Zweites Kapitel

 

Meine Güte, was ist London groß! Es kommt einem immer vor, als begänne es ungefähr zwanzig Minuten, nachdem man Dover verlassen hat, und dann zieht es sich Meile um Meile hin, endlose graue Vororte mit ihren Reihen- und Doppelhäusern, die vom Zug aus stets mehr oder weniger identisch aussehen, als seien sie aus einer dieser Maschinen gequetscht worden, mit denen man früher Würstchen fabrizierte. Wie, frage ich mich immer, finden die Bewohner jeden Abend in einer solch komplizierten und anonymen Stadtlandschaft den Weg zurück in die richtigen Kästen?

Also, ich würde es nie schaffen. Mir bleibt London ein riesiges, aufregendes Rätsel. Acht Jahre lang habe ich in oder bei London gelebt und gearbeitet, die Lokalnachrichten im Fernsehen angeschaut, die Abendzeitung gelesen, ausgiebig die Straßen durchstreift, um Hochzeiten oder Abschiedsparties zu besuchen oder auf hirnrissiger Suche nach Schnäppchen bei irgendwelchen Schrotthändlern jwd – und stelle immer noch fest, daß es ganze Teile gibt, die ich nicht nur noch nie besucht, sondern von denen ich nicht einmal gehört habe. Wenn ich den Evening Standard lese oder mit einem Bekannten plaudere, bin ich immer wieder perplex, wenn ein Bezirk erwähnt wird, der sich wahrhaftig seit einundzwanzig Jahren meiner Kenntnis entzieht. »Wir haben gerade ein kleines Haus in Fag End in der Nähe der Tungsten Heath gekauft«, sagt zum Beispiel jemand. Aber ich habe noch nie davon gehört. Wie ist das bloß möglich?

Ich hatte in meinem Rucksack einen A-Z-Stadtplan verstaut, den ich nun bei der erfolglosen Wühlerei nach

einem halben Mars-Riegel entdeckte, den ich noch darin wähnte. Als ich den Plan herauszog und die dichtbedruckten Seiten durchblätterte, hätte ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt, daß einige Viertel beim letzten Mal, als ich hineingeschaut hatte, noch nicht darin gewesen waren – Dudden Hill, Plashet, Snaresbrook, Fulwell Cross, Elthorne Heights, Higham Hill, Lessness Heath, Beacontree Heath, Bell Green, Vale of Health. Und ich weiß genau, wenn ich das nächste Mal hineinschaue, stehen wieder neue, andere Namen darin. Mir bleibt dies ein ebenso tiefes Mysterium wie die verschollenen Tafeln von Titianca.

Für den A – Z hege ich die größte Bewunderung. Gewissenhaft verzeichnet und benennt er jeden Cricketplatz, jede Kläranlage, jeden vergessenen Friedhof und jede abgelegene kleine Vorstadtsackgasse und packt die längsten Namen auf engsten, verborgensten Raum. Ich blätterte das Straßenverzeichnis auf und vertiefte mich darin. Ich schätze, daß es alles in allem 45.687 Straßennamen in London gibt, darunter 21 Gloucester Roads (dazu ein großzügiger Batzen Gloucester Crescents, Squares, Avenues und Closes), 32 Mayfields, 35 Cavendishes, 66 Orchards, 74 Victorias, in Station Roads und Artverwandte, 159 Churches, 25 Avenue Roads, 35 The Avenues und zahllose andere Ableger. Richtig interessant klingen freilich wenige Namen. Ein paar erinnern an gesundheitliche Beschwerden (Glyceina und Burnfoot Avenue), ein paar an anatomische Begriffe (Thyrapia und Pendula Road), ein paar sind einen Hauch anrüchig (Cold Blow Lane) und ein paar wohltuend lächerlich (Cactus Walk).

