Achtundzwanzigstes Kapitel
So, jetzt erzähle ich Ihnen, warum ich immer im Pentland Hotel absteigen werde, wenn ich in Thurso bin. An dem Abend, bevor ich fuhr, bat ich die liebenswürdige Dame am Empfang, mich um fünf Uhr morgens zu wecken, weil ich einen Frühzug nach Süden erwischen mußte. Und da fragte sie mich – vielleicht sollten Sie Platz nehmen, wenn Sie nicht schon sitzen –, also, sie fragte: »Möchten Sie das warme Frühstück?«
Ehrlich, ich dachte, sie wäre ein bißchen schwer von Kapee, und sagte: »Verzeihung, ich meinte fünf Uhr morgens. Ich muß um halb sechs los. Halb sechs in der Früh.«
»Ja, mein Lieber. Möchten Sie das warme Frühstück?«
»Um fünf Uhr morgens?«
»Es ist im Zimmerpreis mit drin.«
Und alle Achtung, da servierte mir diese wunderbare kleine Herberge doch wahrhaftig am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe um 5.15 Uhr eine hübsche Portion Gesottenes und Gebratenes und eine Kanne heißen Kaffee.
Als glücklicher und ein wenig dickerer Mann verließ ich das Hotel, tigerte durch die Dunkelheit zum Bahnhof und erlebte dort die zweite Überraschung des Morgens. Das Ding war rappelvoll mit Frauen, die in festlicher Stimmung auf dem Bahnsteig standen, die eisige, dunkle Luft mit Atemwolken und munterem Highlandgeschnatter erfüllten und geduldig darauf warteten, daß der Schaffner seine Kippe zu Ende rauchte und die Zugtüren öffnete.
Ich fragte eine Dame, was los sei, und sie erzählte mir, daß sie alle zum Einkaufen nach Inverness führen. Das machten sie jeden Samstag. Sie fuhren fast vier Stunden hin, deckten sich neu ein mit Marks-&-Spencer-Unterhosen und Plastikkotze und was immer Inverness hatte, das Thurso nicht hatte (was ziemlich viel war), nahmen dann den Achtzehn-Uhr-Zug zurück und kamen rechtzeitig zum Schlafengehen heim.
In heiterer, erwartungsfroher Stimmung fuhren wir durch den frühmorgendlichen Nebel, ein munterer Haufen in der gemütlichen Enge von zwei Eisenbahnwagen. In Inverness war Endstation, und wir drängelten hinaus, die Damen, um ihre Einkäufe zu tätigen, ich, um in den 10.35 nach Glasgow umzusteigen. Als ich sie so fortgehen sah, merkte ich überrascht, daß ich sie richtiggehend beneidete. Wahnsinn, da standen sie mitten in der Nacht auf, kamen erst um zehn Uhr abends wieder nach Hause, und doch hatte ich noch nie Menschen gesehen, die so fröhlich zum Einkaufen fuhren.
Der kleine Zug nach Glasgow war fast leer und die Landschaft überaus malerisch. Wir fuhren durch Aviemore, Pitlochry, Perth und weiter nach Gleneagles, das einen hübschen, nun leider verrammelten Bahnhof hatte. Und dann, mehr als acht Stunden, nachdem ich mich an dem Morgen aus dem Bett gequält hatte, waren wir in Glasgow. Nach so vielen Stunden Fahrt kam es mir komisch vor, aus der Queen Street Station zu treten und immer noch in Schottland zu sein.
Wenigstens haute es mich diesmal nicht um. Ich weiß noch, wie entsetzt ich war, als ich 1973 zum erstenmal in Glasgow aus ebendiesem Bahnhof kam und sah, wie erstickend dunkel und rußgeschwärzt alles war. Eine solch stickige, dreckige Stadt hatte ich noch nie erlebt. Alles kam mir düster und freudlos vor. Selbst der Akzent dort klang nach Schlacke und Grus. Die St. Mungo-Kathedrale war so schwarz, daß sie sogar von der gegenüberliegenden
Straßenseite wie ein Scherenschnitt aussah. Und es gab keine Touristen – überhaupt keine. Glasgow war die Hauptstadt von Schottland, aber mein Europareiseführer Let’s go erwähnte es nicht einmal.
