16. Kapitel
Bentz machte sich auf Schlimmes gefasst.
Samantha Leeds ging zwischen den Schreibtischen im Vorzimmer hindurch auf sein Büro zu.
Sie trug einen vorn durchgeknöpften Rock und eine ärmellose weiße Bluse und sah sehr gut aus. Ihre entschlossene Miene verriet, dass sie Antworten wollte und erst wieder gehen würde, wenn sie diese erhalten hatte.
»Hallo, Detective Bentz«, sagte sie schon an der Tür. Stufig geschnittenes rötliches Haar rahmte ein herzförmiges Gesicht mit Wangenknochen, für die manches Model hätte zur Mörderin werden mögen. Grüne Augen richteten sich auf Bentz und ließen ihn nicht mehr los.
Montoya musterte sie rasch von Kopf bis Fuß, und augenscheinlich gefiel ihm, was er sah. Er war im Begriff gewesen zu gehen, nahm jetzt jedoch seinen Platz beim Aktenschrank wieder ein. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu und näherte sich dann Bentz’ Schreibtisch.
»Kann ich Sie sprechen?«, fragte Sam. »Jetzt sofort?«
Bentz’ Telefon klingelte erneut.
»Ja. Bitte gedulden Sie sich einen Augenblick.« Er griff nach dem Hörer und nahm dann den Anruf entgegen. Er führte nur ein kurzes Gespräch mit einem Kollegen im Labor, der ihn über die Art der Fasern, die an den Leichen der zwei Prostituierten gefunden worden waren, unterrichtete – welche Hersteller jenes synthetische Material für ihre Perücken verwendeten. Es ging vor allem um die roten Perücken, die an den Tatorten gefehlt hatten. Der Techniker bestätigte, dass die bei den Leichen gefundenen Haare identisch waren. Das wie auch alle übrigen Beweisstücke stellte klar, dass es sich um einen Mörder handelte, der zwei Frauen auf dem Gewissen hatte. Bisher. Der detaillierte Bericht sollte Bentz noch gefaxt werden. Die Leute vom FBI würden durchdrehen. Bentz legte auf und wandte sich der Frau zu, die vor seinem Schreibtisch stand. Sie bemühte sich um eine kühle, gefasste Haltung, doch sie war sichtlich nervös. Ihre Finger spielten mit dem Riemen ihrer Handtasche, und sie trat von einem Fuß auf den anderen.
»Nehmen Sie Platz«, forderte er sie auf, dann deutete er auf Montoya. »Mein Partner. Detective Montoya. Reuben, das ist Dr. Leeds, auch bekannt unter dem Namen Dr. Sam.«
Samantha ließ sich in einem der abgeschabten Stühle neben dem Schreibtisch nieder.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, schmeichelte Montoya ihr und bot seinen geballten Latino-Charme auf.
»Danke.« Sie nickte. »Vermutlich haben Sie schon gehört, was gestern Nacht geschehen ist.«
»Wir haben gerade das Protokoll bekommen.«
»Was halten Sie davon?«
»Ich denke, dass dieser Typ nicht aufhören wird. Dass er einen regelrechten Rachefeldzug gegen sie führt.« Bentz schob sich die Ärmel bis zu den Ellbogen hoch und fragte: »Was halten Sie von der Sache?«
»Ich glaube, derjenige, der mir die Karte geschickt hat, meint, ich hätte Annies Tod zu verantworten, und der Anrufer, der sich als John vorgestellt hat, steht irgendwie in Beziehung zu Annie – wenn ich auch nicht weiß, auf welche Weise.«
»Erzählen Sie mir von ihr.«
Samantha sammelte sich kurz, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und hielt die Handtasche auf ihrem Schoß umklammert. »Vor fast zehn Jahren habe ich eine ähnliche Sendung in Houston moderiert. Ein Mädchen namens Annie rief an. Sie war sechzehn, schwanger und außer sich vor Angst. Ich habe versucht, ihr zu helfen, ihr den richtigen Weg zu weisen, aber …« Samantha wurde blass und sah aus dem Fenster. Eine Hand ballte sich zur Faust und öffnete sich langsam wieder. »Ich wollte … Ich meine, ich hatte keine Ahnung, wie verzweifelt sie war und …« Sams Stimme versagte für einen kurzen Moment. Sie atmete tief durch und räusperte sich, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Annie sagte, sie habe niemanden, dem sie sich anvertrauen könne, und … dann hat sie sich umgebracht. Offenbar gibt jemand mir die Schuld daran.«
»Und gestern Nacht hat jemand, der sich als Annie ausgab, Sie in Ihrer Sendung angerufen«, half Montoya ihr auf die Sprünge.