Eine halbe Stunde vergnügte ich mich auf diese Weise und freute mich sehr, daß ich eine Metropole von solch überwältigender, unbegreiflicher Komplexität betrat, und als ich den Stadtplan wieder in die Tasche steckte, wurde mir die zusätzliche Freude zuteil, den halb aufgegessenen Mars-Riegel zu finden, dessen angebissener Rand mit einer dekorativen kleinen Fusselkruste bedeckt war, die zwar nicht den Geschmack verbesserte, aber etwas nützliche Masse beigab.

Victoria Station wimmelte von der üblichen Menge verirrter Touristen, herumlungernder Nepper und bewußtloser Betrunkener. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich auf diesem Bahnhof das letztemal jemanden erblickt habe, der aussah, als wolle er einen Zug nehmen. Als ich hinausging, fragten mich allein drei Leute, ob ich ein bißchen Kleingeld hätte – »Nein, aber danke der Nachfrage!« –, was vor zwanzig Jahren so nicht der Fall gewesen wäre. Damals besaßen Straßenbettler nicht nur den Reiz des Neuen, sondern sie hatten auch immer eine gute Story auf Lager, wie zum Beispiel, sie hätten ihre Brieftasche verloren und brauchten dringend zwei Pfund, um nach Maidstone zu fahren, weil sie Knochenmark für ihre kleine Schwester spenden müßten, oder so was in dem Stil. Nun aber fragen sie rundheraus nach Geld, was rascher geht, aber weniger interessant ist.

Ich nahm ein Taxi zum Hazlitt’s Hotel in der Frith Street. Ich mag das Hazlitt’s, weil es sich mit Absicht verbirgt – es hat nicht einmal ein Schild vorn dran – und einen dadurch in eine seltene Position der Stärke gegenüber Taxifahrern bringt. An dieser Stelle möchte ich aber gleich betonen, daß die Londoner Taxifahrer ohne Frage die besten der Welt sind. Sie sind zuverlässig, meistens freundlich, stets höflich. Sie fahren sicher, halten ihre Fahrzeuge innen und außen makellos sauber und scheuen absolut keine Mühe, einen am vorderen Eingang des Ziels abzusetzen. Nur zwei Dinge an ihnen sind komisch. Zum einen können sie nicht mehr als 60 Meter geradeaus fahren. Ich habe es nie begriffen, aber einerlei, wo man sich befindet oder wie die Verkehrslage ist, alle 60 Meter klingelt eine kleine Glocke in ihrem Kopf, und sie machen urplötzlich einen Ausfall in eine Seitenstraße. Und wenn man an seinem Hotel oder am Bahnhof oder wo immer man hinwill, ankommt, fahren sie einen stets gern mindestens einmal ganz darum herum, damit man es von allen Seiten sieht, bevor man aussteigt.

Das andere Charakteristikum an ihnen und der Grund, warum ich gern ins Hazlitt’s fahre, ist, daß sie es einfach nicht zugeben können, wenn sie nicht wissen, wo der Zielort ist, aber meinen, sie müßten es wissen. Wie zum Beispiel ein Hotel. Sie würden eher dem Ex-Tory-MP Alan Clark ihre halbflüggen Töchter (und Gattinnen noch dazu) für ein Wochenende anvertrauen, als auch nur die kleinste Unkenntnis auf ihrem ureigenen Gebiet offenbaren, was ich sehr liebenswürdig finde. Statt dessen sondieren sie. Sie fahren ein bißchen, werfen einem einen Blick im Rückspiegel zu und sagen beiläufig: »Hazlitt’s – das ist doch das Ding auf der Curzon Street, was? Gegenüber dem Blue Lion?« In dem Moment, in dem sie ein wissendes Lächeln des Widerspruchs auf den Lippen des Fahrgasts bemerken, fügen sie hastig hinzu:

»Nein, einen Moment, ich meine das Hazlebury. Ja, das Hazlebury. Aber Sie wollen zum Hazlitt’s, stimmt’s?« Und weiter geht’s in eine völlig willkürliche Richtung. »Auf dieser Seite von Shepherd’s Bush, was?« sagen sie dann aufs Geratewohl.

