14. Kapitel
Auf dem Heimweg schaltete Sam das Radio ein, erwischte noch das Ende der Sendung »Licht aus« und fuhr durch die verlassenen Straßen in Richtung See, durch die kleine Gemeinde Cambrai. Ihr begegneten nur wenige Fahrzeuge, die Scheinwerfer allesamt aufgeblendet, doch ihre Aufmerksamkeit galt in erster Linie dem Rückspiegel und den Doppelstrahlen von Tys Volvo. Was dachte er sich? Warum machte er ihr Problem zu seinem? Was wollte er von ihr? Sie bog in ihre Straße ein. Plötzlich misstraute sie ihm. War der Motor seines Bootes tatsächlich defekt gewesen?
»Hör auf«, grollte sie, lenkte den Mustang in ihre Zufahrt und drückte den Knopf des automatischen Garagentoröffners. Sie war müde, mit den Nerven am Ende, die Angst setzte sich in ihr fest. Das Tor glitt in die Höhe, und sie fuhr in die Garage hinein. Sie war früher eine Remise für Kutschen gewesen, in den Zwanzigerjahren jedoch so umgebaut worden, dass pferdelose Gefährte darin untergebracht werden konnten. Später war noch ein verglaster Gang hinzugefügt worden, der die Garage mit der Küche verband. Als Sam aus dem Wagen stieg, kreuzte Tys Volvo auf der Zufahrt auf. Sekunden später war er ausgestiegen und folgte ihr ins Haus.
»Keine Widerrede«, ermahnte er Sam, als er sah, dass sie protestieren wollte. »Ich will erst einmal das Haus durchsuchen.«
»Es war abgeschlossen.«
»Der Wagen auch.«
Er trat vor ihr durch die Tür und schritt den Glasgang entlang, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Im Haus angelangt, stellte Sam die Alarmanlage aus, die sie ausnahmsweise einmal aktiviert hatte. Immer wieder hatte sie es vergessen; sie war einfach nicht daran gewöhnt, sie einzuschalten. In dieser Nacht schien das lästige Ding glücklicherweise zu funktionieren, aber Ty gab sich damit nicht zufrieden. Langsam ging er durch die Küche und das Esszimmer, von Charon, der auf einem der Stühle hockte, mit großen Augen argwöhnisch beobachtet.
»Alles ist gut«, flüsterte Sam kaum hörbar in Charons Richtung.
Gefolgt von Samantha, durchsuchte Ty Zimmer für Zimmer das ganze Haus. Er machte sich nicht die Mühe, sie um Erlaubnis zu fragen, und öffnete ungeniert Schränke und Abstellkammern und sogar die verschlossene Tapetentür unter der Treppe. Dann stieg er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zum ersten Stock hinauf. Ohne ein Wort betrat er das Gästezimmer mit den Spitzengardinen, dem Schlafsofa und der antiken Kommode und marschierte durch das Bad hinüber in Sams Schlafzimmer.
Sie folgte ihm und fühlte sich unbehaglich und ausgeliefert. Nackt. Sämtliche privaten Winkel ihres Lebens waren nun entblößt. Tys Blick wanderte über ihr extrabreites Himmelbett hinweg, dann trat er in den begehbaren Schrank, in dem ihre Kleider, Schuhe und Handtaschen wirr durcheinander lagen.
Sekunden später tauchte er wieder auf. Sam lehnte an ihrem Wäscheschrank. »Zufrieden?«, fragte sie. »Kein schwarzer Mann?«
»Bisher nicht.« Er prüfte das Schloss der Fenstertüren vor ihrem Balkon, rüttelte an der Klinke und gab ein leises Brummen von sich, wie zum Zeichen, dass er sich endlich restlos von der Sicherheit ihres Hauses überzeugt hatte. »Okay … Ich schätze, hier ist alles klar.«
»Schön.« Sie reckte sich und ging zur Tür, doch Ty machte keine Anstalten, ihr zu folgen.
