31. Kapitel
Du weißt selbst, dass ich keine Informationen über Patienten herausgeben darf, Samantha«, sagte Dania Erickson in diesem besserwisserischen Tonfall, an den sich Sam noch sehr gut aus der Zeit ihrer gemeinsamen Psychologieseminare an der Tulane-Universität erinnerte. Endlich hatte Sam ihre alte Rivalin erreicht. Endlich war die Frau Doktor, die im Krankenhaus Our Lady of Mercy in Kalifornien arbeitete, zu sprechen, wenn sie sich auch keineswegs über die Störung freute.
Pech, dachte Sam, hielt sich den Hörer des Telefons ans Ohr, das sie sich im Büro mit den anderen Moderatoren teilte, und blickte auf das Phantombild des Mörders, ein eindimensionales Porträt, das sie hinter dunklen Brillengläsern hervor anstarrte. Musik, eine Art weicher Jazz, rieselte aus den Lautsprechern, durch die offene Tür drang Stimmengesumm herein.
Dania hatte damals in Tulane zu allem etwas zu sagen gehabt, hatte immer versucht, sich bei den Dozenten lieb Kind zu machen, einschließlich Dr. Jeremy Leeds, der dann schließlich Sams Ehemann geworden war. Sam vermutete, dass ihre Heirat Dania schon immer geärgert hatte, und jetzt zeigte sich ihre ehemalige Kommilitonin unnachgiebig. Seit fast einer Woche spielten Sam und Dania nun per Telefon Verstecken, und endlich war die Verbindung zustande gekommen, was nicht hieß, dass sie Sam etwas einbrachte.
»Ich unterliege der Schweigepflicht.«
»Das ist mir klar, aber hier in New Orleans läuft ein Serienmörder frei herum. Die Polizei bringt ihn mit Annie Seger, Kents Schwester, in Verbindung. Er könnte ein Mörder sein, Dania.«
»Das ändert nichts an den Tatsachen, das weißt du selbst. Ja, ich habe Kent vor Jahren behandelt, nach dem Selbstmord seiner Schwester, aber abgesehen davon darf ich dir nichts sagen. Es würde mich meine Stelle kosten.«
»Hier geht es um das Leben von mehreren Frauen.«
»Tut mir leid, Samantha. Wirklich, ich kann dir nicht helfen.« Damit legte sie auf, und Sam stand verdattert da, den stummen Hörer in der Hand.
»Toll«, murmelte sie. Es war Donnerstagnachmittag, und in knapp einer halben Stunde sollte sie an einer außerordentlichen Personalversammlung teilnehmen. Alle Beschäftigten des Senders waren überreizt. Die Polizei hatte sämtliche Telefone angezapft, die Belegschaft war angehalten, kein Wort über die Verbindung zwischen Dr. Sams ›Mitternachtsbeichte‹ und dem Serienmörder fallen zu lassen, aber irgendwie war doch etwas durchgesickert. Als wäre sie Pandora und hätte das Chaos heraufbeschworen, gaben die Einwohner der Stadt ihr die Schuld daran, dass sich ein Mörder in den Straßen herumtrieb.
WSLJ wurde telefonisch regelrecht belagert. Die Presse verlangte Interviews. Hörer verlangten Informationen. Die Lichter der Telefonleitungen hörten keine Sekunde lang auf zu blinken.
George Hannah freute sich. Die Hörerschaft von ›Mitternachtsbeichte‹ hatte sich über Nacht, wie es schien, vervielfacht. Es war die Sendung, die man hören musste, fester Bestandteil der alltäglichen Unterhaltungen bei Gebäck und Café au lait im Café du Monde und des Smalltalks in den Bars an der Bourbon Street und in ihrer näheren Umgebung, Thema der Abendnachrichten und der Gespräche am Wasserspender in den verschiedenen Firmen. Taxifahrer, Fabrikarbeiter, Barkeeper, Bankbeamte, Studenten – alle interessierten sich plötzlich für die ›Mitternachtsbeichte‹. Samantha Leeds alias Dr. Sam war der neue Star der Unterhaltungsbranche – allerdings eher berüchtigt als berühmt. George Hannah war völlig aus dem Häuschen, und die Gerüchte, er würde den Sender für eine geradezu unverschämte Summe verkaufen, verbreiteten sich in Windeseile über die Aorta und die gewundenen Gänge des Rundfunkgebäudes.