»Ja.« Sam nestelte an der Goldkette, die sie um den Hals trug, und wich Bentz’ Blick aus. »Natürlich war sie nicht Annie. Ich … ich war auf ihrem Begräbnis, das heißt … ich wollte dorthin, aber man forderte mich sofort auf, wieder zu gehen … Auf jeden Fall ist Annie Seger, die Annie Seger, die mich vor neun Jahren in Houston angerufen hat, eindeutig tot.« Sie blinzelte hektisch, doch sie verlor nicht die Beherrschung.
»Auf dem Begräbnis hat man Sie vertrieben?«, hakte Bentz nach.
»Ja. Die Familie machte mich verantwortlich für Annies Selbstmord.«
Er griff nach seinem Bleistift. »Die Familie?«
»Ihre Eltern, Estelle und Jason Faraday.«
»Ich dachte, ihr Name war Seger.«
»Ja, sie hieß Seger, aber ihre Mutter und ihr leiblicher Vater waren geschieden, und die Mutter hat den Namen ihres zweiten Mannes angenommen.«
Während das Rumpeln eines Lastwagens von der Straße heraufdröhnte, kritzelte Bentz etwas auf einen Block und fing einen Blick Montoyas auf. »Was ist mit ihrem leiblichen Vater?«
»Ich – ich weiß es nicht. Das heißt, ich habe recherchiert, nachdem … Ich glaube, damals lebte er irgendwo im Nordwesten.« Sie zog die Brauen zusammen, und ihre glatte Stirn furchte sich.
»Sein Name?«
»Wally … Oswald Seger, glaube ich. Oder so ähnlich.« Sie brachte ein schmales, freudloses Lächeln zustande. »Vor neun Jahren hätte ich Ihnen das alles noch genauer sagen können. Dafür habe ich quasi gelebt. Ich habe versucht, die Sache zu begreifen, aber dann … na ja, dann habe ich beschlossen, sie hinter mir zu lassen.«
Das konnte Bentz ihr nicht verdenken, doch jetzt musste all das wieder ans Tageslicht gezerrt werden; dafür hatte derjenige, der Samantha Leeds terrorisierte, gesorgt. »Haben Sie schriftliche Aufzeichnungen? Namen, Adressen, sonst irgendwas?«
Sie zögerte; ihre Augen wurden schmal. »Ja, ich habe eine Kiste voller Notizen und Kassetten und so weiter. Bevor ich umgezogen bin, hätte ich sie beinahe weggeworfen, aber dann habe ich sie doch mitgenommen und mit dem Weihnachtsschmuck und alten Steuerbelegen auf den Dachboden gestellt. Ich kann sie Ihnen gern vorbeibringen.«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie die Sachen gefunden haben, dann lasse ich sie abholen. Ich möchte gern alles sehen, was Sie haben.« Er machte sich eine Notiz und fügte hinzu: »Was wissen Sie sonst noch über Annie? Hatte sie weitere Verwandte oder enge Freunde?«
»Einen Bruder. Ken, nein … Kent.«
»Und der Freund? Der Vater ihres Kindes?«
»Ryan Zimmerman, glaube ich. Er war ein paar Jahre älter. Ein großer Sportler, soviel ich weiß, aber ich erinnere mich nicht mehr so richtig.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe lange gebraucht, um alles zu vergessen.« Die Linien um Mund und Augen verrieten ihre Anspannung. Die Frau Doktor nahm sich ziemlich zusammen, doch die Belästigungen und Drohungen machten ihr sichtlich zu schaffen. Sie schwitzte, und die dunklen Ringe unter ihren Augen ließen vermuten, dass sie in den letzten Tagen nicht viel Schlaf bekommen hatte.
