7. Kapitel

Finden Sie heraus, was mit Samantha Leeds geschieht.« Melinda Jaskiel reichte Rick Bentz das Protokoll. »Sie ist Moderatorin – Radiopsychologin, und sie sagt, sie wird belästigt.«

»Ich habe schon von ihr gehört«, gab Bentz zu. »Meine Tochter hört sich ihre Sendung manchmal an.« Er saß an seinem Schreibtisch, kaute ein ausgesaugtes Nicorette-Kaugummi und sehnte sich nach einer Zigarette. Und nach einem Schluck Jack Daniels … ja, das wäre jetzt das Richtige. Aber er versagte sich den Genuss.

»Dr. Sam, wie sie sich nennt, wohnt nicht in der Stadt; ihr gehört eins von diesen tollen Häusern oben am See in Cambrai. Als diese Sache vor ein paar Tagen anfing, hat sie die zuständige Polizeidienststelle angerufen. Sie waren so freundlich, uns eine Kopie des Protokolls zu faxen, und die mit dem Fall betrauten Beamten scheinen heilfroh zu sein, jemanden aus der Stadt zur Seite gestellt zu bekommen.«

Bentz überflog die Seiten, und Melinda verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit der Hüfte an den Schreibtisch.

»Ich möchte nicht, dass diese Sache an die Öffentlichkeit dringt«, sagte sie. »Die Frau ist hier in der Gegend quasi eine Berühmtheit. Nicht nötig, dass die Presse jetzt schon Wind davon kriegt. Die schnüffelt sowieso schon herum, in der Hoffnung, dass hier ein Serienmörder sein Unwesen treibt. Wir wollen dafür sorgen, dass sie nicht noch mehr findet, um die Öffentlichkeit aufzurühren.«

Bentz hatte keine Einwände. Seinen Posten in der Behörde hatte er bestenfalls auf Probe, und im Morddezernat sprang er sowieso nur ein, in erster Linie Melinda zuliebe. Er hatte nicht vor, etwas zu vermasseln, er würde tun, was man von ihm verlangte. Sein Aufgabenbereich umfasste alles von Einbruch über Brandstiftung bis zu häuslicher Gewalt. Und er war hundertprozentig einer Meinung mit Melinda, dass die Dr.-Sam-Angelegenheit geheim gehalten werden musste. Das Letzte, was sie brauchten, waren Trittbrettfahrer, die den Sender mit Anrufen terrorisierten. Von denen gab es vermutlich schon allein innerhalb der Hörerschaft genug.

»Ich kümmere mich darum«, sagte er und schob die Akte Rosa Gillette zur Seite. Während der letzten paar Stunden hatte er den Autopsiebericht und das Beweismaterial zu dem Prostituiertenmord studiert.

Melinda warf einen Blick auf seine Notizen. »Lassen Sie die Mordfälle nicht ruhen«, wies sie ihn an, »aber beschäftigen Sie sich erst mal mit Samantha Leeds. Sieht ganz so aus, als hätte sie einen echten Spinner an Land gezogen. Ich möchte nur sichergehen, dass er nicht gefährlich ist.«

»Wird gemacht«, versprach er und achtete nicht auf den Computerbildschirm, auf dem Seite an Seite Bilder der zwei toten Frauen, Rosa Gillette und Cherie Bellechamps, flackerten.

»Ich weiß, Sie würden lieber an diesem Fall weiterarbeiten«, sagte Melinda und deutete auf den Autopsiebericht. »Und das kann ich Ihnen nicht verübeln. Aber das Morddezernat wird schon damit fertig. Wir müssen auch die anderen Dinge im Auge behalten.«

Er zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Er verfügte über weit mehr Erfahrung als die Männer vom Morddezernat, doch das sagte er nicht.

»Brinkman kommt bald zurück.« Melinda sah ihn durch ihre randlose modische Brille an. Klug, gebildet, stets im Kostüm, Make-up und Frisur immer tadellos, war sie seine direkte Vorgesetzte, die jedoch nie die Chefin herauskehrte. Sie erwähnte nicht, dass er ohne sie die Stelle in New Orleans niemals bekommen hätte; ihnen beiden war es sehr wohl bewusst. »Hören Sie, Rick, ich weiß, Sie sind überarbeitet, überreizt und unterbezahlt, aber wir sind hier unterbesetzt, wegen der Urlaubszeit und weil sich ein paar Beamte krank gemeldet haben. Ich verstehe, dass es Ihnen nicht gefällt, zwischen dem einen Fall und dem anderen hin und her geschoben zu werden, aber bis zu Ihrer nächsten Überprüfung ist das nun mal notwendig.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, was selten genug vorkam. »Außerdem haben Sie mir einmal gesagt, dass Sie nicht mehr in Mordfällen ermitteln wollen.«

»Vielleicht habe ich es mir anders überlegt.«

»Das will ich hoffen. Jetzt möchte ich aber erst einmal, dass Sie mit Samantha Leeds reden.«

Es war keine Bitte, es war ein Befehl. Er hatte verstanden. Das hieß jedoch nicht, dass es ihm behagte. Immerhin lag bedeutend wichtigere Arbeit an – ein frei herumlaufender Mörder zum Beispiel.

»Montoya kann Ihnen bei den Laufereien behilflich sein.«

Er nickte. »Sie sind mir was schuldig.«

»Und Sie sind mir noch viel mehr schuldig. Zeit, dass Sie zurückzahlen.«

»Ich dachte, ich hätte das alles hinter mir.« Doch er wusste, dass er es nie hinter sich lassen würde. Die Vergangenheit besaß die Eigenart, haften zu bleiben wie ein übler Geruch. Man konnte sie nicht einfach abwaschen, ganz gleich, wie heftig man schrubbte. Er verdankte Melinda nicht nur seinen Job, sondern auch das Leben, das er gewohnt war.

