13. Kapitel

»… und wenn Ihnen noch etwas einfällt, lassen Sie es uns bitte wissen«, sagte einer der beiden Beamten, die Sams Aussage zu Protokoll genommen hatten. Die zwei Männer verließen daraufhin die Küche des Senders, wo Sam, Melanie und Tiny ihre Aussagen gemacht hatten. Tiny war ständig in den Technikraum gelaufen, hatte das aufgezeichnete Programm überprüft und sichergestellt, dass alles wie am Schnürchen lief.

»Gott, bin ich froh, dass das vorbei ist!« Melanie griff nach ihrer Tasche und dem Aktenkoffer. »Was für ein Marathon.«

»Die Polizei arbeitet eben gründlich.«

»Glaubst du, sie schnappen ihn?«, fragte Tiny, der in den Schränken wühlte, schließlich einen Beutel Popcorn zutage förderte und ihn in die Mikrowelle stellte.

»Das will ich hoffen«, sagte Sam mit einem Gähnen. Zum Umfallen müde, wollte sie in dieser Nacht nicht mehr an die beiden Anrufer denken. Es war fast drei Uhr morgens. Sie würde nun nach Hause fahren, ins Bett sinken und die Welt aussperren. Kopfschmerzen meldeten sich an, und ihr Knöchel pochte.

»Ich glaube, das Popcorn gehört Gator«, bemerkte Melanie, als Tiny bereits die Zeitschaltuhr einstellte.

»Er wird es nicht vermissen. Ist es in Ordnung für euch, wenn ich euch nicht nach draußen begleite?«

»Wir kommen zurecht«, entgegnete Sam trocken. Sie konnte sich Tiny beileibe nicht als Beschützer vorstellen. »Los, gehen wir, Melanie.« Sie suchte ihre Sachen zusammen. Die Maiskörner fingen an zu platzen, und ein süßer Duft erfüllte die Küche. »Mach’s gut, Tiny.«

»Bis morgen.«

Melanie winkte zum Abschied, und die beiden Frauen machten sich auf den Weg zum Ausgang. Wenig später traten sie hinaus in die laue Sommernacht.

Ty wartete auf sie. Sein Wagen stand im Halteverbot vor dem Rundfunkgebäude, und Ty lehnte mit der Hüfte am Kotflügel seines Volvo, den Blick auf den Eingang gerichtet. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und selbst im trüben Licht der Straßenlaterne erkannte Sam, dass ein Dreitagebart Kinn und Wangen zierte. Er trug ein T-Shirt, Jeans und Lederjacke. Erinnerte an einen älteren, etwas erschöpften James Dean. Super, dachte Sam sarkastisch. Genau das, was ich brauche. Trotzdem verspürte sie eine leise prickelnde Freude.

Der Geruch das Flusses war stickig, die Luft schwül, die Klänge eines einsamen Saxofons hallten herüber, über das leise Summen des spärlichen Straßenverkehrs hinweg. Und ein Mann, der vor etwa einer Woche noch ein Fremder für sie gewesen war, schaute ihr entgegen.

Ty stieß sich von seinem Wagen ab. »Ich hielt es für angebracht herzukommen und nachzusehen, ob alles in Ordnung ist mit Ihnen.«

»Mir geht’s gut. Bin nur total müde«, erwiderte sie, dennoch durchströmte sie ein warmes Gefühl.

Zu Melanie sagte er: »Ty Wheeler. Ich bin Sams Nachbar.«

Als ein Auto vorbeifuhr und dumpfe Bässe aus mächtigen Lautsprechern aus den offenen Fenstern dröhnten, besann sich Sam mit ein wenig Verspätung auf ihre Manieren. »Ach, richtig, Ty, das ist Melanie Davis, meine Assistentin. Melanie, das ist Ty Wheeler. Er ist Autor, besitzt einen alten Hund und kauft kaputte Segelschiffe.«