Wenn man ihnen aber enthüllt, daß es in der Frith Street ist, kontern sie: »Ach, alles klar. Natürlich kenne ich es – modernes Ding, viel Glas.«

»Äh, es ist ein Backsteinhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert.«

»Klaro. Kenn ich.« Und umgehend vollführen sie eine dramatische Kehrtwendung, wobei sie einen vorbeiflitzenden Radfahrer veranlassen, gegen einen Laternenpfahl zu steuern. (Aber das macht nichts, denn er hat Radklammern an der Hose und so einen dämlichen, schnittigen Helm auf dem Kopf, was doch gerade dazu einlädt, ihn umzunieten.) »Yeah, da denk ich die ganze Zeit, Sie hätten Hazlebury gesagt«, kichern sie, als wollten sie andeuten, was für ein Schwein man hat, daß sie die Sache voll im Griff haben. Und dann biegen sie in eine kleine Seitenstraße vom Strand, die Running Sore Lane oder Sphinctre Passage heißt, die man aber wie so vieles andere in London noch nie bemerkt hat.

Das Hazlitt’s ist ein hübsches Hotel und mir gefällt besonders, daß es dort nicht wie in anderen Hotels zugeht. Es existiert schon seit Jahren, und die Angestellten sind freundlich – immer wieder ein Novum in einer großen Stadt –, aber sie vermitteln einem auch immer wieder das Gefühl, daß sie sich ihrer Sache so ganz sicher nicht sind. Wenn man ihnen sagt, man habe reserviert und wolle jetzt sein Zimmer beziehen, wird ihre Miene ein wenig panisch, und sie fangen an, kopflos in Schubladen mit Anmeldekarten und Zimmerschlüsseln zu wühlen. Wirklich richtig niedlich. Und die reizenden Mädchen, die die Zimmer putzen – die, lassen Sie mich das erwähnen, immer blitzsauber und überaus bequem sind –, scheinen selten über das zu verfügen, was man als vollständige Beherrschung der englischen Sprache bezeichnen könnte. Wenn man sie um ein Stück Seife oder etwas anderes bittet, schauen sie einem aufmerksam auf die Lippen und kommen nach einer Weile eigentlich immer mit einem hoffnungsvollen Blick und einer Topfpflanze oder einem Nachtstuhl oder etwas zurück, das definitiv keine Seife ist. Ein wunderbares Hotel. Ich würde nie woanders hingehen.

Es heißt Hazlitt’s, weil es mal das Heim des gleichnamigen englischen Essayisten war, und alle Zimmer sind nach seinen Freunden oder den Frauen benannt, die er hier gebumst oder sonst was hat. Ich gebe zu, daß ich die Daten des alten Knaben nicht ganz parat habe:

 

Hazlitt (Schreibweise?), William (?), englischer (oder schott.?) Essayist. Lebte: vor 1900. Die berühmtesten Werke: kenne ich nicht. Bon mots, Epigramme, Aphorismen: keine Ahnung. Andere nützliche Informationen: Sein Haus ist nun ein Hotel.

 

Wie üblich beschloß ich, etwas über Mr. Hazlitt nachzulesen, um diese Wissenslücke zu schließen, und wie üblich vergaß ich es sofort. Statt dessen warf ich meinen Rucksack aufs Bett, entnahm ihm ein kleines Notizbuch und einen Stift und stürmte in jugendlichem Erkundungseifer nach draußen.

Ich finde London immer aufregend. So sehr ich es auch hasse, dem ollen Schnarchsack Samuel Johnson zuzustimmen – seiner aufgeblasen schwachsinnigen, aber berühmten Bemerkung, wer Londons müde sei, sei des Lebens müde, kann ich nicht widersprechen. Nach sieben Jahren Landleben in einem Dorf, wo eine tote Kuh eine Menschenmenge anzieht, ist London ein Hammer.

