10. Kapitel
Was hat er deiner Meinung nach damit sagen wollen? ›Das alles ist deine Schuld‹?«, fragte Montoya, zerdrückte seinen Kaffeebecher aus Pappe und warf ihn über Rick Bentz’ Schreibtisch hinweg in den Mülleimer in der Ecke.
»Zwei Punkte«, sagte Rick automatisch.
»Drei, Mann. Das war ein Treffer, wie er im Buche steht. Ich habe aus zig Metern Entfernung mitten ins Ziel getroffen.«
»Wenn du meinst.« Rick blätterte in den Berichten über Rosa Gillette und Cherie Bellechamps.
»Also – was hat der Anrufer damit sagen wollen?«, fragte Montoya.
»Ich weiß es nicht.« Rick kratzte sich am Kinn und dachte über sein Gespräch mit der Psychologin nach.
»Du solltest dir darüber keine Gedanken machen. Wir haben auch so schon genug zu tun.«
»Ich tu, was Jaskiel sagt.« Rick schob die Berichte zur Seite. »Hör zu, Montoya, du und ich, wir wissen beide, dass ich mich glücklich schätzen kann, diesen Job bekommen zu haben. Dass ich ein eigenes Büro habe, ist unglaublich.«
»Du hast es verdient, Mann. Du hast deine Jahre abgeleistet.«
»In L.A.«
»Du bist in Schwierigkeiten geraten. Na und? Alles, was zählt, ist: Du kennst dich aus in diesem Scheißmetier, sonst wärst du nicht hier, oder?«
Montoya hatte Recht. Zwanzig Jahre lang bei der Polizei von Los Angeles, das hieß schon etwas, aber dennoch war er froh, überhaupt einen Job zu haben. Zu behaupten, die Empfehlungsschreiben seiner Vorgesetzten in Los Angeles seien nicht glänzend gewesen, wäre eine grobe Untertreibung. Das wusste hier jeder. Einschließlich Montoya. Nicht jeder verstand die Gründe. Rick wand sich innerlich, wenn er an sie dachte … an einen unglückseligen Jungen, der zufällig eine – wie sich wenig später herausstellte – Spielzeugpistole auf seinen Partner gerichtet hatte. Bentz hatte reagiert, und deswegen hatte ein Zwölfjähriger sterben müssen. Die Familie hatte ihn verklagt, mit Recht, und Bentz war mit einer Bewährungsstrafe davongekommen. Er hätte vielleicht sogar seine Dienstmarke zurückerhalten – wenn er nicht ein paar Jahre lang dem Alkohol verfallen gewesen wäre. Die maßgeblichen Kräfte im Los Angeles Police Department waren zu dem Schluss gelangt, dass er mehr Ärger brachte, als er wert war – eine Medienkatastrophe. »Ja«, sagte er jetzt als Antwort auf die Frage des jüngeren Polizisten. »Ich kenne mich aus in dem Scheißmetier.« In jeder Beziehung. Und es stinkt.