Eleanor wurde schier verrückt vor Angst. Sie wollte die Sendung absetzen. Popularität war schön und gut, aber dieser Wahnsinn ging in ihren Augen eindeutig zu weit.
Melba konnte die Vielzahl der Anrufe unmöglich bewältigen.
Gator war mürrisch, im Gegensatz zu Ramblin’ Rob, der aus seiner Belustigung über die »ganze verflixte Sache« keinen Hehl machte. »Du hast eine verdammte Kuriositätenshow ins Leben gerufen, Sam, mein Mädchen«, hatte er zu Anfang der Woche gesagt, ihr auf den Rücken geklopft und so heftig gelacht, dass er einen Hustenanfall bekam, der sich anhörte, als wollten seine Lungen explodieren.
Tiny war unablässig auf den Beinen, und Melanie sah müde aus und beschwerte sich darüber, chronisch überarbeitet zu sein. Sie verlangte eine Gehaltserhöhung und einen größeren Anteil an der Sendung – noch besser, eine eigene Sendung.
Andere Radiosender der Stadt boten Sam Stellen an, sogar ein Agent aus Atlanta hatte sie angerufen und mit größeren Märkten gelockt und ihr vorgeschlagen, nach New York oder L.A. überzusiedeln.
Was, in Anbetracht der Gegebenheiten, vielleicht gar keine schlechte Idee war. Wenn sie zurück an die Westküste zog, würde sie in der Nähe ihres Vaters leben. Und tausende von Meilen von Ty entfernt. Die Vorstellung schmerzte. Sie hatte sich bis über beide Ohren in ihn verliebt, daran bestand kein Zweifel, und in den vergangenen paar Wochen war er zum festen Bestandteil ihres Lebens geworden – er und sein großer, schwerfälliger Hund. Sie hatten sich quasi bei ihr einquartiert. Sie redete sich nicht ein, dass er ebenso in sie verliebt war; nein, er hatte nur seine eigenen Interessen im Auge und büßte für seine vermeintliche Schuld, denn er glaubte nach wie vor, diese Mordlawine losgetreten zu haben.
Alles in allem war Sams Leben vergleichbar mit dem Dasein im Irrenhaus.
Und noch immer streifte ein Mörder durch die Straßen.
Ein Mörder, der nun seit fast einer Woche geschwiegen hatte.
Doch er hatte sich nicht endgültig zurückgezogen, dessen war Sam sicher. Er wartete ab, beobachtete, stets bereit, wieder zuzuschlagen. Sie spürte es, und jedes Mal, wenn sie den Hörer abhob, jedes Mal, wenn sie eine der blinkenden Tasten auf ihrer Konsole drückte, erinnerte sie sich daran.
Es war nur eine Frage der Zeit.
Sam hatte an der Trauerfeier für Leanne Jaquillard teilgenommen, einer kleinen Feier vorrangig mit den Mädchen vom Boucher Center. Leannes Mutter, Marletta, war natürlich ebenfalls in der winzigen, heißen Kapelle in Flussnähe zugegen gewesen, und als Sam ihr ihr Beileid hatte aussprechen wollen, hatte Marletta ihr die kalte Schulter gezeigt. Marletta war nicht so offen feindselig gewesen wie Estelle Faraday damals, doch die Botschaft war die gleiche: Marletta gab Sam die Schuld am Tod ihrer Tochter. In diesem Fall konnte Sam nicht widersprechen. Wenn Leanne sie nicht gekannt hätte, würde sie heute noch leben.
Die Polizei hatte nicht ausgeschlossen, dass der Mörder zum Begräbnis erscheinen würde, und hatte Undercover-Polizisten in die Kirche geschickt und verborgene Kameras installiert, die die kleine Trauergemeinde filmten.
John war jedoch nicht aufgetaucht.
Oder besser: Niemand hatte ihn gesehen.