»Ich habe mir die Aufzeichnungen angehört«, erklärte Bentz. »John hat erneut angedeutet, dass Sie Prostituierte gewesen seien. Was soll das?«
»Er ist nicht richtig im Kopf.«
»Also steckt kein Körnchen Wahrheit darin?«
Abrupt sprang sie auf und beugte sich über den Schreibtisch, die Handflächen auf einen Stapel von Briefen und Akten gestützt. Die Niedergeschlagenheit, die Bentz noch kurz zuvor bei ihr festgestellt hatte, war verflogen. Auf ihren Wangen zeichneten sich zwei rote Flecken ab. »Ich dachte, das hätte ich längst klargestellt!«, schnappte sie, und ihre grünen Augen sprühten Feuer. »Ich habe mich noch nie im Leben, nicht eine Sekunde lang, in irgendeiner Form als Prostituierte verdingt …« Ihre Stimme wurde dünner, und sie schloss die Augen, als würde sie um Fassung ringen. Bentz’ Magen krampfte sich zusammen. Er bemerkte, dass auch Montoya aufhorchte. Er hatte ins Schwarze getroffen. »Hören Sie«, sagte sie ruhig. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. »Ich habe mich nie verkauft, doch es gab eine Zeit, als ich auf dem College war, in der ich im Rahmen einer Forschungsarbeit die Bekanntschaft einiger Straßenmädchen gesucht habe … hier in New Orleans. Ich bin mit ihnen auf die Straße gegangen, habe beobachtet, wie sie ihr Geld verdienten, welche Sorte von Männern sie auflasen, wie sie eine gute Nummer von einer schlechten unterschieden –Psychogramme von Prostituierten. Es ging nicht nur um das älteste Gewerbe der Welt, sondern um die Subkultur der Stadt bei Nacht.« Sie ließ sich langsam wieder nieder und schaute Bentz offen an. »Aber ich verstehe nicht, was das mit dieser Sache zu tun haben soll …«
»Das haben Sie für ein Seminar gemacht?«, wollte Montoya wissen, und der Zweifel in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Ja!« Ihr Kopf fuhr herum. »Und ich habe eine sehr gute Note bekommen!«
»Lässt sich irgendwie nachweisen, dass Sie an dem Seminar teilgenommen haben?«
»Hören Sie, ich bin nicht hierher gekommen, um mich beleidigen zu lassen. Falls Sie mir nicht glauben, können Sie sich an meinen Professor wenden … O Gott.« Sie biss heftig die Zähne zusammen und hob den Blick zur Zimmerdecke, als suchte sie nach Spinnweben.
»Was denn?«
»Mein Professor damals war mein heutiger Exmann«, erklärte sie und schüttelte leicht den Kopf. »Ich, hm, ich war Studentin bei ihm. Aber Sie können ihn anrufen. Dr. Jeremy Leeds an der Tulane-Universität.«
»Wir werden das überprüfen.« Plötzlich wirkte Samantha Leeds müde, fiel beinahe in ihrem Sessel in sich zusammen. Als hätte ihr Ausbruch sie aller restlichen Energie beraubt. Doch sie würde sie zurückgewinnen. Bentz war ein Menschenkenner, und diese Frau, dessen war er sich sicher, war eine Kämpferin.