Ich verstehe nie, wieso die Londoner nicht begreifen, daß sie in der wunderbarsten Stadt der Welt leben. Wenn Sie mich fragen – London ist viel schöner und interessanter als Paris und lebendiger als alles außer New York. Und selbst New York kann der britischen Metropole in vielen wichtigen Dingen nicht das Wasser reichen. London hat mehr Geschichte, schönere Parks, eine lebendigere, vielfältigere Presse, bessere Theater, zahlreichere Orchester und Museen, grünere Plätze, sicherere Straßen und höflichere Einwohner als alle anderen großen Städte der Welt.

Und es hat mehr angenehme Kleinigkeiten – zufällige zivilisierte Gesten könnte man sie nennen – als jede andere Stadt, die ich kenne: fröhliche rote Briefkästen, Autofahrer, die an Zebrastreifen sogar anhalten, reizende, vergessene Kirchen mit noch reizenderen Namen wie St. Andrew by the Wardrobe und St. Giles Cripplegate, überraschend beschauliche kleine Ecken wie Lincoln’s Inn und den Red Lion Square, interessante Statuen ominöser Viktorianer in Togen, Pubs, schwarze Taxis, Doppeldeckerbusse, hilfsbereite Polizisten, Menschen, die einem beispringen, wenn man stürzt oder seine Einkaufstaschen fallen läßt, und überall Sitzbänke. Welche andere Stadt würde sich der Mühe unterziehen, blaue Plaketten an Häusern anzubringen, damit man erfährt, welche berühmte Persönlichkeit hier wohnte, oder würde einen ermahnen, einmal nach links und einmal nach rechts zu schauen, bevor man auf die Straße tritt. Ich sag’s Ihnen: keine.

Lassen Sie den Flughafen Heathrow, das Wetter und alle Gebäude außer acht, bei denen Richard Seifert seine knochigen Hände im Spiel hat, und es wäre fast perfekt. Ach, und da wir schon einmal dabei sind, könnten wir eigentlich auch das Personal des Britischen Museums bitten, den Vorhof nicht mehr mit seinen Autos zu verstopfen und ihn lieber in einen Garten zu verwandeln. Und die schrecklichen spanischen Reiter vor dem Buckingham Palast sollten auch weggeräumt werden, denn sie sehen so unordentlich und billig aus und beleidigen die Würde Ihrer armen, dort drinnen belagerten Majestät. Und natürlich muß das Naturgeschichtemuseum wieder so hergerichtet werden, wie es war, bevor sie daran herumgefummelt haben (vor allem müssen sie die Schaukästen wieder anbringen, in denen Schädlinge Haushaltsprodukte aus den Fünfzigern befallen), und überhaupt soll der Eintritt in allen Museen ab sofort wieder frei sein. Zum Schluß, aber absolut wichtig, muß man die Aufsichtsräte der britischen Telecom dazu zwingen, sich persönlich aufzumachen und jede (aber auch jede!) rote Telefonzelle aufzuspüren, die sie verscherbelt haben und die jetzt in den hintersten Ecken des Globus als Duschkabine oder Gartenschuppen dient. Dann erstrahlt London wieder in seiner alten Pracht!