Indessen verbrachte Sam ihre Tage mit dem Grübeln über ihren Aufzeichnungen, die Nächte dagegen in Tys Armen. Sie liebten sich, als wäre jede Nacht ihre letzte, und Sam erlaubte sich keinen Gedanken daran, wohin diese Beziehung führen sollte – wenn sie überhaupt irgendwohin führte. Sie stand unter einem schlechten Stern, war auf Lügen aufgebaut und auf dem gemeinsamen Bedürfnis, den Mörder zur Strecke zu bringen.
Wenn sie nicht gerade ihre Sendung vorbereitete und sich Themen überlegte, die, wie sie hoffte, John aus seinem Versteck lockten, arbeitete sie die Informationen durch, die Ty über seine Familie gesammelt hatte, las alles über Serienmörder und die Psychologie des Mordes, was ihr in die Finger kam, und versuchte dann, die Hinweise, die sie zu Johns Identität vorliegen hatte, sowie seine möglichen Motive auszuwerten. Was hatte es bloß mit der dunklen Sonnenbrille auf sich? Trug er sie immer? War sie Teil seiner Verkleidung? Sam hatte ihre eigene Theorie …
Sie wählte die Nummer des Polizeireviers und hinterließ eine Nachricht für Bentz. Noch bevor sie ihre E-Mails abgerufen hatte, meldete sich Bentz bei ihr.
»Hier spricht Rick Bentz. Sie haben mich angerufen?«, fragte er.
»Ja«, sagte Sam. »Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«
»Nur zu.«
»Seit ich dieses Foto von mir mit den ausgestochenen Augen erhalten habe, werde ich das Gefühl nicht los, dass mir jemand damit eine Botschaft übermitteln und mich nicht nur terrorisieren will. Es könnte sich um eine unterschwellige Information handeln; derjenige weiß vielleicht selbst nicht, dass er sie weitergibt.«
»Zum Beispiel?«
»Er will nicht, dass ich ihn sehe oder ihn erkenne … Die ausgestochenen Augen sind ein Symbol.« Sie griff nach dem Phantombild, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag. »Beide Augenzeugen sagen, dass der Kerl eine Sonnenbrille trug, obwohl es Nacht war, oder?«
»Ja.«
»Zuerst dachte ich, das wäre nur Teil seiner Verkleidung, aber vielleicht ist auch darin eine Botschaft enthalten – er erträgt es nicht zu sehen, was er getan hat, er will nicht Zeuge seiner eigenen Tat sein.«
Eine Pause entstand. Bentz überlegte.
»Und dann ruft er mich an und gibt all diese religiösen Anspielungen von sich, und einer meiner ersten Gedanken war, dass er sich vielleicht auf Miltons ›Das verlorene Paradies‹ beziehen könnte. Er nennt sich John, was alles Mögliche bedeuten kann, von John Milton bis zu Johannes dem Täufer; über diese Sache bin ich mir noch nicht im Klaren.« Sie fixierte das Phantombild. »Irgendwie glaube ich, dass er sich selbst als Luzifer sieht, dass er meint, aus dem Himmel oder dem Paradies gestoßen worden zu sein, und auch wenn er mir die Schuld gibt, vermute ich, dass er in Wirklichkeit sich selbst als den Schuldigen betrachtet.«
»Das ist also Ihre Theorie?«, fragte Bentz.
»Ein Teil meiner Theorie, ja. Ich habe schließlich einen Doktortitel in Psychologie«, sagte sie aufgebracht. »Ich habe promoviert. Ich bin keine Feld-Wald-und-Wiesen-Lebensberaterin.«
»Hey, ich sage ja gar nicht, dass Sie Unrecht haben. Ich muss darüber nachdenken. Und passen Sie inzwischen gut auf sich auf. Dieser Kerl ist noch nicht fertig.«
»George hätte absagen müssen.« Eleanor ließ den Blick über die Menge schweifen, die sich im Hinterhof des Hotels versammelt hatte. In den Palmen funkelten tausende von Lichtern, riesige Kübel waren mit duftenden Blumen gefüllt, und Mannequins in unterschiedlichen Kostümen schlenderten durch die Gänge, das Foyer und über den Hof. Kellner servierten Champagner und Horsd’œuvres auf großen Tabletts, die Musik einer Jazzband, die sich auf dem zweiten der drei Balkone aufgestellt hatte, hallte über die Menge hinweg.
