11. Kapitel
Melanie machte ihr Handy aus und schäumte vor Wut. Sie lenkte ihren Wagen in eine Parkbucht auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums. Eine schlimme Woche lag hinter ihr. Eine sehr schlimme. Und es wird auch nicht besser, dachte sie, hieb auf das Armaturenbrett und wünschte, die verdammte Klimaanlage ihres Kleinwagens würde sich endlich einmal einschalten. Das tat sie nicht, und die Temperatur im Auto bewegte sich ihrer Einschätzung nach irgendwo um neunzig Grad Celsius.
Ihr T-Shirt war zerknittert und klebte am Körper, und sie schwitzte zwischen den Beinen. Sie stieg aus und versuchte, nicht daran zu denken, dass Trish LaBelle ihre Anrufe offenbar ignorierte. Toll. Bei WSLJ wurde bereits gemunkelt, dass »Mitternachtsbeichte« erweitert werden sollte, aber kein Wort darüber, dass Melanie mit einer Beförderung rechnen konnte, die ihr schließlich zustand.
Samanthas Job war ein Kinderspiel. Melanie konnte ihn mit geschlossenen Augen bewältigen. Hatte sie das nicht unter Beweis gestellt, als Samantha in Mexiko war? Gut, die Hörerquote war um ein Geringes gesunken. Das war zu erwarten gewesen. Hätte sie genügend Zeit, würde sie ein neues, flotteres Publikum heranziehen, dessen war Melanie sicher. Sie war jung und am Puls der Zeit. Aber sie brauchte eine Chance, um sich zu beweisen.
Sie betrat den Glutofen einer chemischen Reinigung und nannte einer zierlichen Blondine mit zentimeterlangem dunklen Haaransatz, schlechten Zähnen und einem festgefrorenen Grinsen ihren Namen.
Wenn WSLJ ihr partout keinen Job hinterm Mikrofon geben wollte, würde sie es eben bei der Konkurrenz versuchen, bei WNAB, dem Sender, in dem Trish LaBelle arbeitete. Trish hasste Dr. Sam. Wenn sich ihr die Gelegenheit böte, sich einmal ausgiebig mit Sams Assistentin zu unterhalten, würde Trish mit beiden Händen zugreifen und ihr sogar einen Job anbieten, davon war Melanie überzeugt.
Bislang hatte Trish jedoch nicht auf ihre Anrufe reagiert.
Noch nicht.
Melanie dachte nicht daran aufzugeben. Sie war eine Kämpfernatur; nichts war ihr in den Schoß gefallen, sie hatte sich alles hart erarbeiten müssen, und wenn es sein musste, würde sie verdammt noch mal ihr Glück erzwingen.
»Bitte schön.« Das Mädchen hängte Melanies in Plastikfolie gehüllte Kleider an einen Haken bei der Kasse, und Melanie reichte ihr ihre Kreditkarte. »Tut mir leid, das Gerät ist kaputt. Sie können bar oder mit Scheck bezahlen.«
»Mein Scheckheft liegt zu Hause …«, sagte Melanie. Und in ihrer Brieftasche fand sie lediglich zwei verknitterte Eindollarscheine. Das war zu wenig. Dieser Tag ging immer weiter den Bach runter. Melanie fühlte sich aufgeschwemmt und hatte Bauchschmerzen; jeden Augenblick musste ihre Regel einsetzen. Im Job trat sie auf der Stelle, ihren wenigen Angehörigen war sie scheißegal, und ihren Freund konnte sie wieder einmal nicht erreichen.
Ja, es ging rapide bergab mit ihr.
»Eine Straße weiter ist ein Geldautomat.« Die Tussi, die dringend eine Flasche Clearasil benötigte, ließ eine Kaugummiblase platzen und wartete geduldig und gelangweilt.
Melanie kochte innerlich. »Jetzt muss ich es ausbaden, dass Ihre dämliche Maschine nicht funktioniert.«
Das Mädchen zuckte mit den knochigen Schultern und bedachte Melanie mit einem unbeteiligten Blick, der deutlich sagte: Erzähl das deinem Frisör. Einen Moment lang erwog Melanie, einfach ihre Sachen zu schnappen und den Laden zu verlassen. Schließlich gehörten Rock, Bluse und Jacke ja ihr.
Als hätte die Kassiererin Melanies Gedanken gelesen, nahm sie die Kleidungsstücke vom Haken und hängte sie an eine Stange hinter dem Tresen.