Melanie musterte ihn rasch von Kopf bis Fuß und schenkte ihm ein neugieriges, freundliches Lächeln. »Ein Autor? Schreiben Sie für Zeitungen?«

»Nichts so Vornehmes, fürchte ich«, sagte er gedehnt. »Ich verfasse Romane. Reine Fiktion.«

»Tatsächlich?« Melanie war beeindruckt. »Haben Sie schon was veröffentlicht?«

Tys Lächeln blitzte in der Dunkelheit. »Noch nicht, aber hoffentlich bald.«

»Wovon handelt Ihr Roman?«

»Es wird eine Art Mischung aus dem ›Pferdeflüsterer‹ und ›Das Schweigen der Lämmer‹. Eine Farm bildet sozusagen den roten Faden.«

»Du liebe Zeit!«, entfuhr es Sam, und Melanie kicherte leise.

»Wie gesagt, ich bin gekommen, um mich zu vergewissern, dass Sie …«, er berührte Sam am Ellbogen, »… wohlauf sind.«

»Es ist alles in bester Ordnung«, schwindelte sie.

Seine Finger griffen fester zu, dann ließ er die Hand sinken, und wieder spürte Sam diese wohltuende Wärme. »Wo steht Ihr Wagen?«

»Etwa zwei Häuserblocks weiter.« Trotz all ihres Geredes über Feminismus und der Behauptung, eine starke allein stehende Frau zu sein, war sie nun mehr als froh, Ty an ihrer Seite zu haben, und redete sich ein, dass es nicht unbedingt daran lag, dass er ein Mann war.

»Sie sind der Ty, der heute Nacht angerufen hat«, vermutete Melanie, und Sam konnte beinahe sehen, wie sich im Kopf ihrer Assistentin die Rädchen drehten. »Oh … ich verstehe.« Ihre Augen leuchteten im schwachen Licht.

»Ja, das bin ich«, antwortete er überflüssigerweise. »Was ich in der Sendung gehört habe, behagte mir nicht, deshalb habe ich beim Sender angerufen, um die Sprache auf ein anderes Thema zu bringen. Nachdem ich dann aufgelegt hatte, dachte ich mir, Samantha wäre vielleicht ganz froh, wenn jemand sie nach Hause fahren würde. Als ich hierher kam, sah ich dann das Polizeiauto.«

Melanie äußerte sich nicht dazu, zog nur neugierig eine Augenbraue hoch, als versuchte sie zu begreifen, in welcher Beziehung Ty zu Sam stand.

»Ich fahre lieber selbst«, sagte Sam. »Ich möchte meinen Wagen nicht hier stehen lassen. Dann hätte ich morgen keine Möglichkeit, in die Stadt zu kommen.«

»Ich bringe Sie«, bot er an, doch Sam wollte ihm nicht zur Last fallen und sich nicht von ihm abhängig machen.

»Ich fühle mich wohler, wenn ich mein eigenes Auto zur Verfügung habe.«

»Wie Sie wünschen.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber ich begleite Sie bis zu Ihrem Wagen, und Sie fahren mich dann zurück zu meinem.«

»Das ist wirklich nicht nötig«, wehrte Sam ab, doch Melanie sah das völlig anders.

»Hey, er ist mitten in der Nacht extra hierher gekommen, um für deine Sicherheit zu sorgen. Lass ihn dich doch begleiten – oder uns.«

Es klang beinahe neidisch, und Sam fragte sich, wo Melanies Freund stecken mochte, der Freund, über den sie nie redete. Vielleicht hatten sie sich schon wieder getrennt. Es wäre gewiss nicht das erste Mal, dass sich Melanie bis über beide Ohren verliebte und es sich dann ein paar Wochen später anders überlegte.