Champagner floss aus einer Eisskulptur des Senderlogos, und George Hannah, elegant in seinem Smoking und mit seinem geübten Lächeln, war in seinem Element, er mischte sich unter die Leute, schüttelte Hände, machte Smalltalk und war, wie immer, auf der Suche nach Investoren für WSLJ.
»Er konnte nicht mehr absagen«, widersprach Sam. »Es war zu spät. Das hier ist seit Monaten geplant.«
»Dann hätte er es vernünftig organisieren sollen. Er hätte eine anständige Lokalität wählen können, hätte vielleicht sogar eine Plantage für die Nacht mieten sollen. Dieses Hotel fällt doch in sich zusammen.« Als Eleanor die Stuckdecken und terrassenförmig angelegten Zimmer mit den grünen Läden und den filigranen Ziergittern betrachtete, blitzten ihre dunklen Augen. Der Putz wies Risse auf, die Farbe löste sich.
»Es wird renoviert«, berichtigte Sam und hielt in den Menschenmassen nach Ty Ausschau. »Ich habe den ganzen Nachmittag über Bautrupps kommen und gehen sehen.«
»Dieses Hotel hätte schon vor fünfzig Jahren abgerissen werden sollen.«
»Es gehört zu New Orleans.« Sam kannte die Gründe für die Wahl dieses eher kleinen Hotels. Es hatte Charakter, es lag im Französischen Viertel, und es war billig. George hatte einen äußerst günstigen Tarif ausgehandelt. Und das war gut für das Boucher Center, das das überschüssige Geld bekommen würde. Ja, es hatte Komplikationen mit den Bautrupps gegeben, die die alten Räume restaurierten, doch die Belegschaft des Hotels hatte sich ein Bein ausgerissen, um die Massen zufrieden zu stellen, und die Arbeiter hatten schließlich die entsprechenden Bausegmente mit Flatterband abgesperrt.
Stimmengewirr und Musik erfüllten den Hof. Samantha gelang es, Ruhe zu bewahren, obwohl sie die verstohlenen Blicke einiger Gäste bemerkte. Ihr war klar, warum die Leute sie taxierten. Ihr Name war in den Zeitungen und den Lokalnachrichten aufgetaucht, und zwar im Zusammenhang mit einer Serie von Morden und einem Irren, der sie während ihrer Sendung mit Anrufen terrorisierte. Sie dachte an Leanne. Wie sehr sich das Mädchen auf diese Veranstaltung gefreut hatte. Und jetzt war sie tot. Sams Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Die Schuld lastete ihr noch immer schwer auf der Seele. Erneut hielt sie sich vor Augen, was sie alles versäumt hatte, und ballte die Hände zu Fäusten.
Woher hatte John gewusst, dass Leanne ihr Schützling gewesen war? Wer zum Teufel war er? Jemand, der ihr nahe stand? Jemand, den sie als Freund betrachtete? Durch einen Laubengang hindurch erblickte sie Gator in der Nähe der Bar. Er schüttete einen Drink nach dem anderen in sich hinein. Tiny, unbeholfen in einem zu kleinen Smoking, stand abseits von der Menge und rauchte nervös. Ramblin’ Rob umschmeichelte eine ortsansässige Fernsehmoderatorin, und Melanie, in Goldlamé und unverschämt hohen Hacken, beobachtete mit Adleraugen jede von George Hannahs Bewegungen.
Renee und Anisha, in Highheels und langen Kleidern, posierten neben den Direktoren des Boucher Center und erklärten interessierten Gästen strahlend den Ablauf des Programms.
Leanne müsste jetzt hier sein.
Sam versuchte, das Schuldgefühl zu ignorieren, das seit dem Tod des Mädchens ihr ständiger Begleiter war.