»Na schön.« Melanie klappte ihre Brieftasche zu. »Ich komme später noch mal wieder.« Aber nicht heute. Sie war mit den Nerven am Ende. Sie stapfte hinaus in den grellen Sonnenschein, setzte ihre Sonnenbrille auf und stieg in ihren glühenden Kleinwagen. Das Lenkrad war so heiß, dass sie es kaum anfassen konnte. Sie drehte den Zündschlüssel, legte den Rückwärtsgang ein und gab bei plärrender Radiomusik Gas. Im Rückspiegel sah sie einen riesigen weißen Cadillac, der zur selben Zeit aus seiner Parkbucht stieß. Sie trat mit aller Macht auf die Bremse, und der Straßenkreuzer glitt vorbei. Langsam tuckerte der ältere Herr, der nicht ein einziges Mal in ihre Richtung schaute, vom Parkplatz.
»Idiot«, knurrte Melanie. »Alter Knacker.«
Sie brauste aus der Parkbucht, schaltete in den ersten Gang und bog in die Straße ein. Vor der nächsten Ampel überholte sie den älteren Mann und konnte nur schwer dem Wunsch widerstehen, ihm den dicken Finger zu zeigen. Er konnte ja eigentlich nichts dafür, dass er alt war und nicht mehr so schnell reagierte.
Sie fuhr auf die Autobahn, beschleunigte und öffnete das Schiebedach sowie sämtliche Fenster. Der Wind zerrte an ihrem Haar, und sie fühlte sich gleich etwas besser. Sie würde sich doch nicht von einer unverschämten, unterbezahlten Kassiererin die Laune verderben lassen. Ihre Kleider konnte sie am nächsten Tag abholen. In der Zwischenzeit würde sie sich auf Plan B konzentrieren.
Sie würde befördert werden und hinter dem Mikrofon sitzen, ganz gleich, wie. Sie gestattete es sich, für eine Weile ihren Tagträumen nachzuhängen, überlegte, wie weit sie kommen würde. Vielleicht sogar irgendwann bis ins Fernsehen. Sie sah schließlich gut aus. Ein träges Lächeln umspielte ihre Lippen, und während sie mit Tempo hundertzwanzig über die Autobahn raste, angelte sie nach ihrem Handy. Sie würde versuchen, ihren Freund zu erwischen, und sich mit ihm treffen.
Sie musste einfach Dampf ablassen.
Und er wusste genau, was sie brauchte.
Sams Handflächen waren schweißnass, und ihr Herz raste, doch sie schimpfte sich einen Angsthasen und betrat ihre Kabine.
Nichts war passiert.
Seit fast einer Woche.
Obwohl jede Nacht, wenn sie ihre Sendung begann, ihre Nerven zum Zerreißen gespannt gewesen waren, hatte sich John still verhalten. Hatte er das Spiel aufgegeben? Fing der Spaß an, ihn zu langweilen – wenn es denn nur ein Spaß gewesen war? Hatte er die Stadt verlassen?
Oder wartete er?
Auf den richtigen Augenblick.
Hör auf damit, Sam, das führt doch zu nichts! Sei froh, dass er nicht mehr angerufen hat.
Trotzdem war sie nervös, wie alle anderen beim Sender in verschiedenen Abstufungen ebenfalls. Gator und Rob zogen sie mit ihrem »Freund« auf, Eleanor köchelte vor sich hin, Melanie fand die Sache aufregend, und George Hannah hoffte, dass die Hörerzahlen weiter stiegen.
Sie waren nicht weiter gestiegen. Ohne Johns Anrufe sanken sie wieder auf den üblichen Stand, der, wie sich Sam ärgerlich sagte, ja wohl gut genug war. George, seine stillen Teilhaber und sogar Eleanor waren stets zufrieden gewesen.
Aber jetzt nicht mehr.
Eleanor hatte sie beschwichtigt: »Mach dir deswegen keine Gedanken, Schätzchen. Hauptsache, der Perverse ist von der Bildfläche verschwunden. Was George betrifft, so soll er sich etwas Kluges einfallen lassen, um ein größeres Publikum anzulocken. Wir wollen nur hoffen, dass sich dieser John nie wieder meldet.«
Sam hatte ihr innerlich zugestimmt, und doch wünschte sich ein Teil von ihr, noch einmal mit ihm zu reden, und sei es nur, um herauszufinden, was ihn umtrieb. Warum er sie anrief. Wer er war. Vom Standpunkt der Psychologin aus betrachtet war er interessant. Vom Standpunkt einer Frau aus jedoch jagte er ihr ganz schön Angst ein.