»Okay, hören Sie zu«, sagte sie, neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn. »Ich gebe Ihre guten Vorsätze und Taten an die maßgeblichen Stellen weiter. So machen Sie Punkte.«

Bentz lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute sie mit einem halbherzigen Lächeln an. »Und dabei habe ich geglaubt, Sie wären die maßgebliche Stelle. So wie die Leute reden, dachte ich, Sie wären hier so etwas wie eine Göttin.«

Ihre Augen blitzten hinter den Brillengläsern. Sie wies mit dem Zeigefinger auf seine Brust. »Gott. Ich bin Gott. Allmächtig und geschlechtslos. Es würde Ihnen gut anstehen, das nicht zu vergessen.«

Er musterte sie flüchtig von Kopf bis Fuß. Unter dem marineblauen Kostüm verbarg sich ein durchtrainierter Körper. Hübscher Busen, schmale Taille und lange Beine. »Geschlechtslos – das zu vergessen könnte sich als schwierig erweisen.«

»Vorsicht! Eine solche Bemerkung kann Ihnen heutzutage als sexuelle Belästigung ausgelegt werden.«

»Quatsch. Außerdem: Sie verstehen mich schon richtig. Und Sie sind schließlich der Boss.«

»Genau. Merken Sie sich das.« Sein Telefon klingelte, und sie fügte hinzu: »Informieren Sie mich, wenn Sie mit Miss Leeds gesprochen haben, ja?«

»In Ordnung. Aber wie ich schon sagte: Sie sind mir was schuldig.«

»Ja, und morgen friert die Hölle ein.«

Sie ging, und Bentz nahm den Hörer ab. »Rick Bentz.«

»Montoya«, meldete sich sein Partner, und aufgrund der summenden Leitung vermutete Bentz, dass der junge Detective in sein Handy sprach, während er mit dem Auto unterwegs war. Wahrscheinlich überschritt er gerade mal wieder das Tempolimit. »Weißt du was? Ich habe einen Anruf von Marvin Cooper bekommen. Erinnerst du dich? Der Hausmeister der Riverview-Apartments, wo wir das letzte Opfer gefunden haben – diese Gillette.«

»Ja.« Bentz lehnte sich so weit zurück, dass der Stuhl ächzte.

»Er sagt, dass Denise, die Mitbewohnerin, Rosas Fußkettchen vermisst. Rosa hat es immer getragen, es war ein Geschenk. Ich also nichts wie hin zu dem Apartmenthaus, und mit Marvin gehe ich zu Denise, und sie erzählt mir von diesem Goldkettchen.«

Bentz beugte sich wieder vor, klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr und blätterte in dem Bericht über Rosa Gillette. »Sie trug überhaupt keinen Schmuck«, sagte er und griff nach den Akten zu Cherie Bellechamps. »Die Erste auch nicht.« Er überprüfte noch einmal die Fotos auf seinem Bildschirm.

»Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten«, bemerkte Montoya. »Vielleicht aber auch doch. Denise glaubt, die dritte Nutte, Cindy Sweet, könnte Rosa beraubt haben. Das glaube ich aber nicht.«

»Unser Mörder wäre nicht der Erste, der ein kleines Souvenir mit nach Hause nimmt.« Rick zoomte die Bilder der Opfer näher heran, betrachtete Rosas Fesseln und die gesamten Körper beider Frauen. Keine Spur von Schmuck. Also sammelte der Mörder Trophäen. Keine große Überraschung.

»Sonst noch was, das ich wissen müsste? Scheiße!« Lautes Hupen übertönte das Summen und Knistern in der Leitung. »Irgend so ein Idiot hätte sich beinahe vor mir in die Spur gedrängt. Himmel, kann denn kein Mensch in dieser Stadt vernünftig Auto fahren?«

»Nur du, Montoya, nur du. Wir sprechen uns später.« Bentz neigte sich stirnrunzelnd über den Bericht, den Melinda ihm gegeben hatte. »Ich muss noch mal raus. Jaskiel hat mich persönlich gebeten, mich um eine Radiomoderatorin zu kümmern, die Drohanrufe bekommt.«

»Als ob du nicht schon genug zu tun hättest.«

»Genau.« Er legte auf und spuckte sein geschmacklos gewordenes Kaugummi aus. Noch immer schmachtete er nach einer Zigarette und versuchte, nicht an den Genuss zu denken, den er sich verweigerte. Er nahm seine Jacke vom Haken und verließ das Büro.

 

Sam strich mit den Fingern über die Rücken der Bücher, die sie seit ihrer Collegezeit in Ehren gehalten hatte. Auch wenn sie die Bände seit Jahren nicht mehr angesehen hatte, bewahrte sie sie doch im untersten Fach ihres Bücherschranks im Büro auf, nur für alle Fälle. Sie war sicher, dass sich noch irgendwo ein Exemplar von Miltons »Das verlorene Paradies« befinden musste, das sie während der Jahre an der Tulane-Universität für irgendein Seminar über britische Literatur gebraucht hatte. »Ich weiß, dass es hier ist«, sagte sie leise zu Charon, als dieser auf ihren Schreibtisch sprang. Dann entdeckte sie es. »Da!« Lächelnd zog sie den Hardcover-Band heraus und klemmte ihn sich unter den Arm. »Voilà. Dann will ich mal ein bisschen faulenzen.«

Sie stopfte den Hörer ihres schnurlosen Telefons, das Buch, eine Dose Cola light und ihre Sonnenbrille in eine Segeltuchtasche, die schon mit ihrem Strandlaken prall gefüllt war, und ging, mit schmerzverzerrtem Gesicht, da der Knöchel ihr noch immer zu schaffen machte, nach draußen und den gepflasterten Weg zum Anleger hinunter. Die Sonne stand hoch am Himmel, ihre Strahlen tanzten auf dem Wasser des Sees. Dutzende von Booten flogen über das Gewässer, auf dem sich auch zahlreiche Wasserskifahrer tummelten. Einige Angler hockten am Ufer.