»Also erzähl mir nicht so einen Blödsinn, es wäre nur ein Glückstreffer gewesen, dass du den Job gekriegt hast. Jaskiel hat dich eingestellt, damit du die Fälle bearbeitest, die sie dir übergibt, weil sie Vertrauen in dich hat, weil sie weiß, dass du dir rund um die Uhr den Arsch aufreißt. So, wie ich das sehe, brauchst du sowieso keine Freizeit. Was erwartet dich denn schon zu Hause?«, fragte Montoya. »Da deine Kleine jetzt bald aufs College geht, hast du keinen Grund mehr, abends nach Hause zu kommen, oder?«
»Noch wohnt Kristi zu Hause«, wandte Bentz ein und dachte an seine Tochter, das Einzige, was ihm von seiner Familie geblieben war. Kristis Mutter, Jennifer, war tot. Sie hatte sich schon vor langer Zeit von Bentz scheiden lassen, und alle Welt glaubte, sein Job wäre der Grund gewesen, was zum großen Teil auch zutraf. Aber natürlich steckte noch mehr dahinter. Bentz war mit einem einzigen, wunderbaren Kind und mit einem Geheimnis zurückgeblieben, das er nie lüften würde. Er warf nun einen Blick auf den Doppelrahmen auf seinem Schreibtisch. Eins der Bilder zeigte Kristi im Alter von fünf Jahren, an ihrem ersten Tag im Kindergarten, das andere war ihr Highschool-Abschlussfoto, aufgenommen im vergangenen September. Es erschien ihm unfassbar, dass sie schon achtzehn war und bald nach Baton Rouge ziehen würde. »Sie geht erst im nächsten Monat aufs All Saints.«
Montoya lehnte sich mit der Hüfte gegen Ricks Schreibtisch, ergriff einen Brieföffner und drehte ihn zwischen den Fingern. »Du meinst also, dieser Stalker, der die Psychologin anruft, ist gefährlich?«
Rick dachte an das verstümmelte Werbefoto und reichte Reuben eine Kopie davon. »Sieht ganz so aus.«
Montoya biss die Zähne zusammen. »Wer das getan hat, der ist eindeutig nicht ganz richtig im Kopf.«
»Ja, alles in allem würde ich sagen: Der Typ ist gefährlich.«
»Aber –«
»Aber es könnte auch nur Show sein. Für die Publicity. Seit dem ersten Vorfall sind die Hörerzahlen von ›Mitternachtsbeichte‹ in die Höhe geschossen. Der Sender steckt schon seit ein paar Jahren in einer Finanzkrise. George Hannah hat WSLJ gekauft, hat geglaubt, er könnte das Ruder herumreißen, aber es klappte nicht. Vielleicht ist es wirklich nur ein Werbetrick.« Aber das hielt Rick für unwahrscheinlich.
Montoya betrachtete die Fotokopie und zog eine Grimasse. »Trotzdem ist das eine verdammt perverse Scheiße.«
»Ja. Ich warte auf den Bericht zu dem Foto – habe mir die Originale von der Polizei in Cambrai schicken lassen und sie ans Labor weitergereicht.«
Sein Kollege hob das Foto hoch. »Weißt du, woran mich das hier erinnert?«
Bentz war seinem jungen Partner schon einen Schritt voraus. »An die Hunderterscheine mit den geschwärzten Augen.«
»Könnte derselbe Kerl sein.«
»Habe ich mir auch schon überlegt. Hab’s sogar in mein Protokoll geschrieben. Aber hätte der Typ die Augen dann nicht einfach mit einem Filzstift übermalt, wie auf den Geldscheinen?«
»Könnte man meinen … Aber vielleicht ist dieser Mistkerl schlauer, als wir denken.«
»Es ist weit hergeholt«, gab Bentz zu bedenken.
»Aber möglich, sonst hättest du nicht darüber nachgedacht«, konterte Montoya.
Bentz griff nach seinem Kaffeebecher. Der Kaffee war lauwarm und dünn. »Ich will nichts ausschließen.« Im Grunde bereitete ihm das Foto mit den ausgestochenen Augen mehr Sorgen als die Anrufe beim Sender. Er hatte ein schlechtes Gefühl dabei, ein sehr schlechtes. War der Kerl ein Scherzkeks, oder würde er weitergehen? Und was war mit der Psychologin? Samantha Leeds hätte außer sich sein müssen vor Angst, stattdessen erlaubte sie einem fremden Nachbarn, sein verdammtes Boot an ihrem Anleger festzumachen.
