasüberdachung des Eingangs passend zur Giebellinie der Häuser darum herum gestaltet hatte. Das Resultat war hell und modern, aber zugleich angenehm harmonisch – eben das, worüber ich mich ja schon hinlänglich ausgelassen habe –, und ich war entzückt, auf so etwas ausgerechnet in dem armen geplagten Wigan zu stoßen.
Um es zu feiern, ging ich in die Passage, um in einem Café einen Tee zu trinken und ein klebriges Brötchen zu verzehren. Die Corinthia Coffee Lounge brüstete sich außer mit vielen anderen Attraktionen mit dem Besitz eines »georgianischen Kartoffelofens«. Ich fragte die junge Frau an der Theke, was das sei, und sie schaute mich an, als sei ich ein recht merkwürdiger Zeitgenosse.
»Zum Kartoffelkochen und so ähnlich«, antwortete sie.
Aber ja doch, natürlich! Ich trug meinen Tee und das klebrige Brötchen zu einem Tisch, wo ich ein Weilchen lang »Ooh, lecker«, murmelte, ein paar nette Ladies am Nachbartisch blöde anlächelte und mich dann, seltsam zufrieden mit meinem Tag, auf die Suche nach dem Bahnhof begab.