»Mir wäre dann bedeutend wohler«, stimmte Ty Melanie zu, und gemeinsam setzten sich die drei in Bewegung. »Wie gesagt, ich habe die Sendung verfolgt und diesen eigenartigen Anruf mitbekommen. Von Annie – wer immer sie sein mag. Sie waren völlig außer sich, Sam.«

»Das war noch längst nicht alles.«

Zwar wäre es Sam lieber gewesen, Ty erst zu einem späteren Zeitpunkt von John zu berichten, doch Melanie brannte förmlich darauf, die Neuigkeiten an den Mann zu bringen, und konnte den Mund nicht halten. Während sie an dem schmiedeeisernen Zaun entlanggingen, der das dichte Gehölz am Jackson Square einfasste, erzählte Melanie eifrig von John und dass er nach der Sendung erneut angerufen habe.

»Also will er, dass niemand zuhört«, bemerkte Ty ernst, als sie vor der St.-Louis-Kathedrale die Straße überquerten. Die weiße Fassade wurde angestrahlt. Drei spitze Türme ragten in den schwarzen Nachthimmel, griffen nach dem Himmel, und das Kreuz auf dem höchsten der Türme verlor sich im Tintenschwarz und war kaum zu sehen. »Was will er?«

»Vergeltung«, raunte Melanie.

»Wofür?« Ty biss die Zähne zusammen.

Sam schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Für deine Sünden.« Melanie griff in ihre Tasche, und als sie nach ihrem Schlüssel suchte, klimperten einige Münzen. »Er redet, als wäre er ein … ein Priester oder so.« Als Melanie ihren Schlüsselbund gefunden hatte, erreichten sie gerade das Parkhaus. »Ich stehe auf der ersten Ebene.« Zielstrebig ging sie auf ihren Kleinwagen zu und schloss die Tür auf. »Soll ich euch hinauffahren?«, fragte sie.

»Mein Wagen steht auf der zweiten.« Sam mochte es nicht, dass ihre Assistentin sie behandelte wie ein hilfloses Wesen, und sagte sarkastisch: »Ich glaube, bis dahin schaffe ich es noch.«

»Ich bin ja bei ihr«, bemerkte Ty, und wenn sich Samantha auch noch immer nicht ganz im Klaren war, was ihren neuen Nachbarn betraf, glaubte sie doch nicht, dass er ihr Böses wollte. Als sie allein gewesen waren, hatte er reichlich Gelegenheit gehabt, ihr etwas anzutun; es erschien ihr höchst unwahrscheinlich, dass er – selbst wenn er der Anrufer wäre, was sie jedoch bezweifelte – sie anzugreifen oder zu entführen wagte. Immerhin hatte Melanie sie zusammen gesehen. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich bei ihm sicher und geborgen.

»Gut.«

Sekunden später saß Melanie in ihrem Wagen. Sie schaltete Scheinwerfer und Motor an und stieß rückwärts aus ihrer Parkbucht. Mit einer Hand winkend, drückte sie auf die Hupe, dass es in dem Gebäude laut widerhallte, und trat aufs Gas. In einer Wolke aus Abgasen bewegte sich der Kleinwagen zum Ausgang.

»Sie spielt sich gern auf, wie?«, bemerkte Ty, als sie die Treppe hinaufstiegen.

»Gut beobachtet. Sie ist etwas melodramatisch – aber ungeheuer tüchtig.«

Sams roter Mustang war das einzige Auto, das auf der zweiten Ebene des düsteren Parkhauses stand. Die Hälfte der Sicherheitsleuchten war ausgefallen, die wenigen verbleibenden befanden sich in Aufzug- und Treppennähe.

»Wie in einem Hitchcock-Film«, äußerte Ty, dessen Stiefelabsätze auf dem Betonboden knallten.

»Das ist doch ein wenig übertrieben, finden Sie nicht?«

»Ich kann nur hoffen, dass Sie sich niemals allein hierher wagen«, sagte Ty mit finsterer Miene.