»Du musst mal abschalten«, ermahnte Eleanor sie, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. Auch sie betrachtete das Gedränge rund um den Stand des Boucher Center. »Ich weiß, was in dir vorgeht. Aber du konntest nichts dafür.«
»Ich denke, wenn ich früher reagiert hätte, wenn ich sie früher angerufen oder sonst irgendetwas anders gemacht hätte, könnte sie heute noch leben.«
»Mach dich nicht selbst fertig«, riet Eleanor ihr, die trotz ihres Make-ups, Schmucks und schimmernden schwarzen Kleides nervös und abgehetzt wirkte. Sie hatte auf der Anwesenheit von Polizeibeamten in Zivil bestanden, und Bentz hatte zugestimmt. Der Sicherheitsdienst des Hotels sollte sich unter die Gäste mischen, und trotzdem hatte Sam das entmutigende Gefühl, dass John unbehelligt hier hereinkommen würde. Das Phantombild in der Zeitung konnte ihn nicht abschrecken, im Gegenteil, überlegte sie in dem Versuch, seine Denkweise nachzuvollziehen. Die Tatsache, dass die Polizei eine gewisse Vorstellung von seinem Aussehen hatte, war mit Sicherheit eine Herausforderung für ihn. Sie entdeckte Bentz, der am Kragen seines weißen Hemdes zerrte und voller Unbehagen unter einer der Türen Wache stand. Am anderen Ende des Hofes lehnte Montoya an einer Säule und behielt die Menschenmasse im Auge.
»Versuch, dich zu amüsieren«, forderte Eleanor sie auf.
»Du auch.«
»Ich lächle, wann immer es nötig ist«, sagte Eleanor und bewies es auf der Stelle, als sich George Hannah näherte und ihr einige Honoratioren der Gemeinde vorstellte.
Sam rang sich ein Lächeln ab – obwohl sie zwei Personen entdeckte, denen sie lieber nicht begegnet wäre. Während ihr Exmann durch die Menge hindurchschritt und auf sie zukam, hielt Trish LaBelle an der Bar Hof.
»Samantha!«, rief Jeremy, und als er ihr auf vertraute Weise einen Kuss auf die Wange hauchen wollte, biss sie die Zähne zusammen.
»Lass das«, warnte sie ihn.
»Warum?«
»Lass es einfach.« Sie sah Ärger in seinen Augen aufblitzen und noch etwas anderes, etwas Dunkleres. »Es ist mir unangenehm.« Wo zum Teufel steckte Ty?
»Nicht mal einen Kuss auf die Wange darf ich dir geben? Nach allem, was dir zugestoßen ist? Du lieber Himmel, Sam, ich hätte gedacht, du wärst froh um jeden Freund, den du hast.«
»Irgendwo muss ich die Grenze ziehen.«
»Und die ziehst du bei deinen Exmännern?«
»Ich habe nur einen«, erinnerte sie ihn spitz.
Er nahm ein Glas Champagner von einem Tablett. »Bisher.«
»Das wird so bleiben.«
»Weißt du, Sam, meiner professionellen Einschätzung nach weist diese Verbitterung darauf hin, dass du noch immer nicht über mich hinweg bist.«
»Hör auf, Jeremy, das ist ein alter Hut. Und das wissen wir beide. Also, was willst du? Hast du nicht eben irgendwas in der Richtung gesagt, dass mir etwas passiert ist? Was meinst du?«
Die Band, zu der sich jetzt eine Sängerin mit verrauchter Stimme gesellt hatte, stimmte eine langsame Version von ›Fever‹ an.
»Du hältst dir einen Stalker. Einen, der womöglich ein Serienmörder ist. Darüber wurde in den Zeitungen und in den Nachrichten berichtet. Was glaubst du wohl, warum die Veranstaltung heute Abend so viel Zulauf hat?«
Plötzlich war ihr übel. Vielleicht, weil ihr Ex ihr zu nahe war, vielleicht aber auch, weil sie den gleichen Verdacht hatte wie er. Die Menschen waren nicht gekommen, um die Benefizveranstaltung zu unterstützen, sondern um sie anzugaffen.
Jeremy nahm einen Schluck aus seinem Glas und winkte jemandem im Gewoge der Gäste zu. »Immerhin hast du erreicht, was du schon immer wolltest«, sagte er. »Du bist berühmt, oder vielmehr berüchtigt, und das ist nicht nur gut für dich, sondern auch für den Sender.«
»Gut? Mehrere Frauen sind gestorben, Jeremy! Ich begreife nicht, wie jemand dieser Tatsache etwas Gutes abgewinnen kann.« Damit wandte sie sich um und schlüpfte durch eine Gruppe von Frauen hindurch, die sich gerade über Lokalpolitik unterhielten. Samantha hörte gar nicht zu, sie wollte nur fort von Jeremy.