Reuben ließ das Foto mit den ausgestochenen Augen auf einen Aktenstapel fallen. »Und was gibt es Neues über unseren Serienmörder?«
»Nur wenig. An beiden Frauen wurde Sperma gefunden. Laut Labor handelt es sich um dieselbe Blutgruppe. Das Gleiche gilt für die Haarproben.«
»Das überrascht mich nicht.«
»Und es ist die gleiche Vorgehensweise. Beide Frauen waren Nutten, sie wurden auf die gleiche Weise stranguliert, mit einer Schlinge, die mit irgendwelchen scharfzackigen Perlen oder so versehen sein muss, und beide wurden hinterher in Positur gebracht. Der Täter hat keine Angst davor, Fingerabdrücke zu hinterlassen, und wir wissen nun auch warum: Wir können sie nicht identifizieren, weil er offenbar nicht registriert ist. Er ist also noch nicht straffällig geworden, war nicht beim Militär und hat keinen Job, für den man seine Fingerabdrücke abgeben muss.« Bentz schob Montoya die Akte zu. »Außerdem wurden in beiden Fällen noch andere Haare gefunden. Synthetische. Rote.«
»Von einer Perücke?«
»Ja, aber nichts dergleichen wurde in den Apartments gefunden. Und nach den Worten der Leute, die die Opfer kannten, hat keine von beiden je eine rote Perücke getragen, auch dann nicht, wenn sie ihre Nummern geschoben haben.«
»Das heißt, sie haben zum Zeitpunkt ihres Todes eine rote Perücke getragen, und der Mörder hat sie danach wieder an sich genommen.«
Bentz nickte. »Als ob er wollte, dass seine Opfer aussahen wie Rothaarige.«
»Heiliger Strohsack! Wie Dr. Sam.«
»Kann sein.«
Montoya sog den Atem ein. »Trotzdem ist es ein ziemlich großer Gedankensprung.«
»Ich weiß.« Bentz fragte sich, ob er nach dem letzten Strohhalm griff, aber er konnte die ausgestochenen Augen und das rote Haar nicht einfach so abtun. »Wir überprüfen die Hersteller und die hiesigen Läden, die Perücken verkaufen, und ich gehe die verschiedensten Fälle durch, um festzustellen, ob dort eine rote Perücke eine Rolle spielte.«
»Das ist nicht viel, aber besser als gar nichts«, sagte Montoya und kratzte nachdenklich mit dem Brieföffner an seinem Bart. »Ich habe den Exmann von Cherie Bellechamps überprüft – Henry. Der hatte eine Lebensversicherung für sie abgeschlossen, die er auch nach der Scheidung nicht gekündigt hat. Jetzt hat er knapp fünfzigtausend Dollar abgesahnt.«
»Wo war er, als das zweite Opfer getötet wurde?«
»Im Bett. Zu Hause.«
»Allein?«
»Nein. Er hat eine Freundin, die schwört, die ganze Nacht über mit ihm zusammen gewesen zu sein. Aber sie hat ein Strafregister. Nichts Großes. Ladendiebstahl, Trunkenheit am Steuer, Drogenbesitz – Kokain. Seit sie mit Henry Bellechamps liiert ist, also seit ein paar Jahren, ist sie anscheinend clean. Übrigens, er nennt sich nicht Henry, er besteht auf der französischen Aussprache, Henri.«
»Wie schön für ihn«, knurrte Bentz.
»Selbst wenn er ein Alibi hat, kommt er als Täter infrage. Womöglich hat er jemanden engagiert, der seine Ex umgebracht und dafür Geld kassiert hat.«
»Und was ist dann mit dem zweiten Opfer? Soll es uns ablenken? Oder war das ein Trittbrettfahrer?« Bentz glaubte nicht daran.
Montoyas Rufmelder piepste. Er ließ den Brieföffner auf den Aktenstapel auf Bentz’ Schreibtisch fallen und zog seinen Rufmelder aus einer Tasche seiner schwarzen Freizeithose. Er warf einen raschen Blick auf das Display, dann sagte er: »Ich bin nicht restlos davon überzeugt, dass er seine Ex nicht umgelegt hat, aber ich sehe keinen Zusammenhang mit dem Mord an dieser Gillette. – Ich muss diesen Anruf annehmen. War sonst noch was?«
»Es gibt da ein kleines Problem«, sagte Bentz und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Im ersten Fall wurde die Frau vor ihrem Tod vergewaltigt, aber was Rosa betrifft, sieht es ganz so aus, als wäre sie schon vorher tot gewesen.«
»Sieht ganz so aus?«
»Der Leichenbeschauer ist nicht sicher …«
»Wieso nicht?«
»Mein Tipp ist: Der Kerl hat’s getan, während die Frau starb. Das macht ihn an, das Töten.«
Montoya kniff die dunklen Augen zusammen. »Scheiße.« Er schob seinen Rufmelder zurück in die Hosentasche. »Zeit für ein Sonderkommando, wie?«
Bentz nickte. »Das habe ich schon mit Jaskiel geklärt, und sie hat alles Notwendige eingeleitet.«
Montoya runzelte die Stirn. »Also haben wir’s mit dem FBI zu tun.«
»Ja. Mit den Jungs von hier.« Bentz zwang sich zu einem Lächeln, das keineswegs von Herzen kam. »Jetzt geht die Party richtig los.«
Er saß an dem zerkratzten Tisch und lauschte durchs offene Fenster den Geräuschen der Nacht. Ochsenfrösche quakten, Fische platschten auf den See, Insekten summten, und das Wasser plätscherte gegen die Pfeiler, auf denen eine kleine Hütte errichtet war, sein einziger Rückzugsort. In seinem Kopf dröhnte es, und wieder einmal spürte er diesen Drang. Den Drang zu jagen. Doch er musste vorsichtig sein. Eine kluge Auswahl treffen.