»Manchmal schon. Aber ich bin vorsichtig.«

Sein Blick schweifte über die leeren Parkflächen. »Die Vorstellung gefällt mir nicht.«

Sie ärgerte sich ein bisschen. Sie kannte den Mann ja kaum, er musste nicht ungefragt die Rolle des Beschützers übernehmen. »Ich komme schon allein zurecht.« O ja, Sam, genauso, wie du allein zurechtgekommen bist, als die Frau anrief und behauptete, sie wäre Annie. Da bist du durchgedreht, Frau Doktor. Und zwar gehörig!

»Wenn Sie meinen.«

»Es ist mir ja bisher auch gelungen.« Sie hatte bereits ihre Handtasche geöffnet und entnahm ihr den Autoschlüssel – den Ersatzschlüssel, den sie sich nach ihrem Mexikourlaub hatte anfertigen lassen. »Hören Sie, ich weiß Ihre Fürsorglichkeit zu schätzen, wirklich. Das ist … sehr nett, aber ich bin schon ein großes Mädchen. Erwachsen.«

»Ist das die höfliche Art, mir begreiflich zu machen, dass ich abhauen soll?«

»Nein!«, sagte sie hastig. »Das heißt … Ich will nur nicht, dass Sie sich irgendwie verpflichtet fühlen oder denken, Sie müssten sich um mich kümmern, weil ich eine von diesen erbärmlichen, schwachen Porzellanpüppchen bin.«

Er zog einen Mundwinkel hoch. »Glauben Sie mir, das denke ich am allerwenigsten von Ihnen.«

»Gut. Nur, damit wir uns richtig verstehen.«

»Das tun wir doch.« Er trat näher heran, und sie nahm den Duft seines Aftershaves wahr, sah, wie sich seine Augen in der Finsternis der Nacht verdunkelt hatten, bemerkte, dass sein Blick auf ihre Lippen geheftet war. O Gott, wollte er sie etwa küssen? Allein der Gedanke daran ließ ihre Haut prickeln und ihren Puls rasen, und als er sich ihr zuneigte, war sie auf alles gefasst und spürte dann nur, wie seine Lippen keusch ihre Wange streiften. »Gib auf dich Acht«, sagte er und trat zurück.

Sie schloss eilig die Wagentür auf und öffnete sie. Ihr Herz hämmerte. Im Geiste malte sie sich lebhaft innigere Küsse aus, die Berührung ihrer Körper, Haut an nackter Haut. Sie wollte sich gerade hinters Steuer setzen, da bemerkte sie das Stück Papier … einen Umschlag auf dem Fahrersitz. »Was zum Teufel …« Sie hob den Umschlag auf, sah, dass ihr Name draufgekritzelt war, und entnahm ihm ohne nachzudenken eine Karte. »O nein«, flüsterte sie, als sie die Worte las.

Der Aufdruck Herzlichen Glückwunsch zum fünfundzwanzigsten Geburtstag war rot eingerahmt und in der Mitte durchstoßen.

Sam ließ die Karte fallen, als hätte sie sich daran die Finger verbrannt. Sie spürte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich.

»Was ist los?« Ty bückte sich und hob das gefaltete Stück Papier auf. »Was ist das?« Er klappte die Karte auf und las das einzelne, in roten Blockbuchstaben geschriebene Wort: MÖRDERIN. »Wie konnte das ins Auto gelangen?«

»Ich … ich weiß nicht.« Sam schloss sekundenlang die Augen. Dachte an das Grauen, das sie in Houston erlebt hatte. Ihr Kopf dröhnte, sie musste sich gegen den hinteren Kotflügel lehnen.

»Alles in Ordnung?« Ty legte den Arm um ihre Schultern. »Das hier hat mit der Frau zu tun, die behauptete, Annie zu sein. Sie hat irgendwas davon gesagt, dass am Donnerstag ihr Geburtstag wäre.«

»Ja. Annie Seger.« Wer würde so etwas tun? Und warum? Es lag neun Jahre zurück. Neun Jahre! Sie fröstelte innerlich. »Ich begreife das nicht. Wieso versucht jemand, mich zu terrorisieren?«

»Und wie ist der Umschlag in dein Auto gekommen? Es war doch abgeschlossen, oder?« Er duzte sie erneut.