In den folgenden Jahren hat Glasgow natürlich eine sensationelle, vielgerühmte Verwandlung durchlaufen. Im Stadtzentrum sind die alten Gebäude dutzendweise saubergeblasen und liebevoll poliert worden, so daß die Granitflächen wieder glänzen. In den Jahren des schwindelerregenden Booms der Achtziger wurden tatkräftig weitere Dutzend errichtet – allein im letzten Jahrzehnt Bürogebäude für mehr als 1 Milliarde Pfund. Mit der Burrell Collection legte die Stadt sich eines der feinsten Museen der Welt zu und mit dem Princes Square-Einkaufszentrum eines der intelligentesten Beispiele an Stadterneuerung. Vorsichtig kam die Welt plötzlich nach Glasgow und entdeckte prompt und zu ihrem Entzücken, daß diese Stadt mit herrlichen Museen, netten Pubs, Weltklasseorchestern und nicht weniger als siebzig Parks gesegnet war, reichlicher als jede andere Stadt dieser Größe in Europa. 1990 war Glasgow Kulturhauptstadt Europas, und keiner hat gelacht. Noch nie zuvor hatte sich der Ruf einer Stadt so jäh und so dramatisch gewandelt – und meiner Ansicht nach verdient es auch keine mehr als Glasgow.
Ich bin außerdem der Meinung, daß unter den vielen Schätzen der Stadt keiner mit der Burrell Collection mithalten kann. Nachdem ich im Hotel eingecheckt hatte, fuhr ich, weil sie so weit draußen ist, schnell mit dem Taxi hin.
»D’ye nae a lang roon?« sagte der Fahrer, als wir über Clydebank und Oban auf einer Autobahn Richtung Pollok Park rasten.
»Verzeihung«, sagte ich, denn ich spreche kein »Glaswegian«.
»D’ye dack ma fanny?«
Wie ich es hasse, wenn ein Mensch aus Glasgow mit mir spricht. »Verzeihung«, sagte ich und suchte fieberhaft nach einer Ausrede. »Ich höre sehr schlecht.«
»Aye, ye nae hae doon a lang roon«, sagte er. Ich glaube, es bedeutete: »Ich mache jetzt mit Ihnen einen ganz weiten Umweg und schaue Sie ganz oft mit bedrohlichen Blicken an, damit Sie sich allmählich fragen, ob ich Sie zu einem leerstehenden Lagerhaus bringe, wo Freunde von mir darauf warten, Sie zu verprügeln und Ihnen Ihr Geld abzunehmen.« Aber sonst sagte er nichts mehr und lieferte mich ohne weitere Vorkommnisse am Museum ab.
Wie sehr ich die Burrell Collection mag! Sie ist nach Sir William Burrell benannt, einem schottischen Reeder, der 1944 der Stadt seine Gemäldesammlung mit der Auflage hinterließ, sie in ländlicher Umgebung innerhalb der Stadtgrenzen unterzubringen. Er hatte – nicht unbegründet – Angst, daß die Luftverschmutzung seinen Kunstwerken Schaden zufügen würde. Unfähig, zu entscheiden, was man mit diesem üppigen Überraschungsgeschenk anfan-gen sollte, tat man erstaunlicherweise nichts. Die nächsten neununddreißig Jahre lagen einige wahrhaft außergewöhnliche Objekte fast vergessen in Kisten verpackt in Lagerhäusern. Nach beinahe vier Dekaden, in denen die Stadt nicht zu Potte kam, nahm sie sich Ende der Siebziger dann doch endlich einen begabten Architekten namens Barry Gasson. Der entwarf ein schmuckes, schlichtes Gebäude an einem Wald, das berühmt für seine luftigen Räume und die raffinierte Art werden sollte, wie architek-tonische Elemente aus der Burrellschen Sammlung – mittelalterliche Pforten und Türstürze und dergleichen – in die Anlage integriert wurden. Unter allgemeinem Beifall wurde es 1983 eröffnet.
Burrell war nicht besonders reich, aber meine Güte, er hatte Geschmack. Die Galerie enthält nur 8000 Ausstellungsstücke, aber sie kommen von überall her – aus Mesopotamien, Ägypten, Griechenland, Rom –, und mit Ausnahme einiger glasierter Porzellanfigurinen von Blumenmädchen, die er einmal im Fieberwahn aufgegabelt haben muß, sind sie durch die Bank umwerfend. Den ganzen Nachmittag lang wandelte ich glücklich durch die vielen Räume und tat so (das mache ich manchmal), als dürfe ich eins der Objekte mit nach Hause nehmen, ganz egal, welches – als Geschenk des schottischen Volkes in Würdigung meiner überragenden menschlichen Qualitäten. Nach vielem Ringen entschied ich mich schließlich für einen Kopf der Persephone aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. aus Sizilien, der nicht nur überwältigend makellos war, als sei er erst gestern erschaffen worden, sondern sich auch perfekt auf dem Fernseher gemacht hätte. Am frühen Abend verließ ich hochzufrieden die Burrell Collection und erquickte mich noch ein wenig im Pollok Park.