»Ist alles in Ordnung?«, holte Melanies Stimme sie ein. Sie drehte sich um und stand ihrer Assistentin gegenüber, die sie verdutzt anstarrte. »Du siehst aus, als wäre dir ein Geist begegnet.«
»Nur der Geist meiner verflossenen Ehe, und glaub mir, er war sehr hässlich«, erwiderte Sam.
»Und wo steckt der neue Mann in deinem Leben – Ty?«, wollte Melanie wissen.
»Er ist hoffentlich auf dem Weg hierher.« Aus den Augenwinkeln erhaschte Sam einen flüchtigen Blick auf George Hannah, der in ein lebhaftes Gespräch mit Trish LaBelle vertieft war. Melanie beobachtete die Szene ebenfalls, und ihre Züge verhärteten sich. »Und wo ist dein neuer Freund?«
»Hat zu tun«, sagte Melanie mit einem Seufzer. »Wie üblich.«
»Ich würde ihn gern kennen lernen.«
»Wirst du … irgendwann«, entgegnete sie vage.
Im selben Augenblick tauchte Ty unter dem Torbogen des Eingangs auf, und Sam spürte, wie sich ihr Puls ein wenig beschleunigte. Er entdeckte sie und hielt direkt auf sie zu. Verschwunden waren die lässigen Jeans und T-Shirts; stattdessen trug er einen schwarzen Smoking.
»Zeit zu verschwinden«, sagte Melanie mit einer Spur von Neid. »Das Alphamännchen kommt.« Sie schlüpfte hinter einen riesigen Kübel voller duftender blühender Pflanzen und zwängte sich an einer Schaufensterpuppe im Vorkriegsfestgewand vorbei.
Ty trat an Samanthas Seite. »Entschuldige die Verspätung! Ich wurde aufgehalten. Navarrone. Seine Zeiteinteilung lässt zu wünschen übrig, und außerdem herrschten grauenhafte Zustände auf den Straßen.« Er nahm ein Weinglas vom Tablett eines schlanken, gelangweilt wirkenden Kellners.
»Ich hab’s geschafft, hier ohne dich zu überleben«, scherzte sie.
»Tatsächlich? Hmm.« Er sah ihr kurz und fest in die Augen. »Und ich hatte mir eingebildet, du würdest vor Sehnsucht nach mir vergehen.« Langsam breitete sich ein äußerst erotisches Lächeln auf seinem Gesicht aus.
»Träum weiter.«
Die Band stimmte ein neues Stück an, doch es verklang so rasch, als hätten die Lautsprecher den Geist aufgegeben. Nur wenige Leute bemerkten es im Stimmengewirr, doch Ty hob den Blick zum Balkon. »Technische Probleme«, diagnostizierte er und beobachtete den Bassisten, der sich am Verstärker zu schaffen machte.
»Kann nicht sein. Die Hälfte der Belegschaft kommt mit dieser Art von Ausrüstung prima klar. Rob, George, Melanie, Tiny, sogar ich bin mit den Grundlagen vertraut.«
Ein paar Gäste registrierten offenbar, dass die Musik ausgesetzt hatte, und Eleanor strebte auf Tiny zu und deutete hinauf zum ersten Stock. Tiny lief zur Treppe, aber schon lenkte ein Kreischen der Mikrofone, eine Art Rückkoppelung, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich.
»Was zum Teufel …?«
Die Musik setzte wieder ein, allerdings spielte nicht mehr die Band, nein, es handelte sich um die ersten Takte von »A Hard Day’s Night«.
»O nein«, entfuhr es Sam, und ihr Herz blieb eine Sekunde lang stehen.
Die Musik verhallte rasch wieder, und dann erfüllte Sams Stimme den gedrängt vollen Hof. »Guten Abend, New Orleans, und willkommen zur ›Mitternachtsbeichte‹ …«
»Habt ihr das aufgezeichnet?«, wollte Ty wissen.
»Nein.« Sam sah, wie George Hannah mitten im Satz aufhörte zu reden und wie Eleanor Tiny nacheilte.
Unvermittelt wurde es still im Hof. »Heute Abend wollen wir über –« Und dann erstarb Sams Stimme.
Sam spürte, wie sich zweihundert Augenpaare auf sie richteten.
»… Opfer und … Vergeltung reden«, erscholl es aus den Lautsprechern.
Er hat ein paar von meinen Sendungen aufgezeichnet, dachte Sam. Ihr Herz raste, ihr Blick schweifte über die Menge. Er war hier. Sie wusste es. Aber wo? Sie suchte den Eingang und die Balkone ab … Wo steckte er bloß?
Tiny stieg zum Balkon hinauf, und Eleanor hielt nach Sam Ausschau. Sie zwängte sich durch die Massen und sah Sam böse an. »Hast du davon gewusst?«
»Natürlich nicht.«
»Schaffen Sie sie raus hier«, befahl sie Ty.
»Hier ist ›Mitternachtsbeichte‹, und ich fordere euch auf anzurufen … Was bedrückt dich, New Orleans? Lass es mich wissen …«
»Was zum Teufel ist hier los?« George Hannah schaute Eleanor an. »Hat sich irgendwer einen schlechten Witz erlaubt?«
»Sag du’s mir«, fauchte Eleanor.
Bentz, der in sein Funkgerät sprach, gesellte sich zu ihnen. »Stellen Sie fest, von wo aus er sendet«, sagte er, schaltete das Funkgerät aus und bedachte Eleanor mit einem wütenden Blick. »Wir müssen das Hotel evakuieren – ich habe Verstärkung angefordert, und wir bringen die Leute auf den Parkplatz auf der anderen Straßenseite.«
George trat vor. »Sie können unsere Gäste nicht wie Vieh behandeln!«, blaffte er den Detective wütend an.
»Habt ihr euch schon einmal geopfert?«, hallte es über den Hof.
»Und ob ich das kann.« Bentz schnippte mit den Fingern in Richtung eines uniformierten Polizisten. »Ich brauche Namen und Adresse von allen, die letzte Woche das Gebäude betreten haben. Ich rede von Bautrupps, Hotelangestellten, Gästen, Lieferanten, von allen. Und jetzt los.«
Schon drängten die Gäste den Türen zu.
Bentz’ Funkgerät knisterte; er schaltete es ein. »Okay, ich bin da.« Nach einer Weile schaltete er es wieder aus und erklärte: »Sieht so aus, als hätten wir die Quelle gefunden.« Er ging in Richtung Treppenhaus, und Sam folgte ihm dicht auf den Fersen. Mit einem Blick über die Schulter sagte er: »Das ist Sache der Polizei. Bleiben Sie zurück.«
»Ausgeschlossen. Hier geht es um mich.«
Bentz fuhr herum. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, sein Gesicht glühte. »Tun Sie verdammt noch mal, was ich sage. Solange ich nicht weiß, dass dieser Schauplatz sicher ist, und bevor die Spurensicherung Gelegenheit hatte, alles zu überprüfen, rühren Sie sich nicht vom Fleck.« Er schaute Ty eindringlich an. »Sorgen Sie dafür, dass sie sich daran hält.«
Er wandte sich wieder um, und Sam blieb sprachlos zurück. Idiotisches Weib. Begriff sie denn nicht, wie gefährlich das war? Bentz stieg die Treppe zum Kellergeschoss hinab, wo mehrere Polizisten Wache standen. »Das ist es?«
»Scheint so«, sagte einer der Beamten in Zivil. »Ein Lagerraum für Öl, ist wegen der Bauarbeiten geräumt worden.«
Doch an diesem Abend war der Raum nicht leer. Ein Tonbandgerät stand auf dem Boden, dessen Kabel in den Wänden verschwanden, und auf einem Klappstuhl saß eine Schaufensterpuppe, völlig nackt, mit einer Karnevalsmaske vorm Gesicht, roter Perücke auf dem Kopf und einem Rosenkranz um den Hals.
Bentz trat in den muffigen Raum. Er streifte Handschuhe über und nahm die Perücke und die Maske an sich. »Allmächtiger.« Die Augen der Schaufensterpuppe waren geschwärzt und ausgestochen und erinnerten an die verunstalteten Geldscheine.
Bentz war überzeugt, dass Samantha Leeds das nächste Opfer sein würde.