»Ja.« Sie nickte.

Er überprüfte Fenster und Türen und deutete auf ein paar Kratzer im Lack. »War das vorher schon da?«

»Nein.«

»Sieht aus, als hätte jemand das Schloss aufgebrochen. Hat irgendwer einen Zweitschlüssel?«

»Mein Zweitschlüssel liegt auf dem Grund des Pazifiks«, antwortete sie und schüttelte den Kopf. »Ich habe meinen gesamten Schlüsselbund verloren, als ich in Mexiko war.«

»Also hast du nur diesen einen Schlüssel.«

»Nein, diesen Schlüssel habe ich mir nach meiner Rückkehr anfertigen lassen. Ein weiterer liegt bei mir zu Hause in der Schublade.« Während sie die Kratzer an der Tür betrachtete und bemerkte, dass Ty den Arm um sie gelegt hatte, verflüchtigte sich ein Teil ihrer Angst. »Das war eigentlich Davids, aber er hat ihn mir zurückgegeben, als wir in Mexiko waren. Mein Schlüsselbund befand sich ja in meiner Tasche, als sie über Bord gegangen ist.« Ty sah sie fragend an, und sie fügte hinzu: »Das ist eine lange Geschichte.«

»Du glaubst nicht, dass sich dieser David einen Nachschlüssel hat machen lassen?«

»So etwas würde er nicht tun«, entgegnete sie, hörte jedoch selbst den Zweifel in ihrem Tonfall. »Außerdem ist er momentan in Houston.«

»Glaubst du.«

»Er hat mit dieser Sache nichts zu tun«, stellte sie klar und schüttelte nachdrücklich den Kopf, als müsste sie sich selbst überzeugen. Sie räusperte sich und löste sich aus Tys Umarmung. Es war nicht nötig, dass sie die Fassung verlor und ihm in die Arme sank. Ihre Knie waren nicht mehr weich, und ihr Entsetzen wich langsam der Wut. Sie konnte, wollte nicht zulassen, dass irgendein anonymer Widerling sie bedrohte oder gar ihre Existenz zerstörte. »Zwischen … zwischen David und mir ist es vorbei. Schon seit geraumer Zeit.«

»Weiß er das?«

»Natürlich.«

Ty verzog seitlich den Mund, als ob er ihr nicht ganz glaubte, doch er schwieg. Sein Blick schweifte über die verlassen daliegende Parkebene und dann zurück zu Sam. »Wer ist Annie Seger?«

»Ein Mädchen, das damals in Houston in meiner Sendung angerufen hat. Vor neun Jahren.«

»Und sie ist identisch mit der Person, die dich heute Nacht angerufen hat?«

»Das behauptet sie. Sie kann es aber nicht gewesen sein, denn –«

»Annie ist tot«, schlussfolgerte er. »Und dieser Perverse, wer immer er sein mag, gibt dir die Schuld? Ist das deine Vermutung?«

»Ja.« Sie nickte. »Bestimmt steckt der Typ dahinter, der mich ständig anruft … John oder wie immer er in Wirklichkeit heißt. Er redet ständig von Sünde und Vergeltung, dass ich mich eines Verbrechens schuldig gemacht habe. Und in letzter Zeit behauptet er, ich wäre Prostituierte. Aber das Ganze ergibt keinen Sinn, da besteht keinerlei Zusammenhang. Als er mich heute Nacht nach der Sendung anrief, sagte er, ich würde bald sterben.«

Ty kniff die Augen zusammen. »Er treibt es also auf die Spitze. Seine Drohungen werden deutlicher.«

»Ja.«

»Verflucht.« Er fuhr sich mit steifen Fingern durchs Haar. »Du glaubst also, er hat angerufen und sich als Frau ausgegeben? … Oder meinst du, er hat eine Komplizin? Und was soll das alles? Ist das eine Art Verschwörung, um dir Angst einzujagen?«

»Ich … ich weiß es nicht«, gestand sie und fühlte sich wieder unendlich schwach, ein Gefühl, das sie verabscheute.

»Wir müssen die Polizei verständigen.«

»Du hast ja Recht«, pflichtete sie ihm bei, doch die Vorstellung war ihr zuwider. Sie war vollkommen erschöpft und wünschte sich nichts weiter als ein ausgedehntes heißes Bad, um danach ins Bett zu fallen und tausend Stunden zu schlafen.

»Ich übernehme das.« Er griff in seine Tasche und zog sein Handy heraus.

Sam wappnete sich gegen eine erneute qualvolle Prozedur. Wie oft war sie schon verhört worden? Viermal? Fünfmal? Sie hatte aufgehört zu zählen.

Und der Stalker lief noch immer frei herum. Während sie den Kopf kreisen ließ, um die Verspannungen zu lockern, telefonierte Ty mit einem Polizisten, der versicherte, die Beamten, die vor knapp einer Stunde im Sender gewesen seien, würden zu ihnen ins Parkhaus kommen.

Die beiden uniformierten Polizisten trafen eine Viertelstunde später ein, fuhren mit heulender Sirene und blinkendem Rotlicht ins Parkhaus. Sie stellten Fragen, durchsuchten Sams Wagen, steckten die Karte in einen Plastikbeutel und riefen weitere Beamte hinzu, die den Mustang auf Fingerabdrücke überprüften, das Wageninnere nach weiterem Beweismaterial durchforsteten und zuletzt noch den Wagen auf seine Fahrtüchtigkeit durchcheckten.

Nachdem die Beamten ihre Arbeit beendet und sich verabschiedet hatten, war es nach vier Uhr morgens.

Tys Mund bildete einen schmalen, harten Strich. »Ich finde, ich sollte dich jetzt nach Hause bringen.«

Sie war gerührt, schüttelte jedoch den Kopf. »Sei nicht albern. Ich kann durchaus selbst fahren.«

Ty ließ sich nicht beirren. »Hör zu, Samantha, der Mann, der dir das antut, ist krank im Kopf. Das wissen wir beide. Er hat heute Nacht dein Auto aufgebrochen, nicht wahr? Wer garantiert dir, dass er nicht irgendwie daran manipuliert hat? Die Bremsflüssigkeit abgelassen, eine Bombe gelegt hat oder …«

»Die Polizei hat alles kontrolliert.«

»Auch die Polizei kann etwas übersehen.«

»Das glaube ich in dem Fall kaum, und ich denke nicht daran, mich ins Bockshorn jagen zu lassen. Ich kann nicht mein Leben lang Angst haben. Dann hätte ich verloren, Ty. Und er hätte gewonnen. Das ist es doch, was er beabsichtigt. Er will mich in Todesangst versetzen. Mich nervös und reizbar machen. Er spielt ein Psychospielchen mit mir. Wenn er mich umbringen würde, wäre es vorbei. Und das Auto zu manipulieren, das wäre zu … unpersönlich. Dieser Kerl ruft mich an, schickt mir Briefe, lässt mich wissen, dass er in der Nähe ist. Es hat ihm nicht gepasst, dass ich das Telefon auf Mithören geschaltet hatte, er will vertraulich mit mir reden. Er will sich in meinem Kopf festsetzen. Dessen bin ich mir sicher. Ich spüre es.«

»Und spürst du auch, dass er ein Mörder sein könnte? Um Gottes willen, Samantha, er hat angedroht, dich umzubringen!«

Sam überlegte angestrengt, rieb sich trotz der Hitze die Arme, nagte an ihrer Unterlippe. »Ich weiß«, gestand sie schließlich. »Aber umbringen wird er mich erst, wenn ich bereut habe, wenn ich begreife, welche Sünden ich angeblich begangen habe. Er fährt irgendwie auf Religion ab – auf Schuld und Sühne.«

»Du darfst kein Risiko eingehen. Reichen dir die Beweise dafür, dass der Kerl geisteskrank ist, dass er dir nach dem Leben trachtet, denn immer noch nicht?«, fragte Ty aufgebracht. »Er hat dich des Mordes bezichtigt. Er hat eine Menge biblisches Zeug von sich gegeben, vielleicht glaubt er an die alttestamentarische Vergeltung: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹.«

»Aber jetzt bin ich noch nicht in Gefahr.« John wollte sie terrorisieren. Es erregte ihn, ihr Angst zu machen und dann mit ihr zu sprechen. Er wollte, dass sie um Vergebung für ihre Sünden flehte. Sie warf einen Blick auf ihr Auto. »Keine Sorge, ich … mir wird schon nichts passieren. Ich fange allmählich an, ihn zu verstehen.«

»Glaub mir, kein Mensch versteht diesen Mistkerl. Komm schon, lass dich von mir nach Hause fahren.«

»Es ist wirklich nett von dir, dass du so besorgt um mich bist, aber ich komme allein zurecht«, sagte sie, obwohl sie davon nicht mehr so recht überzeugt war. Doch genauso wenig hielt sie es für eine gute Idee, Ty die Rolle des Leibwächters übernehmen zu lassen. Sie kannte ihn ja kaum. Er schien es ehrlich mit ihr zu meinen, und in seiner Gegenwart fühlte sie sich tatsächlich sicher, aber aufgrund der Tatsache, dass er zur selben Zeit aufgetaucht war, als die mysteriösen Anrufe begonnen hatten, zweifelte sie an seinen Motiven. Wie sie das hasste – diese nie gekannte Furcht. John hatte sie ihrer Unabhängigkeit beraubt, doch sie war entschlossen, sich zu wehren.

»Gut, dann checke ich den Wagen noch einmal durch. Du brauchst mich nur zu meinem Parkplatz zu fahren, und ich folge dir. Ich sorge dafür, dass du sicher nach Hause gelangst.«

Sie war zu müde, um noch länger zu diskutieren. Was schadete es schon, wenn er sie heimbegleitete? Es war ja nicht einmal ein Umweg für ihn. »Gut, wenn du unbedingt willst.«

»Ja. Sag mal, du hast nicht zufällig eine Taschenlampe?«

»›Bittet und ihr werdet empfangen‹«, zitierte sie und öffnete den Kofferraum.

»Das ist nicht witzig, Sam.«

»Oh, ihr Kleingläubigen und Humorlosen.« Sie nahm einen Pannenkoffer aus dem Kofferraum – Lichtsignal, Streichhölzer, reflektierendes Warndreieck und eine Taschenlampe.

In den nächsten paar Minuten überprüfte Ty den Motorraum des Wagens und die Karosserie, legte sich auf den schmutzigen Betonboden und richtete den dünnen Lichtstrahl der Taschenlampe auf die Achsen und den Auspuff. Er checkte die Muttern an den Rädern sowie Zündung und Lenkung. Als er seine Arbeit beendete, war seine Stirn feucht, und Schweiß rann ihm seitlich über die Wangen.

»Ich fürchte, es gibt nur eine Möglichkeit, sich zu vergewissern«, sagte er und nahm Sam den Schlüssel aus der Hand. »Geh ein Stück zurück.«

»Ausgeschlossen. Ich lasse dich nicht –«

»Zu spät.« Er glitt auf den Fahrersitz. »Geh bitte ein Stück zurück, für den Fall, dass ich in die Luft fliege.«

»Das ist doch lächerlich!«

»Tu mir den Gefallen – du Kleingläubige und Humorlose.«

»Du bist unmöglich.«

»Das habe ich schon öfter gehört.«

Sie sah ein, dass er nicht nachgeben würde, und trat mit einem unbehaglichen Gefühl im Bauch ein paar Schritte zurück. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn, und der Motor des Mustang sprang auf Anhieb an. Ty betätigte das Gas und ließ den Motor aufheulen. Abgase stoben aus dem Auspuff, das Dröhnen der sechs Zylinder war ohrenbetäubend. Doch es erfolgte keine Explosion. Keine Glasscherben flogen durch die Luft, es barst kein Blech.