»Erzähl mir doch mal von Annie Seger«, bat er und lehnte sich an einen der Bettpfosten. »Ich weiß, du bist müde, aber es würde mir helfen zu wissen, warum dir jemand die Schuld an ihrem Tod gibt.«
»Das ist eine gute Frage.« Sam fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und überlegte kurz. »Ich kann dir darauf im Grunde gar keine Antwort geben, denn ich verstehe es selbst nicht.« Sie ließ sich in dem Schaukelstuhl neben den Fenstertüren nieder und legte sich die verblichene Decke, die ihre Urgroßmutter vor Jahrzehnten gestrickt hatte, um die Schultern. Ty war sehr freundlich zu ihr gewesen, interessiert. Sie konnte zumindest versuchen, es ihm zu erklären. »Ich habe damals eine ähnliche Sendung moderiert wie jetzt, nur bei einem kleineren Sender. Ich hatte erst kurz zuvor meinen Collegeabschluss gemacht und mich von meinem Mann getrennt, also war ich zum ersten Mal im Leben auf mich selbst gestellt. Die Sendung war ziemlich erfolgreich, und Jeremy, mein Nochmann, hatte genau damit ein Problem. Er war der Meinung, der Erfolg würde mir zu Kopf steigen, dabei suchte er praktisch nur nach einem Grund, sich scheiden zu lassen. In Wirklichkeit steckte etwas anderes dahinter … Wie auch immer, alles lief so ziemlich wie am Schnürchen.« Sie erinnerte sich, wie sie sich Tag für Tag bemüht hatte, die Gedanken an Jeremy und die Scheidung zu verdrängen, sich vor Augen zu halten, dass sie nicht versagt hatte, sondern dass ihre Ehe von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen war. Sie hatte sich in ihre Arbeit vergraben, den Anrufern zugehört und versucht, anderen auf die Sprünge zu helfen – was sie bei sich selbst nicht geschafft hatte.
»Eines Nachts rief dieses Mädchen an, Annie, und sagte, sie brauche meinen Rat.« Samantha dachte an das anfängliche Zögern des Mädchens, wie verlegen sie gewirkt hatte, wie verängstigt. Sie zog die Decke fester um sich und fuhr fort: »Annie hatte Angst. Sie hatte gerade erfahren, dass sie schwanger war, und konnte sich damit nicht an ihre Eltern wenden, weil die durchdrehen würden – sie vielleicht rauswerfen würden oder so. Ich hatte den Eindruck, dass sie sehr streng und religiös waren und dass eine schwangere unverheiratete Tochter für sie ein gesellschaftliches Desaster wäre. Ich schlug ihr vor, die Vertrauenslehrerin in ihrer Schule oder den Pastor einzuweihen, jemanden, der ihr vielleicht helfen und in ihrer Entscheidung unterstützen könnte, jemanden, dem sie vertraute.«
»Aber das hat sie nicht getan?«, fragte Ty, noch immer am Bettpfosten lehnend.
»Ich fürchte, sie konnte nicht. Ein paar Nächte darauf rief sie wieder an. Verängstigter als zuvor. Sie hatte ihrem Freund endlich gesagt, dass sie schwanger war, und er wollte, dass sie abtreiben ließ, doch das wollte sie nicht; es kam für sie aus persönlichen und aus religiösen Gründen überhaupt nicht infrage. Ich riet ihr, nichts gegen ihre eigene Überzeugung zu tun; es gehe schließlich um ihren eigenen Körper und um ihr Kind. Als das Publikum das hörte, blinkten die Kontrolllampen der Leitungen natürlich wie das Feuerwerk am vierten Juli. Jeder wollte seinen Senf dazu abgeben. Ich bat Annie, mich außerhalb der Sendung anzurufen. Ich wollte ihr dann die Telefonnummern von Therapeuten und Beratungsstellen geben, wo ihr gezielt geholfen werden konnte.«
Sam stieß bei der Erinnerung an diese schmerzvollen Tage langsam den Atem aus. »Vielleicht war ich damals nicht unbedingt die beste Adresse für Ratsuchende«, gestand sie, auf diese schwarze Zeit in ihrem Leben zurückblickend. »Ich war erst seit ein paar Monaten in Houston, und den Job habe ich bekommen, weil die Frau, die die Sendung vorher moderierte, gekündigt hatte. Ich sollte im Grunde nur zeitweilig einspringen, doch die Publikumsreaktionen waren großartig – das Gehalt jedoch weniger. Dann bot man mir eine Gehaltserhöhung an, und ich blieb.«