Sie schloss die Kabinentür hinter sich. Nachdem sie sich gesetzt und den Kopfhörer über die Ohren gestülpt hatte, stellte sie die Kontrolllampen ein, prüfte den Computerbildschirm und warf einen Blick durch die Scheibe in die Nebenkabine. Melanie saß an ihrem Schreibtisch, machte sich an Tasten und Knöpfen zu schaffen und hob den Daumen in Sams Richtung, um anzuzeigen, dass sie bereit war, die Anrufe dieser Nacht zu filtern. Tiny war bei ihr, sank gerade auf seinen Stuhl und sagte etwas zu ihr, das Sam nicht hören konnte. Sie lachten, wirkten entspannt, und Tiny riss eine Coladose auf.
Während der letzten paar Nächte hatte Sam von Sünde, Strafe und Vergebung zurück zum Thema Beziehungen gelenkt, was natürlich die Grundlage der Sendung überhaupt war. Alles normalisierte sich. Alles lief fast wieder so wie in der Zeit vor Johns Anrufen. Warum bloß hatte die Hochspannung, die sie Nacht für Nacht spürte, sobald sie ihren Platz in dieser Kabine einnahm, nicht nachgelassen, sondern sich sogar noch gesteigert?
Melanie gab ihr durchs Fenster ein Zeichen, und die Erkennungsmelodie erfüllte die Kabine. John Lennons Stimme, die »It’s Been A Hard Day’s Night« sang, erscholl aus den Lautsprechern und verklang dann leise.
Sam beugte sich über das Mikrofon. »Guten Abend, New Orleans, und herzlich willkommen. Hier ist Dr. Sam mit ›Mitternachtsbeichte‹ auf WSLJ, und ich möchte gern hören, was ihr denkt …« Sie begann zu reden, sich zu entspannen. Am Mikrofon fühlte sie sich heimisch. »Vor ein paar Tagen habe ich mit meinem Dad telefoniert, und obwohl ich über dreißig bin, glaubt er, er könne mir immer noch sagen, was ich zu tun und zu lassen habe«, erzählte sie, um mit dem Publikum warm zu werden, in der Hoffnung, dass jemand ähnliche Erfahrungen gemacht hatte und anrief. »Er lebt an der Westküste, und allmählich habe ich das Gefühl, ich sollte jetzt, da er in die Jahre kommt, in seiner Nähe sein.« Sie sprach noch eine Weile lang von Eltern-Kind-Beziehungen, und dann fingen die Kontrolllämpchen der Leitungen an zu blinken.
Der erste Anrufer legte wieder auf, der zweite war eine Frau, deren Mutter an den Folgen eines Schlaganfalls litt; sie fühlte sich zerrissen zwischen ihrem Job, ihren Kindern, ihrem Mann und dem Wissen, dass ihre Mutter sie brauchte. Der dritte Anruf stammte von einem aufsässigen Mädchen, das sich von seinen Eltern nichts vorschreiben lassen wollte. Angeblich verstanden sie sie einfach nicht.
Daraufhin erfolgte Rückmeldung von Erwachsenen und Jugendlichen, die allesamt der Meinung waren, die Anruferin sollte auf ihre Eltern hören.
Sam wurde noch ruhiger und nahm einen Schluck aus ihrer halb leeren Kaffeetasse. Die Debatte ging weiter, und schließlich rief auf Leitung Nummer drei jemand an. Sam nahm das Gespräch entgegen. »Hi«, sagte sie, »hier ist Dr. Sam, mit wem spreche ich?«
»Annie«, flüsterte eine zaghafte, hohe Stimme. Eine Stimme, die Sam vage bekannt vorkam. Doch das zu der Stimme gehörige Gesicht konnte sie sich nicht vorstellen. Wahrscheinlich rief das Mädchen regelmäßig in der Sendung an.
»Hallo, Annie, worüber möchtest du heute Nacht reden?«
»Erinnern Sie sich nicht an mich?«, fragte das Mädchen.
Sam spürte wie ein Warnsignal, dass sich ihre Nackenhaare sträubten. Annie?