»Wer weiß, wo Sie Ihren Wagen parken?«
»Alle, die im Rundfunkgebäude arbeiten. Wir alle benutzen dieses Parkhaus … Ein paar von meinen Freunden wissen das wohl auch. Es wäre außerdem nicht schwer zu erraten, denn das Parkhaus liegt meinem Arbeitsplatz am nächsten. Mein Auto ist auch nicht leicht zu übersehen, ein 1966er Mustang.« Sie ballte im Schoß die Hände zu Fäusten. »Hören Sie, Detective, gestern Nacht war ich halb wahnsinnig vor Angst«, gab sie zu. »Und das Gefühl mag ich nicht sonderlich.«
»Ich kann es Ihnen nachempfinden. Ich an Ihrer Stelle würde nicht mehr allein ausgehen, und es war auch mein voller Ernst, als ich Ihnen geraten habe, sich einen Rottweiler anzuschaffen. Vielleicht sogar einen Leibwächter.«
Sie stand wieder auf, straffte den Rücken, bereit, erneut aufzubrausen. »Einen Leibwächter?«, wiederholte sie. »Das ist köstlich. Wissen Sie, es ärgert mich maßlos, dass dieser Kerl mit seiner Masche durchkommt, dass er weiß, wo ich wohne und wo ich arbeite und was für einen Wagen ich fahre. Es kann nicht angehen, dass ich wegen irgendeines Mistkerls meine gesamte Lebensweise umstelle.«
»Sie haben Recht, es kann eigentlich nicht angehen, und doch müssen Sie es tun«, entgegnete Rick mit fester Stimme, sah sie eindringlich an und hoffte, ihr seinen Standpunkt klar gemacht zu haben. »Miss Leeds, dieser Kerl ist in meinen Augen gefährlich. Seine Drohungen werden schärfer, er wird immer dreister, und da wir nicht wissen, wer er ist und wie er tickt, müssen Sie außerordentlich vorsichtig sein und besondere Maßnahmen ergreifen, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Ich werde die Polizei in Cambrai anrufen und dafür sorgen, dass in Ihrer Straße häufig patrouilliert wird, und wir überwachen die Umgebung Ihres Arbeitsplatzes, wenn Sie im Dienst sind. Wir versuchen, den Kerl am Kragen zu packen, aber ohne Ihre Hilfe schaffen wir das nicht. Verstehen Sie?«
»Natürlich«, sagte sie.
»Wir tun, was wir können.«
»Danke.« Sie reichte Bentz wie auch Montoya die Hand, legte sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und ging zur Tür hinaus, ohne zu bemerken, dass Reuben den Schwung ihrer Hüften unter dem Rock und das leichte Nachziehen ihres linken Beins beobachtete.
Er pfiff leise durch die Zähne. »Falls sie zu dem Schluss kommt, dass sie doch einen Leibwächter benötigt, lass es mich wissen, denn ich würde liiiebend gern auf die Süße aufpassen.«
»Ich werde an dich denken«, versprach Bentz trocken und grübelte bereits wieder über den Zusammenhang zwischen dem Anrufer und dem toten Mädchen in Houston nach. »Wir müssen so viel wie möglich über Annie Seger in Erfahrung bringen. Über ihre Kontakte, über ihre Familie, ihren Freund, einfach über alles. Und jeden überprüfen, der irgendwie mit Dr.Sam zu tun hat.« Er tippte mit dem Radiergummi-Ende des Bleistifts auf die Schreibtischkante. »Dieser Fall wird von Minute zu Minute merkwürdiger.«
»Vielleicht ist das so gewollt«, mutmaßte Reuben, fuhr über seinen Kinnbart und verfolgte mit den Augen versonnen den Weg, den Samantha Leeds zwischen den Schreibtischen hindurch genommen hatte.