Er blickte auf sein Werk hinab und lächelte. Eine der dunklen Perlen, deren Facetten er so überaus sorgfältig mit seiner Feile zurechtgeschliffen hatte, hob er nun auf. Das war Feinarbeit, die ihn ins Schwitzen brachte, doch die Mühe lohnte sich. Am Ende konnte jede Perle in weiches Fleisch schneiden wie ein Rasiermesser. Wenn er mit seinen schwieligen Fingern das Glas berührte, passierte nichts weiter, aber ein zarter Hals würde keinen Widerstand bieten.
Er entsann sich der bereits begangenen Morde, des Rausches, der ihn packte, wenn eine Frau begriff, dass sie sterben musste, wenn er die Perlen in seiner Hand spürte, während sie nach Luft rang. Herrgott, dann wurde er so hart, dass er nicht mehr klar denken konnte … dass er nur noch dieses Hämmern in seinem Hirn fühlte, das Donnern der Lust, das durch seinen Körper fuhr. Er durchlebte jeden einzelnen Augenblick noch einmal und wusste, dass er es wieder tun musste, um die Erinnerungen wach zu halten.
Während die Bilder verblassten, legte sich auch seine Erektion. Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu, feilte, schärfte und polierte die Perlen, bis es Zeit war, das Radio einzuschalten. Die Sendung hatte soeben begonnen, die Musik verklang gerade, und Dr. Sams Stimme wurde über störendes Knistern hinweg hörbar.
»Guten Abend, New Orleans, und herzlich willkommen …« Ihre Stimme war so erotisch, so sexy.
Das Miststück.
Er unterbrach für einen Augenblick seine Tätigkeit, hörte sich die Klagen des ersten Anrufers an und griff dann in seinen Werkzeugkasten. Angelschnur, belastbar bis zu zwanzig Pfund, beinahe unsichtbar, einfach durch die Perlen zu fädeln, oder Klavierdraht … noch stärker, aber nicht so elastisch, an ihm aufgereiht würden die Perlen nicht durch seine Finger fließen. Wofür sollte er sich entscheiden? Er hatte schon beides benutzt. Und beides hatte sich bewährt.
Dr. Sams Stimme beantwortete die Fragen der Hörer. Sie klang so ruhig. Vernünftig. Und zugleich verführerisch. Er legte Hand an sich selbst, hörte jedoch gleich wieder auf. Er hatte noch zu arbeiten. Er legte die Spule mit Klavierdraht zurück in die Schachtel und riss mit den Zähnen die Verpackung einer Rolle Angelschnur auf. Er spulte ein Stück Schnur ab und zerrte heftig daran, um zu prüfen, wie sie sich dehnte und wie viel sie aushielt.
Seine Armmuskeln spannten sich an. Die Schnur schnitt in seine Handflächen, doch sie riss nicht.
Er grinste. Ja, das war das Richtige.
Während Dr. Sam mit ihrem Programm fortfuhr und mit den Idioten redete, die sie anriefen, begann er, die spitz gefeilten Perlen auf die Schnur zu ziehen, sie sorgfältig in der richtigen Reihenfolge zu arrangieren und sicherzustellen, dass sein Rosenkranz perfekt war.
Perfekt musste er sein.