»Tut mir leid. Vielleicht kannst du mir einen Hinweis –«
»Ich habe Sie schon einmal angerufen.«
»Ach ja? Wann denn?«, erkundigte sich Sam, doch die leicht heisere Stimme hörte nicht auf zu reden, hielt lediglich inne, um Luft zu holen, und flüsterte weiter ins Studio hinein.
»Donnerstag ist mein Geburtstag. Ich würde dann fünfundzwanzig Jahre alt …«
»Würde?«, wiederholte Samantha, und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
»… Sie erinnern sich bestimmt. Ich habe Sie vor neun Jahren angerufen, und Sie haben mir gesagt, ich soll verschwinden. Sie haben nicht zugehört, und …«
»O Gott«, entfuhr es Sam, und ihre Augen weiteten sich. Ihr Herz setzte unter dem grauenhaften Eindruck eines Déjà-vu-Erlebnisses einen Schlag lang aus. Annie? Annie Seger? Das konnte nicht sein. In ihrem Kopf drehte sich alles, katapultierte sie zurück in eine Zeit, die sie hatte vergessen wollen.
»Sie müssen mir helfen. Sie sind doch Doktorin der Psychologie, oder? Bitte, Sie sind meine einzige Hoffnung«, hatte Annie vor all diesen Jahren gefleht. »Bitte helfen Sie mir. Bitte!« Schuldgefühle schnürten Sam nun die Kehle zu. Herrgott, warum passierte das ein zweites Mal? »Wer spricht dort?«, sprach Sam gepresst ins Mikrofon. Aus den Augenwinkeln sah sie Melanie in der Nebenkabine, die den Kopf schüttelte, die geöffneten Hände ratlos erhoben, als wäre es erneut einem Anrufer gelungen, sich an ihr vorbeizumogeln. Tiny schaute wie gebannt durch die Scheibe, die Augen auf Sam geheftet, die Colabüchse in seiner großen Hand war vergessen.
»… und Sie haben mir nicht geholfen«, klagte die Flüsterstimme, ohne Sams Frage zu beachten. »Was dann passierte, Dr. Sam, daran werden Sie sich doch wohl erinnern, oder?«
Sams Kopf dröhnte, ihre Hände waren schweißnass. »Ich habe dich nach deinem Namen gefragt, Annie. Nach deinem vollständigen Namen.«
Klick. Die Leitung war tot. Sam saß da wie erstarrt.
Annie Seger.
Nein, das war unmöglich! Ihr Magen krampfte sich zusammen.
Es war so lange her, und doch brach jetzt, da sie wie damals in ihrer Kabine saß, alles wie eine Flutwelle über sie herein, überrollte ihren Verstand und ließ sie taub und kalt zurück. Das Mädchen war gestorben. Ihretwegen. Weil sie nicht hatte helfen können. O Gott, bitte nicht noch einmal!
»Samantha! Samantha!« Melanies Stimme drang in ihr Bewusstsein vor, aber trotzdem konnte sie sich kaum rühren. »Herrgott noch mal, reiß dich zusammen!« Sam spürte an ihren Armen Melanies Hände, die sie aus ihrem Stuhl rissen, sie vom Schreibtisch und vom Mikrofon wegschubsten und zu Tiny schoben. Immer noch unter Schock stolperte Sam und spürte einen heftigen Schmerz im Knöchel. Ruckartig kam sie zu sich, realisierte, dass sie in New Orleans war, auf Sendung. »Ist dir nicht klar, dass deine Sendung ins Leere läuft? Jetzt reiß dich zusammen«, wiederholte Melanie, stülpte sich den Kopfhörer über die Ohren und griff nach dem Mikrofon. »Schaff sie hier raus«, befahl sie Tiny.
»Moment mal. Ich habe alles im Griff.« Sam ließ sich nicht vertreiben.
»Das habe ich gemerkt!« Melanie sah sie böse an und scheuchte sie hinaus in den Flur. Tiny zog Sam aus der Kabine, und Melanie beugte sich über das Mikrofon, schaltete es ein, und ihre Stimme wurde weich. »Bitte entschuldigt die Unterbrechung; wir bei WSLJ standen eben vor einer kleinen technischen Panne. Danke für eure Geduld. ›Mitternachtsbeichte‹ mit Dr. Samantha Leeds wird in wenigen Minuten fortgesetzt. Nun zunächst das Wetter.« Wie eine Expertin drückte Melanie die Taste für die automatische Aufzeichnung, die den Wetterbericht und ein paar Werbespots vom Band abspielte.