Sam fühlte sich bereits heimisch in ihrem neuen Haus, und sie genoss es, so nah am See zu leben. Zwar hatte David unablässig behauptet, sie könnte genauso viel Erfolg in Houston haben, aber sie liebte nun einmal New Orleans und dieses Fleckchen Erde. Während des ersten halben Jahrs hatte sie in einem Apartment in Innenstadtnähe gewohnt, dann hatte sie dieses Landhaus entdeckt und sich auf Anhieb in das alte Gemäuer verliebt – trotz seiner morbiden Geschichte. David war völlig außer sich gewesen, dass sie tatsächlich ein Haus gekauft hatte und Wurzeln schlagen wollte. Und dann auch noch in einem Haus, in dem ein Mord begangen worden war.

Ein Mord, der aufgeklärt wurde, sagte sie sich nun, ein Verbrechen aus Leidenschaft.

Sie ließ sich auf einer Liege unter dem Sonnenschirm nieder, riss ihre Coladose auf und begann, in dem muffig riechenden Buch zu blättern. Vielleicht war die Idee weit hergeholt, vielleicht hatten Johns Anrufe überhaupt nichts mit Miltons epischem Werk zu tun, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass eine, wenn auch schwache, Verbindung bestand.

Pelikane und Möwen schwebten über ihr, ein Düsenjet raste über den klaren blauen Himmel, und Sam überflog den Text, in dem Satan und seine Heerscharen in die Hölle und den Feuersee geschleudert wurden.

»›Lieber in der Hölle herrschen statt im Himmel zu dienen‹«, zitierte sie flüsternd Satans Worte. »Na, das ist doch ein guter Spruch.« Sie warf einen Blick auf Charon, der sie begleitet hatte und nun einem Schmetterling auflauerte. Der Kater setzte ihm nach, bis er übers Wasser flatterte und unerreichbar wurde. »Ja, ich weiß. Ich bin wahrscheinlich auf dem völlig falschen Dampfer.« Während sie rasch die Seiten quer las, fragte sie sich, ob sie die Absichten des Anrufers vielleicht doch missverstanden hatte.

Sie verlor sich in der Geschichte, schlürfte ihre Cola und aalte sich in der Sonne. Bienen summten, ein Stück die Straße hinunter brummte ein Rasenmäher, und Mrs. Killingsworths Mops begann aufgeregt zu bellen, wahrscheinlich wegen eines Eichhörnchens oder eines Rad fahrenden Kindes. Das Husten und Stottern eines Bootsmotors hallte übers Wasser. Sam achtete nicht darauf. Sie war vollkommen aufs Lesen konzentriert; vor ihrem inneren Auge entstanden die Bilder, die Milton vor mehr als dreihundert Jahren heraufbeschworen hatte.

Die Sonne war bereits beträchtlich gesunken, da blickte Sam auf und bemerkte das Segelboot; nicht einfach irgendein Segelboot, sondern ebenjene Schaluppe, die sie am Anleger von Milo Swansons Haus gesehen hatte, das Boot, das, wie sie sich eingebildet hatte, spätnachts übers Wasser geglitten war. Doch jetzt waren die Segel gestrichen, und das Boot wurde von einem Motor angetrieben, der in diesem Moment aussetzte und erstarb und kurz darauf hustend wieder zum Leben erwachte.

Ein Mann stand am Steuerrad und lenkte die Schaluppe dichter an den Anleger heran, und offenbar hatte Mrs. Killingsworth ausnahmsweise einmal Recht gehabt. Selbst auf die große Entfernung hin erkannte Sam, dass der Mann durchtrainiert, kräftig und gut aussehend war. Sein Hemd war offen, es flatterte im Wind und gab den Blick frei auf eine breite, gebräunte Brust. Eine abgeschnittene Jeans saß tief auf seinen Hüften, ausgefranst an den athletischen Schenkeln. Deren Muskeln spannten sich, als sich der Mann bemühte, das Gleichgewicht zu halten. Sein Körper glänzte vor Schweiß. Dichtes, dunkles Haar fiel ihm in die hohe, ebenfalls gebräunte Stirn, und eine dunkle Sonnenbrille verdeckte die Augen. Zu seinen Füßen saß, die Nase im Wind, ein Hund, ein Schäferhund-Mischling, wie Sam vermutete.

Mit einiger Mühe steuerte der Mann das Boot mit dem versagenden Motor zu Sams Anlegeplatz, dann warf er die Leine über einen Poller und zurrte sie fest. Als würde er Sam kennen, als hätte er das Recht, ihren Landungssteg zu benutzen. Der Motor heulte noch einmal auf, dann erstarb er endgültig.

Sam setzte sich auf ihrer Liege auf, legte das Buch zur Seite und musterte das kantige Gesicht mit den kräftigen Wangenknochen und dem festen Kinn unter dem Bartschatten. Nein, sie kannte ihn nicht. Jetzt kletterte er übers Deck und fing an, am Motor zu werkeln. Er schaute nicht einmal in ihre Richtung.

Sie stemmte sich hoch. »Kann ich Ihnen helfen?«

Keine Antwort. Er war zu sehr in seine Arbeit vertieft.

»Hallo?« Sie schritt den Anleger entlang. Der Hund stieß ein scharfes Bellen aus, und endlich warf der Mann einen Blick über die Schulter.