»Ich schätze, es ist in Ordnung«, sagte Ty aus dem offenen Fenster. »Steig ein.« Er beugte sich zur Seite und öffnete die Beifahrertür. Da er sich seinen Vorsatz so oder so nicht ausreden ließ, ging Sam über den ölfleckigen Zementboden zum Wagen und stieg ein.

»Du brauchst dich nicht als mein Babysitter aufzuspielen«, erklärte sie, als er die Rampe zum Erdgeschoss hinunter und hinaus auf die Straße fuhr, wo die Straßenlaternen wässrig blau schimmerten und nur wenig Verkehr herrschte.

»Tu ich das denn?«

Als er an einer Ampel abbremsen musste, schaute er sie von der Seite an, und ihr blieb beinahe das Herz stehen. Er hatte so etwas an sich, etwas, das sie nicht recht einzuordnen wusste und das sie zur Vorsicht mahnte, und dennoch konnte sie ihm nicht widerstehen, konnte nicht anders, als ihm zu vertrauen. Als es im Wageninneren vom Schein der Ampel rot leuchtete, begegnete sie seinem Blick und erkannte Verheißungen in seinen Augen, die zu entschlüsseln sie sich weigerte.

»Man könnte den Eindruck gewinnen.« Sie zwang sich trotz ihres Herzrasens zur Ruhe und hob einen Finger. »Du hast beim Sender angerufen, nachdem ich diesen sonderbaren Anruf von Annie bekommen hatte.« Ein zweiter Finger schnellte in die Höhe. Die Ampel sprang auf Grün, und Sam betrachtete sein Profil – energisches Kinn, tief liegende Augen, hohe Stirn, schmale Wangen, zusammengepresste Lippen. Im selben Moment fragte sie sich, wie es sein würde, ihn zu küssen … ihn zu berühren … Der Wagen schoss nach vorn. »Du hast vor dem Rundfunkgebäude auf mich gewartet.« Als Ty um die letzte Kurve bog und in eine Parklücke hinter seinem Volvo einscherte, kam ein dritter Finger hinzu. »Du hast Melanie und mich zum Parkhaus begleitet.« Ihr kleiner Finger zuckte nach oben. »Du hast den Wagen überprüft und mich hierher gebracht. Und …«, sie streckte den Daumen und hielt ihm die Hand mit den gespreizten Fingern vor die Nase, »… und du willst auf dem Heimweg hinter mir herfahren.«

Er schaltete in den Leerlauf und griff dann nach ihrer Hand. Harte, warme Finger umspannten ihre. »Und«, gelobte er feierlich, »ich werde dich, wenn wir angekommen sind, ins Haus begleiten.«

»Das ist nicht nötig …«

»Ich möchte es aber, okay?« Sein undurchdringlicher Blick hielt den ihren fest, und seine Hand drückte kräftiger zu. »Ich würde es mir nie verzeihen, Samantha, wenn dir etwas zustoßen sollte. Wir können hier auch noch die ganze Nacht über sitzen bleiben und streiten, aber ich bin der Meinung, wir sollten nach Hause fahren. Es ist spät.«

Sie schluckte krampfhaft. Befreite ihre Hand. »Gut.«

Er lächelte schief. »Ich nehme dich beim Wort.« Damit hastete er aus dem Wagen, lief zu seinem Volvo und stieg ein. Als Sam über den Steuerknüppel hinweg hinters Lenkrad kletterte, leuchteten seine Bremslichter auf. Nachdem sie die Sitzhöhe eingestellt hatte, trat sie aufs Gas und sah im Rückspiegel, wie sich der Volvo vom Straßenrand löste und ihr folgte.

Ty Wheeler hatte sich anscheinend tatsächlich zu ihrem Leibwächter ernannt.

Ob sie es wollte oder nicht.