»Wie meinst du das?«
»Du hast die Sendung doch gehört, oder? Und, hat sie nicht dein Interesse geweckt?«
»Natürlich, das ist schließlich mein Fall.«
»Ich weiß, ich weiß«, lenkte Reuben ein und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Aber ich möchte wetten, dass in Dr. Sams Sendung die Hörerzahlen in die Höhe schießen, und das kann doch nur gut fürs Geschäft sein. Also her mit den Merkwürdigkeiten. Je merkwürdiger, desto besser.«
»Du glaubst, es ist Schiebung?«
»Könnte doch sein.« Reuben ließ sein schlaues Lächeln aufblitzen. »Genauso wie in diesen Seelenstriptease-Fernsehsendungen, in denen der Moderator ein ganz normal wirkendes Ehepaar vorstellt, dann die Tussi hinzuholt, mit der der Kerl seine Frau betrügt, und schon liegen sich die beiden Frauen in den Haaren … Das ist alles vorab geplant. Und das Publikum im Studio und vor dem Bildschirm lässt sich mitreißen. Im nächsten Moment kommt dann noch irgendwer hinzu – der Bruder oder die Schwester des Ehemanns, und es stellt sich heraus, dass die Ehefrau was mit ihm hatte – oder mit ihr. Jetzt toben die Zuschauer.«
Bentz lehnte sich in seinem Stuhl zurück, hielt den Bleistift mit beiden Händen fest und rollte ihn zwischen den Fingern. »Glaubst du, dass Dr. Sam eingeweiht ist?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ihre Angst scheint echt zu sein, aber womöglich ist sie auch eine ausgebildete Schauspielerin; zum Kuckuck, sie tritt im Radio auf! Aber all dies ist schon einmal passiert, und damals hat sie mit dem gleichen Team zusammengearbeitet, nicht wahr? Mit George Hannah und Eleanor Cavalier. Vielleicht stecken noch andere mit drin. Ich wette mein Monatsgehalt darauf, dass irgendwer beim Sender weiß, was da läuft, und dass es um Kohle geht.«
»Du glaubst ja immer, dass es um Kohle geht«, knurrte Bentz, obwohl seine Gedanken schon eine ähnliche Richtung eingeschlagen hatten. Er hatte George Hannah kennen gelernt, hielt den Mann bestenfalls für einen Angeber, schlimmstenfalls für einen ausgemachten Betrüger. Die Programmmanagerin, eine kluge Schwarze, war als eisenhart bekannt, und Montoya hatte Recht: Beide hatten in Houston mit Dr. Sam zusammengearbeitet. Bentz ließ seine Knöchel knacken und dachte nach. Was ihn am meisten beschäftigte, war dieses Gefühl im Bauch, dass der Typ, der mitten in der Nacht Dr. Sam anrief, irgendwie mit den Prostituiertenmorden in Beziehung stand. Hinweise darauf waren dünn gesät – höchstens die Haare aus roten Perücken, deren Rot der Haarfarbe Samantha Leeds’ so ähnlich war, außerdem das Foto mit den ausgestochenen Augen, die an die geschwärzten Augen auf den Hundertdollarscheinen erinnerten. Das war nicht eben viel.
»Und ich habe Recht damit«, beharrte Montoya. »In dieser Art von Fällen wechselt zu neunundneunzig Prozent Geld den Besitzer.«
»Warum ruft dieser John dann nach der Sendung an? Was bringt ihm das ein? Da hört ihn ja niemand.«
»Das könnte alles Teil der Täuschung sein. Wenn die Presse Wind davon bekommt, dass der Stalker nicht nur während der Sendung, sondern auch hinterher anruft, wird sie sich erst recht auf die Story stürzen. Der Spinner meint offenbar die Frau Doktor persönlich, und falls sie nicht mit den Verantwortlichen unter einer Decke steckt, macht ihr das eine Heidenangst.«
Genau das lag Bentz schwer im Magen, doch er konnte sich dieser Logik nicht entziehen. »Dann beweise es«, forderte er Montoya auf, und der freche junge Bursche antwortete ihm mit einem selbstsicheren Lächeln.