Es war ein milder Tag, und ich beschloß, in die Stadt zurückzulaufen, obwohl ich keinen Plan und auch nur eine äußerst vage Vorstellung hatte, wo das entfernte Zentrum lag. Ich weiß nicht, ob Glasgow wirklich eine wundervolle Stadt ist oder ich dort nur immer zufällig auf ein paar unvergeßlich schöne Sehenswürdigkeiten gestoßen bin – den zauberhaften Kelvingrove Park, den Botanischen Garten, die sagenhafte Nekropolis, den Friedhof mit reihenweise reich verzierten Grabmälern. Diesmal war es auch so. Ich wanderte hoffnungsfroh eine breite Allee namens St. Andrews Drive entlang und streifte ziellos durch ein hübsches Viertel mit reichen, gutsituierten Häusern und einem anmutigen Park mit einem kleinen Teich. Schließlich kam ich an der Scotland Street Public School vorbei, einem wunderbaren Gebäude mit eleganten Treppenaufgängen, das wahrscheinlich von Macintosh war, und kam bald darauf in einen eher schäbigen, aber nicht weniger interessanten Bezirk, den ich als die Gorbals identifizierte. Und dann verirrte ich mich.
Von Zeit zu Zeit konnte ich den Clyde sehen, aber nicht herausfinden, wie ich dorthin oder – viel wichtiger! – darüber kam. Ich lief durch viele kleine Straßen und befand mich bald in einer dieser toten Gegenden mit fensterlosen Lagerhäusern und Garagentüren, auf denen steht: PARKEN VERBOTEN – GARAGE WIRD TAG UND NACHT BENUTZT. Ich schlug ein paar Haken, die mich immer weiter aus der menschlichen Gesellschaft hinausführten, und stolperte schließlich in eine kurze Straße mit einem Eck-Pub. Weil ich mich ein bißchen hinsetzen und was trinken wollte, ging ich hinein. Es war eine dunkle, abgehalfterte Kneipe, in der nur zwei nicht sehr vertrauenerweckende Männer nebeneinander am Tresen saßen und schweigend tranken. Sonst war niemand da. Ich bezog am anderen Ende des Tresens Posten und wartete ein wenig, aber niemand kam. Ich trommelte mit den Fingern auf den Tresen, blies die Wangen auf und verzog die Lippen zu den unmöglichsten Formen, wie man das eben so macht, wenn man wartet. (Und warum eigentlich, was meinen Sie? Es ist ja nicht mal halb so unterhaltsam für einen selbst wie zum Beispiel das wirklich sehr primitive Blasenaufpulen oder mit dem Daumennagel die anderen Fingernägel säubern.) Ich amüsierte mich mit letzterem und blies die Wangen noch ein bißchen mehr auf, aber immer noch kam niemand. Schließlich merkte ich, wie der eine Gast mich beäugte.
»Hae ya nae hook ma dooky?« fragte er.
»Verzeihung?« erwiderte ich.
»He’ll nay be doon a mooning.« Er riß den Kopf in Richtung eines Hinterzimmers.
»Ach so, aha«, sagte ich und nickte weise, als erkläre das alles.
Sie schauten mich aber weiter unverwandt an.
»D’ye hae a hoo and a poo?« sagte der erste Mann zu mir.
»Verzeihung?« sagte ich.
»D’ye hae a hoo and a poo?« wiederholte er. Offenbar war er ein wenig angeschickert.
Ich setzte ein dünnes, entschuldigendes Lächeln auf und erklärte, daß ich aus der englischsprachigen Welt käme.
»D’ye nae hae in May?« fuhr der Mann fort. »If ye dinna dock ma donny.«
»Doon in Troon they croon in June«, sagte sein Kumpel. »Wi’ a spoon«, fügte er erläuternd hinzu.
»Ach so, aha.« Wieder nickte ich tiefsinnig, schob die Unterlippe ein wenig vor, als sei mir doch jetzt beinahe alles klar. Und genau da erschien zu meiner Erleichterung der Barmann mit unglücklicher Miene und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab.
»Fuckin muckle fucket in the fuckin muckle«, sagte er zu den beiden Männern und dann mit müder Stimme zu mir: »Ah hae the woo.« Ich wußte nicht, ob es eine Frage oder eine Aussage war.
»Ein Glas Tennant’s, bitte«, sagte ich hoffnungsvoll.