»Was war da drinnen los?«, fragte Tiny. Er bemerkte plötzlich, dass er Sam am Oberarm festhielt, ließ sie los und wich einen Schritt zurück.
Die Stimmung im Flur war gespenstisch; er wirkte dunkler als sonst, und der Glaskasten, in dem die alten Platten gelagert wurden, strahlte einen merkwürdigen, unwirklichen Schimmer ab. Das war natürlich Unsinn. Ihre Nerven spielten Sam einen Streich. Der Flur und das Plattenlager hatten sich selbstverständlich kein bisschen verändert.
Sam atmete ein paar Mal tief durch und rief sich zur Ordnung. Es durfte nicht noch einmal geschehen, dass ein makabrer Scherz sie dermaßen erschütterte.
»Wer war das Mädchen am Telefon?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Sam und lehnte sich an die Wand. Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn und straffte den Rücken. Denk scharf nach, Sam. Und lass dich nicht von irgendeiner perversen Anruferin aus der Ruhe bringen. »Ich – ich weiß nicht, wer das war. Kann mir nicht vorstellen, wer auf solche Ideen kommt. Aber eins ist klar: Die Anruferin wollte, dass ich sie für Annie Seger halte.« O Gott, das konnte unmöglich Annie gewesen sein! Das Mädchen war seit neun Jahren tot. Tot, weil Sam die Situation nicht richtig erfasst, die Hilferufe des Mädchens nicht ernst genug genommen hatte. Sams Kopf dröhnte, und der Kaffee, den sie zuvor getrunken hatte, schien ihr im Magen zu gerinnen.
Lass dich nicht aus der Ruhe bringen, Sam!
»Sie hat gesagt, sie wäre Annie, und da bist du ausgeflippt«, hielt Tiny ihr vor. »Es machte den Anschein, als würdest du sie kennen.«
»Ich weiß … aber ich kenne … das heißt, ich kannte … Das alles ist so unglaublich!«
»Was denn?« Er streckte wieder die Hand nach ihr aus, überlegte es sich jedoch anders und schob die Hände tief in die Taschen seiner übergroßen Jeans.
»Annie Seger hat vor langer Zeit, als ich noch in Houston arbeitete, in meiner Sendung angerufen.« Ihr kam es vor, als wäre es erst gestern gewesen. Sam erinnerte sich, wie sie die Taste gedrückt, den Anruf angenommen und zugehört hatte, wie das junge Mädchen zögernd erklärte, sie sei schwanger und habe furchtbare Angst. »Annie rief mehrere Abende hintereinander an und bat mich um Rat.« Sam wand sich innerlich bei dem Gedanken daran. Zuerst hatte Annie verschüchtert gewirkt, doch ganz gleich, welchen Ratschlag Sam ihr gab, sie wies ihn zurück, behauptete, sie habe niemanden, mit dem sie reden, niemanden, dem sie sich anvertrauen könne, weder ihren Eltern noch dem Pastor geschweige denn dem Vater des Kindes. »Ich habe versucht, ihr zu helfen, doch es endete damit, dass sie Selbstmord beging.« Sam strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah den blassen Schimmer ihres Spiegelbilds im Fenster der Kabine. Auf der anderen Seite der Scheibe saß Melanie an ihrem Pult, sprach ins Mikrofon, moderierte die Sendung. Sam erschien es vollkommen unwirklich, spätnachts hier im Flur zu stehen und sich an ein Ereignis zu erinnern, das zu verdrängen sie sich so sehr bemüht hatte.
»Du glaubst, es war deine Schuld, dass sie sich umgebracht hat?«, fragte Tiny.
»Annies Familie gab mir die Schuld.«
»Das ist hart.«
»Sehr hart.« Sam rieb sich die Arme und rang noch immer um Fassung. Sie musste nun ihre Pflicht erfüllen, ihre Arbeit beenden. Sie beobachtete, wie Melanie den Kopfhörer abnahm und mit ihrem Stuhl zurückrollte. Sekunden später kam sie aus der Kabine. »Dir bleiben sechzig Sekunden, um wieder auf Sendung zu gehen«, sagte sie zu Sam. »Geht’s wieder?«
»Nein«, gab Sam zu. Lieber Himmel, es wird nie wieder gehen. Sie schickte sich an, die Kabine zu betreten. »Aber ich schaff das schon.«
»Eleanor ist auf Leitung zwei. Sie will mit dir reden.«
»Ich habe keine Zeit.«
»Sie ist ziemlich wütend«, verkündete Melanie.