»Entschuldigen Sie«, sagte er, ohne von dem Motor abzulassen. »Ich habe hier ein Problem. Dachte, ich würde es noch bis nach Hause schaffen, aber …«, er bedachte sie mit einem entwaffnenden Grinsen und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Motor, »… das verdammte Ding hat beschlossen, den Geist aufzugeben.«

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Er fixierte sie hinter seinen dunklen Gläsern, die auf einer leicht schiefen Nase saßen. »Sind Sie Mechanikerin?«

»Nein, aber ich bin schon mal mit einem Boot gefahren.«

Er überlegte, musterte sie weiter. »Klar, kommen Sie an Bord«, sagte er schließlich. »Aber es ist nicht nur der Motor. Der verdammte Kiel macht Probleme, und die Segel sind gerissen. Ich hätte heute nicht rausfahren dürfen.« Falten der Ratlosigkeit erschienen auf seiner Stirn, über der der Wind mit seinem dichten, kaffeebraunen Haar spielte. Er richtete sich auf und schlug mit der flachen Hand gegen den Mastbaum. »Ich hätte es wissen müssen.«

Barfuß stieg Sam vorsichtig an Deck, und als sie ihren verletzten Knöchel belasten musste, verzog sie nur leicht das Gesicht. »Ich heiße Samantha«, stellte sie sich vor. »Samantha Leeds.«

»Ty Wheeler. Ich wohne gleich hinter der Landzunge da.« Er zeigte auf den kleinen Zipfel, der ins Wasser ragte, hockte sich dann vor den Motor und machte sich an zwei Stückchen Kabel zu schaffen. Er prüfte die Zündung. Sie knirschte. Der Motor stotterte. Hauchte erbarmungswürdig sein Leben aus. Ty fluchte verhalten. »Tja, es hat keinen Sinn. Wahrscheinlich liegt’s an der Benzinleitung. Ich muss nach Hause laufen und mehr Werkzeug holen.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und beäugte das Boot mit finsterer Miene. »Es gehört nicht mir, noch nicht. Ich fahre es nur zur Probe.« Er schüttelte den Kopf. »Jetzt verstehe ich auch, warum es so ein Schnäppchen ist. Strahlender Engel, dass ich nicht lache. Satans Rache wäre passender. Vielleicht gebe ich dem Ding einen neuen Namen – falls ich es überhaupt kaufe.«

Sam rührte sich nicht von der Stelle. Sie konnte eine Sekunde lang nicht atmen, sagte sich aber, dass sie überreagierte. Sie hatte eben in »Das verlorene Paradies« geschmökert, kein Wunder, dass die Erwähnung von Satan sie aufhorchen ließ. Es war purer Zufall, sonst nichts. Das hatte nichts zu bedeuten. Überhaupt nichts.

Er sah auf die Uhr, dann auf die untergehende Sonne. »Stört es Sie, wenn ich das Boot hier lasse? Ich laufe schnell nach Hause und hole mein Werkzeug.« Er runzelte die Stirn und schaute Sam an. »Verdammt. Ich habe wirklich geglaubt, ich würde es bis zu meinem Anleger schaffen, aber der da«, er bedachte den Motor mit einem wütenden Blick, »hatte andere Vorstellungen. Ich will versuchen, das Boot noch heute zurück zu meinem Anleger zu bringen. Allerdings werde ich in einer Stunde schon erwartet … Aber spätestens morgen sind Sie mich los.«

»Das wäre schon in Ordnung«, sagte Sam, und bevor sie es sich anders überlegen konnte, war er vom Boot gesprungen und marschierte, Seite an Seite mit seinem Hund, davon.

Sam überschattete die Augen mit der Hand und blickte ihm nach. Er überquerte die weitläufige Rasenfläche, ging unter einem der Schatten spendenden Bäume hindurch, umrundete die Veranda und strebte dem Tor vor ihrem Haus zu, als wüsste er ganz genau, wo es sich befand.

Andererseits war es keine große Leistung, den Ausgang zu finden. Das Tor musste entweder auf der einen oder der anderen Seite des Hauses liegen. Die Chance, dass er auf Anhieb den richtigen Weg einschlug, stand eins zu eins. Er hatte eben Glück gehabt.

Sam ließ sich wieder auf ihrer Liege nieder und schlug das Buch auf, doch sie konnte sich nicht mehr konzentrieren, und bald schon hörte sie Hannibal wie verrückt bellen. Dann glaubte sie, über den auffrischenden Wind hinweg ein Auto auf der Zufahrt zu hören. Sie klappte das Buch zu, stand viel zu schnell auf und spürte einen heftigen Schmerz im linken Knöchel. Leise schimpfte sie über ihre eigene Dummheit.

Als sie die hintere Veranda erreichte, vernahm sie das leise Klingeln der Türglocke. Sie flog geradezu durch die Räume und schrie: »Ich komme!« An der Haustür angelangt spähte sie durch den Spion und erblickte einen großen Mann mit breitem Brustkasten, der eine hellbraune Jacke trug. Er hatte die Hände tief in die Taschen geschoben und kaute Kaugummi, als hinge sein Leben davon ab. Sam öffnete die Tür nur so weit, wie die Vorlegekette es zuließ. »Was kann ich für Sie tun?«

»Samantha Leeds?«

»Ja.«

»Rick Bentz, Polizeibehörde New Orleans.« Er klappte eine schwarze Brieftasche auf und zeigte seine Marke und seinen Dienstausweis. Graue Augen sahen sie eindringlich an. »Sie haben auf dem hiesigen Revier etwas zu Protokoll gegeben. Daraufhin melde ich mich bei Ihnen.«

Alles schien in Ordnung zu sein; das Foto in seinem Dienstausweis war identisch mit dem strengen Gesicht, das sie anschaute, und so löste Sam die Kette und öffnete die Tür. Bentz trat ein, und Sam spürte die Anspannung des Mannes. »Gehen wir einmal durch, was bisher passiert ist«, schlug er vor. »Wir fangen am besten …«, er warf einen Blick auf seine Notizen, »… mit dem Anruf an, den sie auf der Radiostation bekommen haben. Und hier lese ich, dass Sie einen Drohbrief erhalten haben. Daraufhin haben Sie die zuständige Polizeidienststelle verständigt.«

»Und auch wegen der Nachricht, die während meines Urlaubs auf meinem Anrufbeantworter eingegangen war. Kommen Sie.« Sie führte ihn ins Büro, reichte ihm einen Abzug des verunstalteten Fotos und wechselte dann die Kassette ihres Anrufbeantworters. »Das hier ist eine Kopie. Das Original befindet sich bei der Polizei von Cambrai.«

»Gut.«

Sam spielte die Nachricht ab, die sie seit Tagen nicht zur Ruhe kommen ließ.

Bentz hörte genau zu und starrte auf das Foto, auf dem die Augen ausgestochen waren.

»Ich weiß, was du getan hast. Und du kommst nicht ungeschoren davon. Du wirst für deine Sünden bezahlen müssen.« Die weiche Stimme, die ihr schon so vertraut geworden war, erfüllte das Zimmer, die Ecken und Winkel, schlüpfte hinter Vorhänge, zerrte an ihren Nerven.

»Was für Sünden?«, fragte Bentz.

Sam erkannte ein aufglimmendes Interesse in seinen Augen. Er sah sich im Zimmer um, machte Bestandsaufnahme, wie sie vermutete, von ihrer kleinen Bibliothek und ihrer technischen Ausrüstung. »Ich weiß es nicht«, sagte Sam wahrheitsgemäß. »Ich kann mir die Nachricht nicht erklären.«

»Und die Anrufe beim Radiosender, da ging es um das gleiche Thema – Sünde?«, erkundigte er sich, während sein Blick über den Schreibtisch und den Bücherschrank wanderte, als ob er anhand ihres Büros erfahren wollte, wer sie war.

»Ja. Er, hm, er nannte sich John, behauptete, mich zu kennen, und sagte, dass er, ich zitiere, ›mein John‹ sei. Als ich sagte, ich kenne viele Johns, deutete er an, dass ich mit vielen Männern zusammen gewesen sei, und er, ähm, er bezeichnete mich als Schlampe. Da habe ich aufgelegt.«

»Haben Sie mal ein Date mit einem John gehabt oder sogar eine Beziehung?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, erwiderte sie. »Der Name ist ja ziemlich geläufig. Ich glaube, in der Highschool bin ich mal mit einem John Petri ausgegangen und auf dem College mit einem Typen namens John … Ach Gott, ich kann mich nicht an seinen Nachnamen erinnern. Mit beiden habe ich mich nur ein paar Mal getroffen, da war nichts weiter. Ich war noch so jung damals, und die beiden auch.«

»Gut, erzählen Sie weiter. Der Kerl hat sich noch einmal gemeldet?«

»Ja. Neulich nachts … Das Gespräch wurde auf Band aufgezeichnet, aber der Anruf kam erst nach meiner Sendung. Tiny, das ist der Tontechniker, der die nächste Sendung vorbereitete, hat das Telefonat angenommen. Der Anrufer wollte mich sprechen, sagte, er sei ›mein John‹ und er habe nicht früher, also während der Sendung, anrufen können, weil er zu tun gehabt habe. Er spielte auf einen Vorfall an und gab mir die Schuld daran.«

»Auf was für einen Vorfall?«

»Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Es war unheimlich, das Ganze kam mir bedrohlich vor, allerdings war ich auch überreizt. Ich hatte Angst, heimzukommen und mein Haus abgebrannt oder verwüstet vorzufinden, aber … alles war so, wie ich es zurückgelassen hatte.«

»Sind Sie sicher, dass der Kerl derselbe war, der Sie zu Hause angerufen hat?«

»Völlig sicher. Aber ich habe eine Geheimnummer.«

Bentz betrachtete finster das Foto und lehnte sich an die Schreibtischecke. »Das hier ist ein Werbefoto, nicht wahr? Davon wurden Dutzende von Abzügen gemacht. Und verteilt.«

»Ja.« Sie nickte.

»Und das hier ist die Kopie von einem solchen Foto.«

Sie schluckte heftig. »Ich … ich vermute, er hat ein Original.«

»Was meinen Sie, warum hat er die Augen ausgestochen?«, fragte er und blinzelte.

»Um mir Angst einzujagen«, antwortete sie. »Und das ist ihm gelungen.«

»Hat er mal Ihre Augen erwähnt oder etwas, das Sie gesehen haben?«

»Nein … nicht, dass ich wüsste.«

»Ich brauche Kopien von den Bändern mit Ihrer Sendung.«

»Ich besorge sie Ihnen.«

»Ich hole mir von den Kollegen in Cambrai das Original des Bildes, des Umschlags und der Kassette des Anrufbeantworters.«

»Gut.«

»Aber Sie haben nichts dagegen, wenn ich das hier erst mal an mich nehme?« Er deutete auf das Foto.

»Nein.«

Behutsam verstaute er das Kuvert und das Bild in einem Plastikbeutel, dann fragte er, ob er sich im Haus umsehen dürfe. Sam hatte keine Ahnung, wonach er suchte, doch sie führte ihn durchs ganze Haus, und als es draußen bereits dämmerte, waren sie im Wohnzimmer angelangt. Sie schaltete die Tiffanylampe beim Fenster ein und lauschte der Melodie der Grillen. Bentz setzte sich aufs Sofa, sie ließ sich ihm gegenüber in einem Sessel nieder. Über ihnen drehte sich langsam der Ventilator.

»Erzählen Sie mir einfach von Anfang an, was passiert ist«, forderte Bentz sie auf. Er stellte einen Taschenrekorder auf die gläserne Tischplatte und drückte die Aufnahmetaste.

»Ich habe es den Beamten auf dem Revier schon zu Protokoll gegeben.«

»Ich weiß, aber ich würde es gern aus erster Hand erfahren.«

»In Ordnung. Nun«, sie rieb mit den Händen über ihre Knie, »alles fing an, als ich aus Mexiko zurückkehrte«, begann sie ihre Geschichte, berichtete von dem Verlust ihrer Papiere bei dem Bootsunfall in Mexiko, noch einmal von dem Brief, den sie zu Hause vorgefunden hatte, von dem Drohanruf auf dem Anrufbeantworter und den Anrufen beim Sender. Sie erwähnte, dass sie das Gefühl gehabt habe, jemand beobachte ihr Haus, tat es aber als Einbildung aufgrund ihrer überstrapazierten Nerven ab. Die ganze Zeit über kritzelte Bentz in ein kleines Notizbuch.

»Haben Sie vorher schon mal solche Drohungen bekommen?«

»Nicht solche persönlichen«, sagte sie. »Anonyme Anrufe gibt es immer mal wieder. Das ist Teil meiner Arbeit, aber die meisten werden abgefangen. Nur hin und wieder kommt doch mal einer durch.«

»Kennen Sie jemanden, der den Wunsch haben könnte, Ihnen etwas anzutun oder Ihnen einfach nur Angst zu machen?«

»Nein«, entgegnete sie, wenngleich Davids Gesicht vor ihrem inneren Auge aufblitzte.

»Was ist mit Ihrer Familie?«

»Ich habe nicht viele Verwandte«, erklärte sie. »Mein Vater ist pensioniert und lebt in L.A., in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Meine Mutter ist verstorben, und mein Bruder … tja, er ist vor langer Zeit verschwunden. Vor zehn Jahren, kurz vor dem Tod meiner Mutter. Womöglich ist er auch längst tot.« Sie verschränkte die Finger ineinander und empfand die gleiche tiefe Traurigkeit wie immer, wenn sie an Peter dachte. Als Kinder waren sie einander so nahe gewesen, doch dann hatten sie sich immer weiter auseinander gelebt, und als junge Erwachsene hatten sie schließlich nichts mehr gemeinsam gehabt.

»Namen?«

»Wie bitte? Ach so, Dad heißt Bill, äh, William Matheson, mein Bruder Peter, Peter William.«

»Adresse?«

Sie nannte ihm die Anschrift ihres Elternhauses und erklärte, dass sie ein paar Cousins und Cousinen habe, die in der Bay Area bei San Mateo lebten.

»Sie waren verheiratet?«

Sam nickte. »Ja. Aber das ist lange her.«

Rick zog eine Braue hoch, um sie zum Weiterreden zu ermutigen.

»Ich hatte mich gerade auf der Tulane-Universität eingeschrieben, da lernte ich Jeremy kennen.«

»Jeremy Leeds?«

»Dr. Jeremy Leeds. Er war Professor. Mein Professor. Er lehrte, ähm, lehrt Psychologie.« Und sie war so dumm gewesen, sich in ihn zu verlieben. Ein naives Mädchen, das sich von einem unkonventionellen Lehrer umgarnen ließ – von einem gut aussehenden, verwegenen Schuft mit brillantem Verstand und betörendem Lächeln.

»Ist er noch dort? An der Tulane-Universität?« Bentz hob den Blick von seinen Notizen.

»Soweit ich weiß, ja.« Sie las die Fragen in den Augen des Detectives. »Jeremy und ich haben keinen Kontakt mehr. Schon seit Jahren nicht. Wir haben keine Kinder, und er hat bald nach unserer Scheidung wieder geheiratet. Darüber hinaus weiß ich nichts über ihn.«

»Aber Sie leben in derselben Stadt«, wandte Bentz ein.

»Großstadt. New Orleans ist riesig, und ich habe eine Zeit lang woanders gewohnt. In Houston.«

»Waren Sie da noch verheiratet?«

»Zuerst ja, aber die Ehe stand schon kurz vor dem Ende. Ich dachte, es könnte eine vorübergehende Trennung sein, doch es ergab sich anders. Ich bin in Houston geblieben, und wir haben uns scheiden lassen.« Sie schaute aus dem Fenster, wollte nicht an diese Jahre denken.

»Danach haben Sie nicht wieder geheiratet?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich im Sessel zurück. Ein Blick auf die Uhr über dem bogenförmigen Durchgang zur Küche sagte ihr, dass Ty vor über einer Stunde zu seinem Haus hinübergegangen war. Er hatte versprochen, noch heute oder aber morgen zurückzukommen. Sie hoffte, dass er nicht gleich an der Tür erschien, denn sie wusste wirklich nicht, wie sie dem Polizisten erklären sollte, wer er war.

»Hatten Sie in der letzten Zeit eine feste Beziehung?«, wollte Bentz wissen, und Sam wurde zurückgeholt in die Realität dieser Inquisition.

Jetzt geht’s los, dachte sie, und ihr wurde klar, dass sie die Polizei zunächst nicht hatte einschalten wollen, um David nicht in die Sache hineinzuziehen. »Nein, aber ich hatte nach meiner Ehe ein paar Freunde.«

»Auch einen mit Namen John?«

»Nein. Die beiden Johns, von denen ich Ihnen erzählt habe, waren die Einzigen. Seitdem gab es keinen John in meinem Leben.«

Er notierte noch etwas in seinem Buch, und plötzlich stolzierte Charon aus der Küche ins Wohnzimmer, ein schwarzer Schatten, der sich unter dem Tisch verbarg und zwischen den Stuhlbeinen hindurchspähte. »Die Katze gehört Ihnen?«

»Ja. Ich habe Charon vor drei Jahren bekommen.«

»Und das Boot?« Er sah durch die offenen Fenstertüren an den Bäumen vorbei zum Anleger, an dem Tys Schaluppe festgemacht war. Die Masten waren in der zunehmenden Dunkelheit noch gut zu erkennen.

»Nein. Es gehört einem Freund … oder vielmehr einem Nachbarn.« Sie erklärte den Sachverhalt, und der Polizist hörte auf zu schreiben und starrte sie an, als hätte sie behauptet, sie wäre vom Jupiter hergeflogen.

»Also ist er ein Fremder für Sie?«

»Ja, aber … Er hat gesagt, er würde heute noch oder auch morgen zurückkommen und das Boot abholen. Er wohnt ein Stück die Straße hinunter.«

Bentz furchte die Stirn. »Lassen Sie sich von mir einen Rat geben: Schließen Sie die Türen ab, schalten Sie das Alarmsystem ein, gehen Sie nicht allein aus, und holen Sie sich keine Fremden ins Haus. Auch keine Nachbarn.«

Er fuhr sich mit steifen Fingern durchs Haar und schob sich die braunen Locken aus der Stirn. Offenbar wollte er noch mehr sagen, wollte ihr womöglich eine Standpauke halten, doch er überlegte es sich anscheinend anders.

»Ich denke, Sie haben verstanden. Gibt es irgendjemanden, den Sie als Ihren Feind betrachten würden?«

»›Feind‹ ist ein ziemlich harter Begriff.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Die einzige Person, die mir dazu einfällt, ist Trish LaBelle, und die würde ich nicht als Feindin bezeichnen, sondern eher als Rivalin. Sie arbeitet bei WNAB, moderiert eine ähnliche Sendung wie ich. Es gibt Gerede über eine Art Fehde zwischen uns, aber im Allgemeinen gehen wir uns einfach aus dem Weg, falls wir bei gesellschaftlichen oder karitativen Anlässen zusammentreffen. Ich glaube nicht, dass sie hinter dieser Sache stecken könnte. Das würde auch kaum einen Sinn ergeben, denn diese Anrufe lassen die Zuhörerquoten in die Höhe schnellen. Die Hörer sind gespannt. Das entspricht der Mentalität von Schaulustigen, die sich um ein brennendes Gebäude versammeln, oder von Autofahrern, die bei einem Unfall gaffen.«

»Also wäre es plausibler, wenn jemand von Ihrem eigenen Sender dahintersteckte, um die Quoten in die Höhe zu treiben?«

»Ausgeschlossen! Das … das ist widerwärtig. Wer würde eine Angestellte terrorisieren, um mehr Hörer zu gewinnen?«

»Sagen Sie’s mir.«

»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen! Auf jeden Fall können Sie Trish LaBelle als Verdächtige ausschließen.«

Er äußerte sich nicht dazu, sondern fragte: »Ist sonst noch irgendwer neidisch auf Sie? Hat jemand es auf Ihren Job abgesehen? Oder hegt jemand einen Groll gegen Sie?«

Wieder dachte sie an David. Verdammt, warum meinte sie, ihn schützen zu müssen? »Mir fällt keiner ein.«

»Was ist mit dem Burschen auf Ihrem Schreibtisch?«, hakte Bentz nach, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Sie sagten, Sie hätten zurzeit keine Beziehung, aber neben Ihrem Computer steht das Foto von einem Mann, und er ist nicht derselbe wie der auf dem Examensfoto. Das ist Ihr Bruder, nicht wahr?«

»Ja, das ist Peter. Der andere ist David Ross, mit dem ich bis vor kurzem liiert war.«

»Haben Sie Schluss gemacht oder er?«

»Ich habe die Beziehung beendet.«

»War er einverstanden?« Bentz war unübersehbar skeptisch.

»Er musste es wohl oder übel hinnehmen«, entgegnete sie unverblümt.

Bentz rieb sich das Kinn. »Aber es passte ihm nicht.«

»Nein. Er wollte mich heiraten.«

»Sie waren verlobt?«

»Nein.«

»Hat er Ihnen einen Ring geschenkt?«

Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten. »Er hat es versucht. Letztes Jahr zu Weihnachten. Aber … ich konnte ihn nicht annehmen.«

»Zu dem Zeitpunkt haben Sie dann Schluss gemacht?«

»Nein, aber damals fing die Beziehung an zu bröckeln. Ich war seit fünf oder sechs Monaten mit ihm zusammen und beschloss dann, die Stelle hier in New Orleans anzunehmen. George Hannah ist vor ein paar Jahren von einer Radiostation in Houston nach New Orleans gewechselt und hat dann Eleanor, meine Chefin, überredet, bei WSLJ für ihn zu arbeiten. Es war Georges Idee, die Dr.-Sam-Sendung wieder aufleben zu lassen, und Eleanor war sehr angetan. Sie musste ihre geballte Überzeugungskraft aufwenden, um mich zum Sender zu holen, aber ich dachte mir, es wäre an der Zeit.«

»Aus Houston fortzuziehen?«

»Ja, und wieder ein Mikrofon in die Hand zu nehmen. Das hatte ich vor neun Jahren aufgegeben, es gab … einen komplizierten Vorfall beim Sender, und danach habe ich ein paar Jahre lang als Psychologin praktiziert. Doch Eleanor schaffte es, mir klar zu machen, dass ich ins Radio gehöre, und ehrlich gesagt: Mir hat meine Sendung gefehlt; ich hatte das Gefühl, damit vielen Menschen geholfen zu haben.«

»Trotzdem haben Sie für eine lange Zeit aufgehört.«

»Vielleicht war es ein Fehler«, gab sie zu. »Ich habe mich durch eine böse Sache aus der Bahn werfen lassen. Aber dann habe ich beschlossen, es noch einmal zu versuchen. Ich brauchte eine Veränderung, und ich kannte jemanden, der bereit war, meine Praxis zu übernehmen, und bei dem meine Patienten in guten Händen sein würden.«

»War David Ross der gleichen Meinung?«, fragte Bentz und machte sich wieder Notizen. »Dass Sie ins Radio gehören?«

»Wohl kaum.« Sie sah noch deutlich vor sich, wie David damals die Lippen zusammengepresst hatte. Wie schockiert er gewesen war. Man hätte glauben können, er fürchte, sie würde ihn betrügen. »Es hat ihm ganz und gar nicht gepasst, aber ich hatte mich entschieden, und so bin ich im vergangenen Oktober hierher gezogen. Zu Weihnachten wollte er mir dann den Ring schenken, und danach haben wir uns immer seltener gesehen. Bis zu der Mexikoreise. Er hatte die Reise als Überraschung gebucht, und ich entschied mich mitzufliegen, einfach um meine Gefühle für ihn zu überprüfen.«

»Und?«

»Ich hatte mich nicht getäuscht. Ich liebte ihn einfach nicht.«

»Aber sein Bild steht noch auf Ihrem Schreibtisch.«

Sam seufzte. »Ja, das stimmt. Es ist ja nicht so, dass ich nichts für ihn übrig hätte. Ich finde nur, dass wir nicht zueinander passen.« Sie fing sich wieder und straffte die Schultern. »Ich bin der Meinung, wir müssen jetzt nicht mein gesamtes Liebesleben auseinander pflücken.«

»Es sei denn, David Ross ist der Anrufer.«

»Nie im Leben!«, rief sie aufgebracht. »Ich würde ja seine Stimme erkennen.«

Bentz ließ nicht locker. »Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Vor etwa einer Woche«, antwortete sie. Charon sprang auf ihren Schoß. »In Mexiko.«

»Auf dieser Überraschungsreise?«

Schwang da etwas wie Geringschätzigkeit in seinem Tonfall mit?

»Ja. Ich habe mich in Mazatlán mit ihm getroffen … Er glaubte, es würde ein romantisches Erlebnis für uns werden, aber wie gesagt: Ich hatte mich längst von ihm gelöst.« Sie las die Skepsis in seinen Augen. »Sie können mir ruhig glauben. Wenn ich mir vorher nicht ganz sicher war, so bin ich es jetzt.«

»Sie haben ihn anfangs gar nicht erwähnt.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Ich weiß. Aber er hätte die Nachricht ja gar nicht hinterlassen und auch den Brief nicht schicken können. Er ist hier, in New Orleans, abgestempelt, und David war in Mexiko. Und die Stimme auf dem Anrufbeantworter war definitiv nicht Davids. Seine würde ich unter Tausenden erkennen. Er ist nicht der Anrufer, Detective.«

Bentz verzog seitlich den Mund, als würde er nicht ein Wort von dem glauben, was sie sagte. »Ich bin hier, weil Sie Anzeige erstattet haben«, erklärte er langsam, als hätte er ein trotziges Kind vor sich. »Ich erwarte, dass Sie kooperieren.«

»Das tue ich«, versicherte sie und hörte selbst den aggressiven Unterton in ihrer Stimme. Der Mann drängte sie in die Defensive. Sie hatte das Gefühl, sich für ihr Tun rechtfertigen zu müssen, und das ärgerte sie.

»Aber Sie halten Informationen zurück«, warf er ihr vor und sah sie eindringlich an.

Der Blick bereitete ihr Unbehagen. »Ich will eben keinen Riesenskandal, verstehen Sie? Ich bin hier in der Gegend eine Art Berühmtheit, trotzdem habe ich mir eine gewisse Anonymität bewahrt, und das soll auch so bleiben.«

Darüber dachte er offensichtlich einen Augenblick lang nach, nickte dann, als hätte er verstanden, klappte endlich sein Notizbuch zu, schaltete den Kassettenrekorder aus und steckte beides wieder ein. »Ich schätze, das war erst einmal alles. Ich werde die Aufzeichnungen ihrer Gespräche mit diesem John überprüfen und melde mich wieder bei Ihnen.« Er stemmte sich vom Sofa hoch.

»Danke.«

»Sie sollten sich vielleicht etwas zurückziehen.«

Sie hätte beinahe laut gelacht. »Das könnte schwierig werden, Detective. Ich bin bekannt, und auch wenn die meisten Leute mich auf der Straße nicht auf Anhieb erkennen, gibt es doch immer welche, die es tun. Ich arbeite in zahlreichen Wohltätigkeitsverbänden mit. In Kürze veranstaltet der Sender ein großes Event für das Boucher Center. Ich werde natürlich dabei sein. Ich kann mich nun wirklich nicht irgendwo verkriechen.«

»Sie sollten sich gut überlegen, wie Sie sich zukünftig verhalten.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir wissen beide, dass ich mich nicht unsichtbar machen kann. Schnappen Sie den Kerl doch einfach.« Sie schaute ihn herausfordernd an.

»Das werden wir tun, aber in der Zwischenzeit«, er betrachtete den Kater, der behaglich auf ihrem Schoß lag und schnurrte, »sollten Sie das Kätzchen vielleicht gegen einen Rottweiler oder Dobermann eintauschen. Verstehen Sie, gegen ein großes, gefährliches Biest.«

»Charon ist ziemlich gefährlich«, parierte sie. Der Kater reckte sich und begann sich zu putzen, als wollte er ihre Worte Lügen strafen.

Die Andeutung eines Lächelns spielte um den Mund des mürrischen Detective. »Gut zu wissen«, sagte er. Sam schob Charon sanft zur Seite, um Bentz zur Tür zu geleiten. »Die Behörde könnte eine Menge Geld sparen, wenn sie Straßenkatzen anstelle von abgerichteten Hunden einsetzen würde. Ich werde eine entsprechende Eingabe an die Amtsleitung machen.«

»Freut mich, dass ich Ihnen einen Tipp geben konnte«, witzelte sie und öffnete die Haustür.

Auf der Veranda hielt er inne. Als er hinaus in die Dunkelheit trat, schwand seine gute Laune. »Vergessen Sie bitte nicht, Ihre Tür abzuschließen. Mag sein, dass der Anrufer nur ein Scherzkeks ist, aber offen gestanden bezweifle ich das. Sich telefonisch bei einer Talkshow im Radio zu melden, ist eine Sache, aber so etwas zu schicken …«, er hielt den Plastikbeutel mit ihrem verunstalteten Foto in die Höhe, »… das ist etwas anderes. Derjenige, der das getan hat, ist echt krank im Kopf, und er will Sie in Angst und Schrecken versetzen.«

»Ich weiß. Auf Wiedersehen«, sagte sie, schloss die Tür, schob den Riegel vor und war froh, dass sie die Schlösser hatte austauschen und die Alarmanlage überprüfen lassen. Das System war alt und anfällig, und die Sicherheitsfirma hatte versprochen, »in ein paar Wochen« eine neue zu installieren. In der Zwischenzeit musste sie sich mit diesem Dinosaurier behelfen.

Sie ließ alles, was in den letzten paar Tagen geschehen war, Revue passieren und versuchte, sich einzureden, dass derjenige, der sie terrorisierte, nicht die Absicht hatte, ihr tatsächlich etwas anzutun. Doch in Wahrheit litt sie Todesängste.