Er stieß ein ungeduldiges Geräusch aus, als sei ich seiner Frage ausgewichen. »Hae y a nae hook ma dooky?«
»Verzeihung?«
»Ah hae the noo«, sagte der erste Gast, der sich offenbar als Dolmetscher betrachtete.
Eine Weile stand ich mit offenem Mund da, versuchte mir zusammenzureimen, was sie gesagt hatten, überlegte, welcher Teufel mich geritten hatte, in einem solchen Stadtteil ein Pub zu betreten, und sagte mit dann leiser Stimme: »Ach, nur ein Glas Tennant’s.«
Der Barmann seufzte schwer und holte mir ein Pint. Nach dem ersten Schluck begriff ich, was sie mir die ganze Zeit mitzuteilen versucht hatten. Ich solle um Gottes willen in diesem Pub kein Lager bestellen, denn ich würde nur ein Glas warme, aus einem störrischen Hahn gezapfte Seifenlauge bekommen, und ich solle mein Leben in Sicherheit bringen, solange ich noch könne. Ich trank zwei Schluck von dem ominösen Gebräu, tat dann so, als müßte ich mal, und entkam durch die Seitentür.
Und so kehrte ich auf die dämmrigen Straßen am Süd-ufer des Clyde zurück und versuchte, den Weg zurück in die Zivilisation zu finden. Es ist beinahe unmöglich, sich vorzustellen, wie die Gorbals waren, bevor man begann, sie aufzumotzen, und wagemutige Yuppies ermunterte, in schicke neue Mietshäuser an ihren Rändern zu ziehen. Nach dem Krieg tat die Stadt etwas höchst Ungewöhnli-ches. Sie baute riesige, schicke Hochhaussiedlungen im Grünen, verschob Zehntausende aus heruntergekommenen Vierteln wie den Gorbals dorthin und vergaß, für die nötige Infrastruktur zu sorgen. Allein nach Easterhouse wurden vierzigtausend Leute verfrachtet, und als sie da waren, merkten sie, daß sie zwar tolle, neue Apartments mit Innenklo hatten, aber keine Kinos, keine Läden, keine Banken, keine Pubs, keine Schulen, keine Jobs, keine Arztpraxen. Jedesmal, wenn sie einen Drink, zur Arbeit oder zum Arzt wollten, mußten sie in einen Bus klettern und meilenweit zurück in die Stadt fahren. Da verwandelten sie die Häuser vor Wut in neue Slums. Mit dem Ergebnis, daß Glasgow wahrhaft schlimme Wohnungsprobleme hat. Die Stadt ist zwar der größte Immobilienbesitzer Europas. Ihre 160000 Häuser und Wohnungen machen die Hälfte des gesamten Wohnraums der Stadt aus. Doch nach eigenen Schätzungen müßte sie ungefähr 3 Milliarden Pfund ausgeben, um alles so zu sanieren, daß es den heutigen Anforderungen genügt. Wohlgemerkt, darin sind nicht die Mittel für neue Wohnungen enthalten, sondern lediglich die, um die bestehenden bewohnbar zu machen. Im Moment beträgt das Budget dafür aber nur rund 100 Millionen Pfund im Jahr.
Nach geraumer Zeit fand ich einen Weg über den Fluß und ins schöne, neue Zentrum zurück. Ich schaute mir George Square an – meiner Ansicht nach der schönste Platz in ganz Großbritannien – und trottete dann bergan zur Sauchiehall Street, wo mir mein Glasgower Lieblings- und zugleich einziger Witz wieder einfiel. Er ist nicht so dolle, aber er gefällt mir. Ein Polizist schnappt an der Ecke Sauchiehall/Dalhousie einen Dieb und zerrt ihn an den Haaren mehrere hundert Meter weiter zur Rose Street, um ihn dort zu verhaften.
»Oi, warum machen Sie das?« fragt der Übeltäter. Er fühlt sich ungerecht behandelt und reibt sich den Kopf.
»Weil ich ›Rose Street‹ schreiben kann, du Scheißdieb«, sagt der Polizist.
Und das ist typisch für Glasgow. Nun hat es all diesen neuen Wohlstand und Schick, aber man hat das Gefühl, gleich darunter ist es immer noch roh und gewalttätig, was ich seltsam aufregend finde. Wenn man freitags abends durch die Straßen streift wie ich nun, weiß man nie, ob man an der nächsten Ecke auf eine Gruppe aufgedonnerter Nachtschwärmer oder einen Trupp arbeitsloser jugendlicher Rowdies stößt, die Bock haben, einem zum Zwecke flüchtigen Vergnügens ihre Initialen in die Stirn zu ritzen. Das gibt der Stadt einen gewissen Pfiff.