»Kann ich mir vorstellen. Sag ihr, ich stehe ihr nachher zur Verfügung.« Sam konnte sich jetzt unmöglich mit der Programmdirektorin auseinander setzen; sie musste ihre Nerven für den Rest der Sendung schonen.
»Was hat es mit dem Mädchen auf sich, das da angerufen hat?«, fragte Melanie, als sich Sam setzte und automatisch die Kontrollmechanismen prüfte.
»Verrate du’s mir«, fuhr Sam sie an. »Du sollst doch die Anrufe filtern.«
»Das habe ich getan! Und ich habe ihre Anfrage auf Band. Da hat sie auch nicht mit dieser blöden Falsettstimme geredet, sie hat nur gesagt, sie habe ein Problem mit ihrer Schwiegermutter und wolle deinen Rat.« Melanie sah ihre Vorgesetzte finster an. »Also, nimmst du dich jetzt zusammen und gehst wieder auf Sendung, oder was? Sonst übernehme ich das.« Ihre Stimme wurde ein wenig sanfter, und ihre aggressive Rechtfertigungshaltung ließ nach. »Ich kann das! Ist für mich ein Kinderspiel. Tiny könnte die Anrufe filtern. Genauso wie während der Zeit, als du in Mexiko warst.«
»Ich schaff das schon, wirklich. Trotzdem danke.«
Hinter Melanies Lächeln schien sich etwas anderes zu verbergen. »Ich bin um ein paar Ecken herum mit Jefferson Davis verwandt, wusstest du das?«
»Ich hab’s gehört.«
»Wenn es sein muss, kann ich problemlos einspringen. Das liegt in meinen Genen.«
»Na, dann danke Gott für deine Gene! Aber ich krieg das schon hin.« Sam würde nicht zulassen, dass ein weiterer gefälschter Anruf sie um ihren Job brachte. »Ihr zwei …«, sie deutete auf Melanie und Tiny, »… ihr prüft die Anrufe und zeichnet sie auf. Wir haben nur noch eine Viertelstunde Sendezeit.« Während der Werbespot für eine ortsansässige Telefongesellschaft verhallte, stellte sie ihren Kopfhörer ein, zog das Mikrofon näher heran und brachte es in Position.
»Okay, hier ist Dr. Sam, ich bin wieder im Rennen. Bitte entschuldigt die Unterbrechung. Wie ihr sicher bereits gehört habt, gab es heute Nacht ein paar technische Probleme im Sender.« Es war eine durchschaubare Lüge, und wahrscheinlich büßte sie dadurch bei den Hörern an Glaubwürdigkeit ein, doch sie konnte dem Publikum unmöglich die Wahrheit sagen. »Gut, machen wir dort weiter, wo wir vor ein paar Minuten stehen geblieben sind. Wir haben darüber geredet, wie unsere Eltern sich in unser Leben einmischen, dass sie uns aber auch brauchen. Mein Dad ist ein großartiger Mensch, aber er kann offenbar nicht akzeptieren, dass ich eine erwachsene Frau bin. Mancher von euch hat bestimmt schon Ähnliches erlebt.«
Die Leitungen blinkten bereits wie verrückt. Die Terroranrufe hatten ein Gutes: Sie weckten Interesse. Der erste Anrufer auf Leitung eins wurde ihr als Ty gemeldet.
Blitzschnell stieg das Bild eines großen Mannes mit einem umwerfenden Lächeln und unergründlichen Augen vor ihr auf. Wenngleich sie sich vor Augen hielt, dass der Anrufer nicht unbedingt ihr neuer Nachbar sein musste, zog sich ihr Magen zusammen. »Hallo«, meldete sie sich. »Hier spricht Dr. Sam. Wer ist dort?«
»Ty«, antwortete er, und sie empfand eine Mischung aus Freude und vorsichtiger Zurückhaltung, als sie seine Stimme erkannte. Sie hätte gern gewusst, warum er gerade heute ihre Sendung hörte und wie es ihm gelungen war, nach der Frau, die vorgab, Annie zu sein, als Erster durchzukommen.
»Was kann ich für dich tun, Ty?«, erkundigte sie sich und versuchte zu ignorieren, dass ihre Handflächen plötzlich feucht waren. »Hast du Probleme mit deinen Eltern? Oder mit deinen Kindern?«
»Tja, was ich zu sagen habe, weicht ein bisschen vom heutigen Thema ab. Ich habe gehofft, Sie könnten mir vielleicht in einem Beziehungsproblem helfen.«
»Ich will es versuchen«, erwiderte sie und fragte sich im Stillen, wohin das führen sollte. Wollte er ihr mitteilen, dass er nicht frei war, dass es schon eine Frau in seinem Leben gab? Warum hatte er dann erst neulich nachmittags so offensichtlich mit ihr geflirtet? »Also, Ty, was ist das Problem?«
»Na ja, ich bin gerade erst in diese Gegend gezogen, und ich habe eine Frau kennen gelernt, die mich interessiert«, sagte er gedehnt mit seiner weichen Aussprache, und ihre bösen Vorahnungen verflüchtigten sich, zumindest teilweise.
»Beruht das Interesse auf Gegenseitigkeit?« Sam musste unwillkürlich lächeln.
»O ja, ich glaube schon, aber sie gibt sich ziemlich unnahbar.«
»Woher weißt du dann, dass sie dich näher kennen lernen möchte? Vielleicht täuscht sie ihre Unnahbarkeit gar nicht vor.«
»Sie will, dass ich genau das glaube, aber ich sehe es in ihren Augen. Sie ist durchaus interessiert. Mehr als interessiert. Nur zu stolz, es zuzugeben.«
Samanthas Lächeln wurde breiter, und ihr kroch es heiß am Hals empor. »Sie ist so leicht zu durchschauen?«
»Klar, aber das weiß sie nicht.«
Toll. »Vielleicht solltest du es ihr sagen.«
»Ich werde gründlich darüber nachdenken«, entgegnete er langsam, und Sams Herz begann zu rasen. Sie hätte gern gewusst, wie viel von den Zwischentönen in dieser Unterhaltung Melanie und Tiny heraushörten … oder ob womöglich alle, die die Sendung verfolgten, diese heimlichen Schwingungen mitbekamen.
»Aber ich warne dich, Ty: Vielleicht ist diese Frau gar nicht so hingerissen von dir, wie du vermutest.«
»Das werde ich wohl selbst herausfinden müssen, wie? Ich muss irgendwas tun.«
O Gott. Ihr stockte der Atem. »Das wäre logischerweise der nächste Schritt.«
»Aber Sie und ich, wir wissen beide, dass Logik manchmal nicht besonders viel mit dem zu tun hat, was zwischen einem Mann und einer Frau passiert.«
Touché. »Was also hast du vor, Ty?«
Er zögerte nur für einen Sekundenbruchteil. »Ich werde in Erfahrung bringen, was die Dame mag«, raunte er, und Sam wurde der Hals eng.
»Und wie willst du das bewerkstelligen?« In rasender Folge schossen ihr Bilder von Ty Wheeler mit seinen breiten Schultern, dem dunklen Haar und dem eindringlichen Blick durch den Kopf. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, ihn zu küssen, zu berühren, mit ihm zu schlafen.
Sein Lachen war tief und kehlig. »Das kriege ich schon raus.«
»Du willst also versuchen, die Beziehung auf die nächste Ebene zu transportieren?«, fragte sie.
»Unbedingt.«
»Und wann?«
»Wenn sie es am wenigsten erwartet.«
»Dann solltest du dich lieber nicht verraten.« Das Atmen fiel ihr schwer.
»Tu ich bestimmt nicht.«
»Viel Glück, Ty«, sagte sie.
»Ihnen auch, Dr. Sam.«
Ihr Herz klopfte so heftig, dass ihre Gedanken durcheinander gewirbelt wurden, und als sie weitere Telefonleitungen blinken sah, fragte sie sich erneut, ob ihre Hörer zwischen den Zeilen dieses Gesprächs hatten lesen können.
»Danke für deinen Anruf, Ty.« Sie zwang sich, das Display zu prüfen, und sah, dass sich die Anrufe drängten wie Autos zur Hauptverkehrszeit.
»Gern geschehen. Dr. Sam?«
»Ja?«
»Träumen Sie was Schönes.«