Sie verdrehte die Augen angesichts ihrer Naivität, stieß sich mit den Zehen vom Boden ab und begann, langsam zu schaukeln. »Zwar lief längst alles auf die Scheidung von Jeremy hinaus, aber meine Karriere war ihm trotzdem ein Dorn im Auge. Ausnahmsweise stand ich, nicht er, im Rampenlicht, und ich glaube, das hat unserer Ehe den Todesstoß versetzt. Ich wollte den Job auf keinen Fall aufgeben, und binnen Wochen – möglicherweise binnen weniger Tage – hatte er sich eine andere an Land gezogen … Das heißt, ich habe den Verdacht, dass er schon lange mit ihr zusammen war, aber das ist eine andere Geschichte«, fügte sie hinzu, selbst erstaunt darüber, dass sie so viel offenbarte. »Zurück zu Annie Seger. Das Endergebnis war, dass Annie nicht auf meinen Rat hörte, mich nicht nach der Sendung anrief, wohl aber jede zweite Nacht während meines Programms. Und das Publikum tobte. Die Leute riefen an wie verrückt. Jeder, vom Vorsitzenden des ortsansässigen Vereins für das Recht auf Leben über diverse Größen aus der Jugendfürsorge bis zum Schreiberling des Lokalblättchens, hatte etwas zu sagen. Die Sache wurde gewaltig aufgebauscht. Anwälte kontaktierten mich und boten Geld für Annies Baby, Ehepaare meldeten sich, die Annies Baby adoptieren wollten. Junge Mütter riefen an, Frauen, die abgetrieben oder eine Fehlgeburt erlitten oder den falschen Mann geheiratet hatten, weil sie schwanger geworden und von ihren Eltern zur Ehe gezwungen worden waren. Es war ein Riesenrummel. Und mittendrin steckte eine einsame, verängstigte Sechzehnjährige.«
Sam fröstelte bei dem Gedanken daran, wie sie in der fensterlosen Kabine im Herzen des Gebäudes gesessen, Anrufe angenommen und sich gefragt hatte, ob sich Annie noch einmal melden würde. George Hannah, der Eigentümer des Senders, war außer sich vor Begeisterung über die Hörerzahlen gewesen, und auch Eleanor hatte sich über den Publikumszuwachs gefreut. »Alle Mitarbeiter des Senders waren völlig aus dem Häuschen. Wir übertrumpften den Konkurrenzsender, und das war das Einzige, was zählte. Die Quoten schossen in die Höhe, weiß Gott! Und der Umsatz sah viel versprechend aus.« Sam konnte den Sarkasmus in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
Aber inmitten all dieses Aufruhrs war Annie verzweifelt gewesen. Und Samantha hatte sie im Stich gelassen. Selbst jetzt noch, nach all den Jahren, spürte Sam die Verzweiflung und die Panik des Mädchens. Ihre Beschämung.
»Ich habe versucht, auf sie einzuwirken, aber sie fand nicht die Kraft, sich jemandem, der ihr nahe stand, anzuvertrauen. Konnte oder wollte nicht mit einem Vertrauenslehrer oder jemandem aus der Gemeinde sprechen. Aus irgendeinem Grunde wurde sie wütend auf mich. Als wäre alles meine Schuld. Es war schrecklich! Einfach … schrecklich.« Sam atmete tief durch und sagte: »Dann, nachdem sie mich zum siebten oder achten Mal angerufen hatte, etwa drei Wochen, nachdem sie sich zum ersten Mal bei mir gemeldet hatte, wurde sie tot aufgefunden. Eine Überdosis, außerdem aufgeschlitzte Pulsadern. Die rezeptpflichtigen Schlaftabletten ihrer Mutter, einen kleinen Rest Wodka und eine blutige Gartenschere fand man bei der Leiche. Auf ihrem Computer wurde ein Abschiedsbrief entdeckt. Annie schrieb, dass sie sich schäme, sich allein gelassen fühle, dass niemand da sei, der ihr helfen könne, weder ihre Eltern noch ihr Freund noch ich.«
Sam entsann sich, wie sie am nächsten Tag die Titelseite der Zeitung mit dem Schwarzweißfoto von Annie Seger gesehen hatte. Ein hübsches, privilegiertes Mädchen, Kapitän der Cheerleader-Gruppe, Musterschülerin, tot durch Selbstmord.
Ein Mädchen, das schwanger gewesen war.
Und allein. Ein Mädchen, das um Hilfe gefleht und keine bekommen hatte.
Durch das Foto war Sam die ganze Tragödie des jungen Mädchens zum Bewusstsein gekommen. Sie war am Boden zerstört gewesen, und das Bild der lächelnden Annie verfolgte sie noch heute. »Danach habe ich den Job an den Nagel gehängt. Habe Urlaub genommen und mich bei meinem Dad verkrochen. Dann habe ich eine Praxis in Santa Monica eröffnet. Eleanor konnte mich nur mit großer Mühe dazu überreden, dass ich mich wieder hinters Mikrofon setzte und eine Sendung moderiere.« Sie zupfte mit den Fingern an ihrer Decke. »Und jetzt fängt alles von vorn an.«
»Und am Donnerstag wäre Annies fünfundzwanzigster Geburtstag?«
»Anscheinend.« Sam zuckte mit einer Schulter. Ihr war kalt bis in die Knochen. Obwohl es warm im Zimmer war, wickelte sie sich fester in die Decke ein. »Ich verstehe einfach nicht, warum jemand das alles jetzt wieder ans Licht zerren will.«
»Das verstehe ich auch nicht«, sagte Ty und schaute ihr eine Sekunde länger als nötig tief in die Augen. »Falls du etwas hörst oder siehst, was dir zu denken gibt – ganz gleich, was es ist –, ruf mich an.« Er zog einen Stift aus seiner Hosentasche, ging zum Nachttisch und schrieb etwas auf den Notizblock neben dem Telefon. »Das hier sind die Nummern, unter denen ich erreichbar bin – Festnetz und Handy. Verlier sie nicht.« Er riss das oberste Blatt ab, trat zu ihr an den Schaukelstuhl und reichte ihr den Zettel.
»Das würde mir nie passieren«, erwiderte sie und musste ein Gähnen unterdrücken.
Ty warf noch einen Blick auf das Bett mit der luftigen Bettdecke, den Zierkissen und dem gerüschten Baldachin. »Geh zu Bett, großes Mädchen. Du hast einen langen Tag gehabt.«
»Einen sehr langen«, pflichtete sie ihm bei. Es kam ihr so vor, als hätte dieser Tag eine Ewigkeit gedauert.
Zu ihrer Überraschung griff Ty nach ihren Händen, zog sie mitsamt der Decke aus dem Stuhl hoch und nahm sie in die Arme.
»Ruf mich an«, bat er und senkte den Kopf, sodass seine Stirn die ihre berührte.
Jeder Gedanke an Schlaf war ausgelöscht. Das gemütliche Zimmer mit den Dachschrägen schien zu schrumpfen. Wärmer zu werden.
»Auch dann, wenn du nur Angst bekommen solltest.« Mit einem kräftigen Finger hob er ihr Kinn an. »Versprich es mir.«
»Aber sicher. Pfadfinder-Ehrenwort«, sagte sie mit wild pochendem Herzen. Der Duft von altem Leder mischte sich mit einem verbliebenen Hauch von Aftershave und diesem männlichen Geruch, den sie schon sehr lange nicht mehr wahrgenommen hatte.
»Ich verlass mich drauf.«
Er betrachtete ihren Mund, und sie rechnete mit einem Kuss. O Gott. Ihr Hals wurde trocken, ihre Haut prickelte erwartungsvoll. Als wüsste er genau, was sie empfand, welche Art von Reaktion er in ihr hervorgerufen hatte, besaß er die Unverschämtheit zu lächeln, sein unwiderstehliches, freches Lächeln, das ihr den Atem nahm.
»Gute Nacht, Sam«, sagte er, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und ließ sie wieder los. »Achte darauf, dass du die Türen abschließt, und ruf mich an, wenn du Probleme hast.«
Du bist mein Problem, dachte sie, als er zur Tür hinausging. Verdammt noch mal, Ty Wheeler, du bist mein größtes Problem!
Zwei Stunden später saß Ty vor seiner Tastatur, den Hund zu seinen Füßen, die Fenster geöffnet, um die frische Brise einzulassen, und blätterte in seinen Notizen. Während er seine Aufzeichnungen zu Annie Seger durchging, schmolzen die Eiswürfel in dem Drink, der nahezu vergessen auf seinem Schreibtisch stand. Er kannte sie auswendig, und doch studierte er sie, als hätte er Annies Namen nie zuvor gehört.
Was lächerlich war, denn schließlich war er entfernt mit ihr verwandt.
Seine Cousine dritten Grades. Der Grund dafür, dass er von dem Fall suspendiert worden war.
Er las die vergilbten Zeitungsausschnitte, las die Tatsachen, die er sich schon vor langer Zeit eingeprägt hatte: Zu verängstigt, um ihren Eltern zu gestehen, dass sie schwanger war, suchte sie Rat bei einer ortsansässigen Radiopsychologin, bei Dr. Samantha Leeds, doch deren Rat konnte sie nicht befolgen. Sie fühlte sich von aller Welt verlassen, und als der Vater des Kindes ihr zu verstehen gab, dass er keine Lust habe, eine Familie zu gründen, ging sie in ihr Zimmer, schaltete den Computer ein, schrieb einen Abschiedsbrief und nahm Schlaftabletten mit Wodka ein. Als sich dieser Cocktail als nicht ausreichend erwies, schlitzte sie sich die Pulsadern auf.
Es war ein Skandal gewesen, der das wohlhabende Viertel in Houston erschüttert hatte. Bald danach war Dr. Sams Sendung aus dem Programm genommen worden, aber keineswegs wegen zu niedriger Hörerzahlen. Im Gegenteil, die Beliebtheit der Sendung hatte sich ins Maßlose gesteigert, und Dr. Sam war quasi berühmt geworden – oder vielmehr berüchtigt.
Doch Samantha Leeds hatte, wie es aussah, mit dem zweifelhaften Ruhm nicht leben können. Sie hatte die Sendung aufgegeben, dem Radiosender den Rücken gekehrt und sich als Psychologin niedergelassen. Und vor einem halben Jahr war sie von ihren Exkollegen aus Houston nach New Orleans gelockt worden.
Ty nahm einen Schluck von seinem Drink. Zerbiss ein Stück Eis zwischen den Zähnen.
Er erinnerte sich deutlich an alles, was Annie Seger betraf. Er war als einer der Ersten in ihrem Elternhaus eingetroffen und hatte miterlebt, wie ihre gesamte Familie mit einem Schlag zerstört worden war.
Annie war ein hübsches Mädchen gewesen, mit ein paar Sommersprossen auf der Nase, kurzem rötlichem Haar und blitzenden blaugrünen Augen.
Ein unnützer Tod.
Eine Schande.
Ty ging, seinen Drink in der Hand, nach draußen und lauschte dem Plätschern der Wellen am Anleger. Sasquatch folgte ihm und trottete, die Nase im Wind, von der Veranda hinunter in den Garten, wo er an einer stattlichen immergrünen Eiche sein Bein hob.
Während der Hund zwischen den Bäumen hindurchtrabte und am Boden schnupperte, zirpten Grillen, und ein einsamer Frosch quakte. Ty blickte zur Strahlender Engel hinüber, die mit gerefften Segeln sanft am Dock schaukelte. Irgendwo in der Ferne heulte gedämpft eine Sirene. Am Horizont zeigte sich das erste graue Licht des anbrechenden Morgens.
Ty dachte an Samantha Leeds, die nur eine Viertelmeile weit von ihm entfernt war.
Eine schöne Frau.
Eine intelligente Frau.
Eine verdammt faszinierende Frau.
Eine Frau, mit der er gern immer und immer wieder schlafen würde. Während er sich selbst einen Idioten nannte, stellte er sich vor, wie es wäre, mit ihr ins Bett zu gehen, ihren schweren Atem zu hören oder ihre Haut, weich wie Seide, an seinem Körper zu spüren.
Kein Zweifel, sie ging ihm unter die Haut.
Und er ließ es zu.
Was ein kolossaler Fehler war.
Er leerte sein Glas und pfiff, schon auf dem Weg ins Haus, seinen alten Schäferhund herbei.
Das Letzte, das Allerletzte, was er sich erlauben konnte, war, sein Ziel aus den Augen zu verlieren, seine Objektivität aufzugeben. Er hatte sich etwas geschworen, und niemand, schon gar nicht die Radiopsychologin, die seine Cousine in ihrer Not angerufen hatte, würde ihn aufhalten können.
»Warum haben Sie mir nicht geholfen, Dr. Sam? Warum nicht?«
Die Stimme klang jung und unsicher und schien von weither aus den Nebelschwaden und dichten Bäumen zu kommen. Samantha folgte der Stimme; mit klopfendem Herzen und atemlos versuchte sie, durch die mit Spanischem Moos behangenen Äste zu spähen, die ihr die Sicht raubten.
»Annie? Wo bist du?«, rief sie, und der Wald warf das Echo ihrer Stimme laut zurück.
»Hier drüben …«
Sam lief los, stolperte über Wurzeln und Ranken, blinzelte in die Dunkelheit und hörte über den einsamen Schrei einer Eule hinweg in der Ferne die Geräusche der Autobahn. Warum hatte Annie sie hierher gelockt, was wollte sie von ihr?
»Ich finde dich nicht.«
»Weil Sie sich nicht genug Mühe geben.«
»Aber wo …« Sie durchbrach die dichte Reihe der Bäume und erblickte ein Mädchen, ein hübsches Mädchen mit kurzem roten Haar und großen Augen, aus dessen Zügen wilde Angst sprach. Es stand mitten auf einem Friedhof mit Grabsteinen und ausgehobenen Särgen, nur durch einen filigranen schmiedeeisernen Zaun von Samantha getrennt. In den Armen hielt sie ein Baby in zerfetzten Windeln. Das Baby weinte, jammerte kläglich, als hätte es Schmerzen.
»Tut mir leid«, sagte Sam und ging auf der Suche nach dem Eingang am Zaun entlang, um zu Annie zu gelangen.
»Ich habe Sie angerufen. Ich habe Sie um Hilfe gebeten. Und Sie haben mich abgewiesen.«
»Nein, ich wollte dir helfen, wirklich!«
»Sie lügen!«
Sam strich mit den Fingern am Zaun entlang, lief schneller, hielt nach dem Eingang Ausschau, aber ganz gleich, um wie viele Ecken sie bog, wie weit sie durch den aufsteigenden Nebel lief – sie konnte das Tor nicht entdecken, konnte das Mädchen mit dem Baby, dessen Weinen ihr das Herz zerriss, nicht erreichen.
»Zu spät«, sagte Annie. »Sie kommen zu spät.«
»Nein, ich kann dir helfen.«
Dann sah sie, wie sich das Mädchen bewegte und die Babydecke ausschüttelte. Als sich die Decke öffnete, schrie Sam auf. Sie rechnete damit, dass das Kind zu Boden fiel, doch die abgenutzte Decke enthielt nichts, das Baby war verschwunden.
»Zu spät«, sagte Annie noch einmal.
»Nein. Ich helfe dir, versprochen«, entgegnete Sam schwer atmend und mit dem Gefühl, dass ihre Füße in Beton gegossen waren.
»Nicht …«, warnte eine männliche Stimme.
Tys?
Johns?
Sie fuhr herum, konnte im dunklen Wald jedoch nichts erkennen. »Wer bist du?«, rief sie, doch sie erhielt keine Antwort.
Irgendwo in der Ferne sang jemand »American Pie«.
Der Nebel wurde dichter. Sam lief schneller. Ihre Beine waren schwer wie Blei, doch sie musste zu Annie gelangen, mit ihr reden, bevor sie … Bevor sie was?
Sam riss die Augen auf.
Der Radiowecker spielte noch die letzten Töne des Songs, der sie im Traum verfolgt hatte.
Sonnenschein fiel durch die Fenstertüren, und über ihr quirlte der Ventilator die Morgenluft in ihrem Schlafzimmer.
Sie war zu Hause. In ihrem Bett. In Sicherheit.
Der Traum zog sich zurück in die hintersten Winkel ihres Bewusstseins, wo er hingehörte, doch sie war schweißgebadet, ihr Kopf dröhnte, ihr Herz raste. Alles war so real gewesen. Viel zu real. Und sie wusste: Der Traum würde wiederkehren.