Zum erstenmal seit Jahren war ich in der Stadt und hatte nichts Bestimmtes zu tun. Ich wurde richtiggehend ein bißchen nervös, weil ich Teil dieses großen, wuselnden urbanen Ganzen war und nicht gebraucht wurde. Ich stromerte durch Soho und über den Leicester Square, verbrachte ein wenig Zeit in den Buchläden auf der Charing Cross Road, wo ich ein paar Bücher so umräumte, daß meine eigenen besser zur Geltung kamen, ging ziellos durch Bloomsbury und zum Schluß hinüber zur Gray’s Inn Road, zum alten Times-Gebäude, in dem nun die Geschäftsräume einer mir völlig unbekannten Firma waren. Da empfand ich die stechende Wehmut, die nur die kennen, die sich an die Zeiten von heißem Blei und klackernden Setzmaschinen erinnern, sowie die klammheimliche Freude, ein hervorragendes Gehalt für eine Fünfundzwanzig-Stunden-Woche einzustreichen. Als ich 1981 bei der Times anfing, direkt nach der berühmten einjährigen Schließung, waren Personalüberhang und geringe Produktivität, gelinde gesagt, gewaltig. Im Ressort Unternehmensnachrichten, in dem ich als Redakteur wirkte, schlenderte das fünfköpfige Team gegen halb drei herein und verbrachte den restlichen Nachmittag mit Abendzeitunglesen, Teetrinken und Warten, daß die Reporter ihr anstrengendes Tagespensum schafften. Nach einem Dreistunden-Lunch mit etlichen Flaschen recht ordentlichem Châteauneuf du Pape mußten sie nämlich den Weg zurück zu ihren Schreibtischen finden, ihre Spesenabrechnung erstellen, sich über die Telefone hängen und im Flüsterton mit ihren Brokern den kleinen Tip besprechen, den sie bei der Crème brûlée aufgeschnappt hatten, und zu guter Letzt einen Artikel von einer Seite oder so produzieren, bevor sie sich völlig ausgedörrt in den Blue Lion auf der anderen Straßenseite zurückziehen konnten. Ab halb sechs widmeten wir uns etwa eine Stunde lang dem Redigieren, schlüpften dann in unsere Mäntel und gingen nach Hause. Es kam einem gar nicht wie Arbeit vor, sehr angenehm. Am Ende des ersten Monats zeigte mir ein Kollege, wie man imaginäre Ausgaben auf einem Spesenabrechnungsblatt festhielt und dieses in den dritten Stock trug, wo man es an einem kleinen Schalter gegen ungefähr 100 Pfund bar auf die Kralle eintauschen konnte – tatsächlich mehr Geld, als ich je in Händen gehabt hatte. Wir bekamen sechs Wochen Ferien, drei Wochen Vaterschaftsurlaub und alle vier Jahre einen Sabbatmonat. Was war die Fleet Street damals für eine wundervolle Welt, und wie freute ich mich, dazuzugehören.

Etwas so Gutes währt natürlich nicht ewig. Ein paar Monate später übernahm Rupert Murdoch die Times, und binnen weniger Tage wimmelte das Gebäude von geheimnisvollen, braungebrannten Australiern in kurz-ärmeligen weißen Hemden, die mit Klemmbrettern im Hintergrund lauerten und den Eindruck erweckten, sie nähmen bei den Leuten für Särge Maß. Es gibt eine Geschichte, und ich habe sogar den Verdacht, sie ist wahr: Einer dieser Herren schlich sich in ein Zimmer im vierten Stock, das voller Leute war, die seit Jahren keinen Finger gekrümmt hatten, und als diese ihre Anwesenheit nicht überzeugend begründen konnten, feuerte er sie mit einem Schlag bis auf einen glücklichen Burschen, der nur mal schnell im Wettbüro war. Der kehrte in ein leeres Zimmer zurück und verbrachte die nächsten beiden Jahre damit, allein dort zu sitzen und sich zu fragen, was aus seinen Kollegen geworden war.

Wir erlebten in unserer Abteilung die Effizienz-Offensive weniger traumatisch. Das Ressort, in dem ich arbeitete, wurde einem größeren Wirtschaftsressort einverleibt, was bedeutete, daß ich auch abends arbeiten mußte und nun einen Achtstundentag hatte. Unsere Spesen wurden gnadenlos gekappt. Am schlimmsten aber war, daß ich in regelmäßigen Kontakt mit Vince aus dem Tickerraum kam.