»Das tu ich.«
Dummköpfe.
Bei der Polizei arbeiteten nur Dummköpfe.
Begriffen sie denn nicht? Sahen sie wirklich keinen Zusammenhang?
Konnten sie nicht zwei und zwei zusammenzählen, verdammt noch mal?
Draußen vor der Hütte quakten die Ochsenfrösche. Die schwüle Luft drang durch die offenen Fenster und die Ritzen in den Wänden herein. Während er den Artikel über seinen jüngsten Mord las, der auf den hinteren Seiten der Zeitung stand, weit entfernt von den Schlagzeilen der Titelseite, schlug er nach einer Mücke.
Der Presse war anscheinend nichts über eine Verbindung zwischen den beiden Morden zu Ohren gekommen – obwohl er so sorgsam darauf bedacht gewesen war, alle möglichen Hinweise zu hinterlassen … Scheiße, dachte er und schnitt, sorgsam auf glatte Ränder und einen Rahmen achtend, den erbärmlichen Artikel mit seinem Messer aus. Mondlicht brach durch den aufsteigenden Nebel, fiel in den winzigen Raum und verstärkte das Licht der einzelnen Laterne mit seinem bläulichen Schimmer. Ihm war heiß. Er fühlte sich unbehaglich. Unruhe erfüllte ihn. Er musste noch etwas unternehmen, um ihre Beachtung zu finden. Es war an der Zeit. Er warf einen Blick aus dem Fenster, sah den Schatten einer vorüberfliegenden Fledermaus und spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.
Sobald er das Radio einschaltete, ging sein Atem flach. Er vernahm die vertrauten Klänge von »A Hard Day’s Night« über monotones Knistern hinweg und dann ihre Stimme. Dunkel. Ungeheuer sexy.
»Hallo, New Orleans, und herzlich willkommen. Hier ist Dr. Sam auf WSLJ, und wieder einmal ist es Zeit für die ›Mitternachtsbeichte‹, eine Sendung, die dem Herzen wie auch der Seele gut tut. Heute Nacht reden wir über die Highschool. Einige von euch stecken noch mittendrin, für andere liegt diese Zeit schon eine Weile zurück, vielleicht sogar länger, als ihr euch eingestehen möchtet. Wie auch immer, wir alle haben eine Highschool besucht, ob eine private oder öffentliche, eine staatliche oder kirchliche. Und wir alle haben den Gruppenzwang und den Drang zur Rebellion erfahren, den süßen Schmerz der ersten Liebe und den stechenden Schmerz des Abgewiesenwerdens. Erinnert ihr euch an euren ersten Schultag? Wie nervös ihr wart? Wie steht’s mit der ersten Begegnung mit eurer Jugendliebe? Dem ersten Kuss … und vielleicht so manchem mehr? Erzähl mir davon, New Orleans … Gestehe …«
Das Blut rauschte in seinen Ohren. Die Fotze wollte über die Highschool sprechen? Und über die erste Liebe?
Schweiß trat ihm auf die Stirn und rann an seinem Rücken hinab. Er ging zum Schrank hinüber und befestigte seine neueste Trophäe – ein winziges Stück bedrucktes Papier – innen an der Tür, währenddessen stellte er sich Dr. Sams Gesicht vor.
Perfekte weiße Haut, das Haar in einem tiefen, dunklen Rot, volle Lippen, hinter denen eine äußerst spitze Zunge lauerte, und Augen in der Farbe von Jade. Und genauso kalt war sie. Herrgott, sie erregte ihn. Dabei war sie ein Miststück. Er lauschte ihrer Stimme, die die Unschuldigen zum Anrufen verlockte, zur Beichte, zur Bitte um Rat.
»Mit wem spreche ich?«
»Hier ist Randy.«
Seine Erektion drängte schmerzhaft gegen den Reißverschluss seiner Jeans.