Vince war berüchtigt. Er hätte es mit Leichtigkeit zum grauenhaftesten Menschen der Welt gebracht, wenn er denn ein Mensch gewesen wäre. Was er war, weiß ich nicht, das heißt, ich weiß nur, daß er ein Meter fünfundsechzig drahtige, pure Böswilligkeit in einem schmuddeligen T-Shirt war. Verläßliche Gerüchte besagten, daß er dem Leib seiner Mutter entsprungen und dann gleich in die städtische Kloake gerutscht war. Zu Vince’ wenigen simplen und selten erfüllten Pflichten gehörte es, uns jeden Abend den Wall-Street-Report zu bringen. Doch jeden Abend mußte ich hingehen und ihn aus ihm herausleiern. Normalerweise fand man Vince in dem summenden Chaos des Tickerraums, das ihn aber nicht weiter kümmerte. Er fläzte sich in einem Ledersessel, den er aus den höheren Etagen hatte mitgehen lassen, seine Doc Martens mit den blutbefleckten Spitzen hatte er auf den Tisch vor sich gepflanzt – neben und manchmal sogar in einer großen offenen Schachtel mit Pizza.

Jeden Abend also klopfte ich zögernd an die offene Tür, fragte ihn höflich, ob er den Wall-Street-Report irgendwo gesehen habe, und wies ihn darauf hin, daß es nun schon Viertel nach elf sei und wir ihn eigentlich um halb elf haben sollten. Eventuell könne er ja mal unter den Stößen Papier, die unbeachtet aus seinen vielen Maschinen quollen, nachschauen.

»Weiv nich, ob Vie’v gemerkt haben«, sagte Vince dann, »aber ich evve Pivva.«

Die Kollegen befleißigten sich alle einer individuellen Herangehensweise an Vince. Manche versuchten es mit Drohungen. Andere mit Bestechung. Wieder andere mit herzlicher Freundschaft. Ich bettelte.

»Bitte, Vince, könnten Sie ihn mir nicht mal eben suchen, bitte. Es dauert keine Sekunde, und Sie würden mir das Leben kolossal erleichtern.«

»Leck mich!«

»Bitte, Vince. Ich habe Frau und Kinder, und man droht mir mit Rausschmiß, weil der Wall-Street-Report immer zu spät kommt.«

»Leck mich!«

»Na gut, was halten Sie dann davon, wenn Sie mir nur sagen, wo er ist, und ich hole ihn mir selbst.«

»Vie dürfen hier niftf anfavven, wie Vie vehr wohl wivven.«

Der Tickerraum war der Machtbereich einer Gewerkschaft, die den kryptischen Namen NATSOPA trug. NATSOPA behielt die niederen Ränge der Zeitungsindustrie unter anderem dadurch fest in ihrem schraubzwingenartigen Griff, daß sie technische Geheimnisse für sich behielt, zum Beispiel, wie man von einem Fernschreibgerät ein Papier abreißt. Vince war sogar auf einem Sechs-Wochen-Kurs in Eastbourne gewesen. Da hatte er sich völlig verausgabt. Aber wir Journalisten durften trotzdem nicht über seine Schwelle.

Wenn mein Bitten und Flehen schließlich zu einer Art hilflosem Blöken verkommen war, seufzte Vince schwer, knallte sich ein Riesenstück Pizza in den Rachen und kam zur Tür. Eine volle halbe Minute steckte er sein Gesicht in meines. Das war immer der enervierendste Teil. Sein Atem roch viehisch, und seine Rattenäuglein glitzerten. »Verdammte Scheive, Vie gehen mir gewaltig auf die Nüvve«, knurrte er leise, besudelte mir das Gesicht mit feuchten Pizzabröckchen und holte dann entweder den Wall-Street-Report oder kehrte in finsterer Stimmung zu seinem Schreibtisch zurück. Das wußte man vorher nie.

An einem besonders schwierigen Abend meldete ich Vinces Insubordination einmal David Hopkinson, dem Spätredakteur, der selbst eine beeindruckende Figur abgab, wenn er es darauf anlegte. Knurrend erhob er sich, um die Sache klarzumachen, und betrat das feindliche Territorium – überschritt wahrhaftig die Demarka-tionslinie. Aber als er ein paar Minuten später wiederkam, war er ein wenig errötet und ein anderer Mann. Er wischte sich Pizzastückchen vom Kinn und setzte mich mit leiser Stimme davon in Kenntnis, daß Vince den Wall-Street-Report in Bälde bringen würde, es im Moment aber angebracht sei, ihn nicht weiter zu belästigen. Schließlich kam ich auf den Trichter, daß es das einfachste war, die Börsennotierungen der ersten Ausgabe der Financial Times zu entnehmen.

 

Wenn man sagt, daß die Fleet Street Anfang der Achtziger ein bißchen außer Kontrolle war, zeigt das kaum das wahre Ausmaß der Dinge. Die National Graphical

Association, die Drucker- und Setzergewerkschaft, entschied, wie viele Leute bei jeder Zeitung gebraucht wurden (Hunderte und Aberhunderte) und wie vielen in einer Rezession gekündigt werden durfte (keinem). Entsprechend instruierte sie die Verlagsleitung. Diese durfte weder Drucker einstellen noch entlassen, ja, sie wußte im allgemeinen nicht einmal, wie viele Drucker sie beschäftigte. Ich habe eine Schlagzeile aus dem Dezember 1985 vor mir: »300 überzählige Drucker und Setzer beim Telegraph.«

Was heißt, der Telegraph bezahlte 300 Leuten ein Gehalt, die gar nicht dort arbeiteten. Die Setzer wurden nach einem so komplizierten Zuschlagsystem bezahlt, daß jede Setzerei in der Fleet Street ein spezielles Abrechnungsbuch dafür besaß, das so dick wie ein Telefonbuch war.

Zusätzlich zu den fetten Löhnen bekamen die Setzer nämlich besondere Zuschläge, die manchmal bis zur achten Stelle hinterm Komma bei Pennybeträgen ausgerechnet wurden. Und zwar für Arbeiten mit außergewöhnlichen Schriften, das Setzen stark redigierter Artikel oder nicht-englischer Worte. Wenn Arbeit weggegeben wurde – beispielsweise bei Werbetexten, die nicht im Haus gesetzt wurden –, wurden sie dafür entschädigt, daß sie sie nicht machten. Am Ende jeder Woche rechnete ein Gewerkschaftsmann alle diese Extras zusammen, fügte eine Kleinigkeit für eine praktische Kategorie namens »Erforderliche Extrabemühungen« hinzu und präsentierte der Lohnbuchhaltung die Rechnung. Folglich zählten dienstältere Setzer, die ihr Handwerk nicht besser beherrschten als ihre Kollegen in jeder x-beliebigen Klitsche, zu den zwei Prozent Spitzenverdienern in Großbritannien. Es war der helle Wahn.

Und ich muß Ihnen ja nicht erzählen, wie alles endete.

Am 24. Januar 1986 feuerte die Times 5250 Mitglieder der aufsässigsten Gewerkschaften – beziehungsweise tat so, als hätten diese selbst gekündigt. Am Abend dieses Tages wurden wir Redakteure in einen Konferenzraum nach oben gerufen, wo der Chefredakteur Charlie Wilson auf einen Tisch kletterte und die Neuerungen verkündete. Wilson war ein furchterregender Schotte und durch und durch ein Mann Murdochs. Er sagte uns (sinngemäß): »Wirr schicken euch nach Wapping, ihrr verrweichlichten englischen Mutterrsöhnchen, und wenn ihrr sehrr, sehrr harrt arrbeitet und mirr nicht auf den Sack geht, dann schneide ich euch vielleicht nicht die Eierr ab und tu sie in meinem Chrristmaspudding. Noch Frragen?«

Als 400 Journalisten aufgeregt quasselnd aus dem Raum wankten und mit der Erkenntnis fertigzuwerden versuchten, daß ihnen gerade das größte Drama ihres Arbeitslebens widerfuhr, stand ich allein da, und ein einziger freudevoller Gedanke durchflutete mich: Ich mußte nie wieder mit Vince, dem Tickerwolf, zusammenarbeiten.