»Was gibt’s, Randy?«
»Na ja, hm, die Highschool war für mich von großer Bedeutung. Ich war Footballspieler, unten in Tallahassee, und, hm, da habe ich meine Frau kennen gelernt. Sie war die Homecoming Queen, und, Mann, sie war total hübsch. Ich habe nie eine schönere Frau gesehen als Vera Jean.«
Ja, ja, wen interessiert das?
»Und was hast du getan?«
»Ich habe sie geheiratet, ganz einfach. Das war vor fünfunddreißig Jahren. Wir haben vier Kinder und zwei Enkelkinder, und das dritte ist unterwegs.«
»Also hast du recht positive Erinnerungen an die Highschool?«
»Ja. O ja. Aber für meine Kinder sah es ganz anders aus. Der Älteste hatte mit Drogen zu tun, die Zweite, na ja, ich glaube, die hat sich gut gehalten, aber dann die Dritte … In der Mittelstufe wurde sie schwanger, von einem Jungen, der nichts taugte. Wollte sie nicht heiraten.«
»Wie geht es deiner Tochter heute?«, wollte Dr. Sam wissen, als ob es ihr wichtig wäre, als ob sie einen klugen Ratschlag zu vergeben hätte.
Er verzog höhnisch den Mund. Ihm blieben noch zwei Stunden, dann würde er sie anrufen. Sie warnen … ja, ihr sagen, dass es kurz bevorstand. Und dann würde er auf die Jagd gehen.
Irgendeine Frau würde in dieser Nacht genügen. Er lauschte Dr. Sams Stimme und hätte gern onaniert. Wenn er doch mit ihr zusammen sein könnte! Er berührte sich flüchtig, strich mit den Fingerspitzen über seinen Hosenstall. Nein … so nicht! Erst, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. Er hatte noch einiges zu erledigen. Unrecht musste wieder gutgemacht werden. Er dachte an die Frauen … all diese Frauen, die ihn an Annie erinnerten, lügende, hurende Fotzen, und an den einzigen Mann, mit dem er sich beschäftigen musste, einen Mann, der Annie verraten hatte. Du Judas! Auch du wirst bezahlen müssen. Wut kochte in ihm hoch, in seinem Kopf dröhnte es, und noch immer hörte er Dr. Sams Stimme.
Es brauste noch lauter in seinen Ohren.
Er konnte Dr. Sam nicht haben – nicht in dieser Nacht. Es war nicht der richtige Zeitpunkt. Außerdem hatte er noch etwas für sie geplant, eine Überraschung. Zu Annies Geburtstag. Wenn alles nach Plan lief, würde Dr. Sam sein persönliches Geschenk morgen Nacht entdecken. Er hätte dann liebend gern ihr Gesicht gesehen, doch das Risiko durfte er nicht eingehen. Er würde warten müssen. Bis zum passenden Augenblick.
Aber bald … O Gott, es musste bald geschehen! Seine Lust, sein Zorn und Rachedurst sowie sein Begehren waren so groß. Sein Schwanz pochte. Er musste sich noch einmal mit einem Ersatz zufrieden geben … noch eine Hure finden, die die Wut in seiner Seele besänftigte, das Verlangen stillte, das in seinen Adern brodelte, eine Hure, die er opfern konnte.
Er wusste, dass er ein Sünder war, doch er vermochte sich nicht dagegen zu wehren … Sein Körper stand in Flammen.
Er griff in seine Tasche und zog seinen präparierten Rosenkranz hervor. Die spitzen Perlen glitzerten im Laternenlicht, blinzelten ihm zu, versprachen ihm, seinem Willen zu gehorchen.
Dann fiel er auf die Knie und begann zu beten.
Während Dr. Sams Stimme aus dem kleinen Radio drang, ließ er die scharfkantigen Perlen durch seine Finger gleiten und flüsterte: »Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist …«