1. Kapitel

Juli Cambrai, Louisiana

Zu Hause ist es doch am schönsten, zu Hause ist es doch am schönsten.

Und jetzt drei Mal mit den Absätzen dieser rubinroten Slipper aufstampfen und …

»Das macht siebenunddreißig Dollar«, brummte der Taxifahrer und riss Samantha aus ihren Gedanken. Er lenkte das Taxi die kreisförmige Zufahrt entlang und fuhr so dicht wie möglich an die Haustür heran. Währenddessen kramte sie tief in ihrer Jackentasche nach der Geldspange.

»Sind Sie so freundlich, mein Gepäck ins Haus zu bringen?«, fragte sie.

Der Fahrer verrenkte sich den Hals, um sie vom Vordersitz aus besser sehen zu können, und bedachte sie mit einem neugierigen Blick. Seine Augen waren dunkel. Misstrauisch. Als erwartete er eine zweideutige Einladung. Schließlich zog er seine massive Schulter hoch. »Wenn Sie wollen.«

»Ja, bitte.« Mithilfe einer Krücke stemmte sie sich aus dem Taxi, hinaus in die schwüle Nacht von Louisiana. Ein feiner, feuchter Nebel verhängte die Lebensbäume, die ihr weitläufiges altes Haus in der einzigartigen Gemeinde am Südufer des Lake Pontchartrain, ein paar Meilen westlich von New Orleans, umstanden. Es war herrlich, wieder zu Hause zu sein.

Manche Ferien waren wie ein Traum, andere wie ein Albtraum. Dieser Urlaub war schlimmer gewesen als ein Albtraum, er hatte sich zu einer einzigen Katastrophe entwickelt.

Aber immerhin wusste sie jetzt, dass sie nie und nimmer Mrs. David Ross sein würde. Das wäre ein schlimmer Fehler gewesen.

Noch einer.

Eine kräftige Brise brachte die Strähnen des Spanischen Mooses in Bewegung, die an alten, knorrigen Ästen hingen. Die Pflastersteine des Wegs, schlüpfrig vom Regen, schimmerten im schwachen Licht der Verandabeleuchtung. Als Sam über die unebenen Steine humpelte, kitzelte das nasse Unkraut, das sich unbeirrt durch die Ritzen im Mörtel drängte, die bloßen Zehen ihres verletzten Fußes. Der Schweiß lief ihr in Bächen über den Rücken. Der Juli hatte gerade erst angefangen, und schon setzte die Hitze Louisianas ihr zu. Sie biss die Zähne zusammen und hinkte die Stufen zu der breiten Veranda hinauf, die das Haus am See ringsum einfasste. Die Windspiele klimperten. Sam lehnte die Krücke gegen die Hollywoodschaukel und holte den Ersatzschlüssel aus seinem Versteck in den Spinnweben hinter einem der Fensterläden. Eilig schloss sie die Haustür auf. Als der Taxifahrer ihr Gepäck heranschleppte, knipste sie das Licht an. Sogleich wurde es hell im Eingangsbereich. Zweihundert Jahre altes Holz glänzte von feiner Patina, die Luft in dem ehrwürdigen Haus war abgestanden und heiß.

Der Taxifahrer stellte ihre drei Taschen an der Garderobe ab und reichte Samantha ihre Krücke.

»Danke.« Sie gab ihm vierzig Dollar und wurde mit einem zufriedenen Grunzen und einem knappen Kopfnicken belohnt.

»Willkommen zu Hause.« Dunkle Augen blitzten unter dem Schirm seiner Baseballkappe hervor. »Einen schönen Abend noch.«

»Danke.« Sie machte die Tür hinter ihm zu, steckte den Hausschlüssel in die Tasche und rief über die Schulter hinweg: »Schätzchen, ich bin wieder da.«

Keine Reaktion.

Nur das leise Ticken der Uhr über dem Kaminsims und das Summen des Kühlschranks aus der Küche war zu hören. Sie schaltete den Deckenventilator ein, dann die Klimaanlage.

»Ach, komm schon …«, sagte sie laut. »Du bist doch nicht sauer, weil ich dich hier ganz allein gelassen habe, oder? Weißt du, das ist typisch Mann.«

Aus der Speisekammer holte sie den Bund mit den Ersatzschlüsseln und wartete, lauschte auf das unverkennbare Klicken der ID-Marke oder das leise Geräusch von Pfoten auf dem Boden. Stattdessen hörte sie ein leises Miau, und dann schlüpfte Charon aus den Schatten. Seine Pupillen waren geweitet, die Augen so dunkel wie sein tintenschwarzes Fell. Nur ein kleiner goldener Ring war sichtbar. »Hör bloß auf; jetzt spielst auch du noch den Unnahbaren«, warf sie ihm vor, als er vollkommen desinteressiert und mit zuckendem Schwanz näher kam. »O ja, du bist wirklich ein cooler Typ.« Sie lachte, und er hüpfte näher, strich ein paar Mal um ihre Knöchel und rieb seinen Kopf an dem Fiberglas, das ihre linke Wade und den Fuß umgab.

»Gefällt dir das? Das habe ich diesem Fiasko in Mexiko zu verdanken«, berichtete sie, hob seinen geschmeidigen Körper vom Boden auf, drückte ihn an ihre Brust und kraulte ihn unterm Kinn. Charon, ein streunender Kater, den sie nach dem Fährmann in Dantes »Inferno« benannt hatte, begann unverzüglich zu schnurren. Seine distanzierte Haltung hatte er aufgegeben; er stupste mit der feuchten Nase gegen ihren Hals. »Nun, was war hier so los, während ich fort war? Hat Melanie dich gut versorgt? Nein?« Lächelnd trug sie den Kater ins Arbeitszimmer und öffnete das Fenster einen Spaltbreit, damit sich das Hausinnere abkühlte.

Sie setzte Charon aufs Bücherregal, wo er zwischen ihren Psychologiebänden und Stapeln von Papierkram umherstolzierte. Dann sprang er auf den Schreibtisch, auf dem sich ihre Post stapelte, säuberlich nach Briefen, Reklame, Zeitschriften und Zeitungen geordnet. Melanie, Sams Assistentin, die nicht nur das Haus gehütet und Charon versorgt, sondern während Samanthas Urlaub auch ihre Radiosendung übernommen hatte, war ein Ausbund an Tüchtigkeit.

Samantha rückte den Schreibtischstuhl zurecht und ließ sich auf den vertrauten Sitz fallen. Sie schaute sich im Zimmer um. Irgendwie erschien es ihr verändert, aber sie wusste nicht, weshalb. Vielleicht lag es nur daran, dass sie so lange fort gewesen war, über zwei Wochen. Oder sie war durch den Schlafmangel der letzten Tage und die emotionalen Turbulenzen der Reise einfach ein wenig daneben.

Seit der Landung in Mexiko vor zwei Wochen war alles schief gegangen. David und sie hatten nicht bloß mal wieder den ewig gleichen Streit – er wollte, dass sie ihren Job aufgab und zurück nach Houston zog –, sondern zu allem Überfluss auch noch einen so genannten Bootsunfall gehabt, bei dem sie und ihre Handtasche in den Pazifik gestürzt waren. Dabei hatte sie sich einen verstauchten Knöchel eingehandelt – und ihre Handtasche samt der Papiere war auf Nimmerwiedersehen im Meer versunken. Seitdem trug sie einen scheußlichen, hinderlichen Gipsverband. Die Ausreise war ein einziges Chaos gewesen, und nur mit Mühe hatte sie die Behörden überreden können, sie zurück in die USA zu lassen.

»So etwas passiert eben«, hatte David mit einem Achselzucken gesagt, als sie schließlich in die 737 gestiegen waren. Er bedachte sie mit einem Lächeln und zog eine Augenbraue hoch, als wollte er sagen: Hey, wir können jetzt nichts daran ändern. Wir sind im Ausland. Natürlich hatte er Recht, aber das besserte auch nicht ihre üble Laune und ihren Verdacht, dass der Kapitän des Fischerboots betrunken gewesen war oder unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen gestanden hatte, dass ihre Handtasche wie auch das Gepäck einiger anderer Teilnehmer der Gruppe von einheimischen Tauchern aus der See gefischt worden waren und dass die Kreditkarten, das Bargeld und andere Wertgegenstände mittlerweile an der gesamten Westküste Mexikos benutzt oder versetzt wurden. Nach den Worten des Kapitäns hatte das winzige Fischerboot einen Satz gemacht, um einem Felsen auszuweichen – das klang in Sams Ohren ganz und gar nicht plausibel. Ein Schnitzer eines Seemanns, der jeden Tag in den Gewässern vor Mazatlán umherschipperte. Samantha hatte ihm die Geschichte nicht abgenommen und irgendeine Form der Entschädigung verlangt, mindestens jedoch eine Entschuldigung. Stattdessen war sie in einem kleinen Krankenhaus bei einem ältlichen Arzt gelandet, einem ausgewanderten Amerikaner, der aussah, als hätte er schon in den Siebzigerjahren in den Ruhestand gehen sollen. Wahrscheinlich hatte er genau das in seiner Heimat auch getan – oder er war wegen Kurpfuscherei des Landes verwiesen worden.

»Saure Trauben, Dr. Sam«, ermahnte sie sich selbst, während sich Charon auf seinem Lieblingsplätzchen auf der Fensterbank niederließ. Er starrte durch die Scheibe, sein Blick folgte irgendeiner Bewegung in der Dunkelheit. Vermutlich ein Eichhörnchen. Samantha schaute ebenfalls hinaus, entdeckte aber nichts außer den dunklen Schatten der Bäume.

Sie drückte die Abspieltaste ihres Anrufbeantworters, griff dann nach einem Brieföffner und schlitzte den ersten Umschlag auf – eine Rechnung. Zweifellos die erste von vielen. Der Rekorder gab eine Reihe von Signaltönen und ein Klicken von sich, danach begann er mit dem Abspielen.

Der erste Anrufer hatte aufgelegt.

Toll.

Sie warf die Rechnung auf den Tisch.

Als Nächstes meldete sich ein Werbeagent und erkundigte sich, ob sie eine Autoglas-Reparatur benötige.

Noch besser. Sie dachte an ihr rotes Mustang-Cabrio und konnte es kaum erwarten einzusteigen und loszufahren. Aber eine neue Windschutzscheibe brauchte sie nicht. »Nein, vielen Dank«, sagte sie und öffnete weitere Briefe – Kreditkarten-Angebote, Bitten um Beiträge für wohltätige Zwecke, die Abwassergebühren-Rechnung.

Schließlich erklang noch eine Stimme.

»Hey, Sam, ich bin’s, Dad.« Sam lächelte. »Hab ganz vergessen, dass du nicht zu Hause bist … Ruf mich an, wenn du zurück bist, ja?«

»Mach ich«, sagte Sam, überflog ihre jüngste Visa-Abrechnung und war froh, Melanies Stimme zu hören. Ihre Assistentin versprach ihr, sämtliche Kreditkarten unverzüglich sperren zu lassen.

Zwei weitere Anrufer hatten aufgelegt, und dann vernahm sie die Stimme ihrer Chefin. »Sam, ich weiß, du bist wahrscheinlich noch gar nicht zurück«, sagte Eleanor. »Aber ruf mich auf der Stelle, auf der Stelle, an, wenn du zu Hause bist. Und erzähl mir nicht, dass du wegen deines Beins nicht arbeiten kannst, damit kommst du bei mir nicht durch. Ich habe deine Nachricht aus dem Krankenhaus erhalten, aber sofern du nicht am Tropf hängst und an der Herz-Lungen-Maschine, wirst du schnellstmöglich im Studio auftauchen, verstanden? Melanie macht ihre Arbeit ganz gut, ehrlich, aber seit deiner Abreise sinken die Quoten, und Trish LaBelle drüben beim WNAB reißt sich deinen Marktanteil unter den Nagel … Das ist nicht gut, Sammie, ganz und gar nicht. Deine Hörer wollen dich, Mädchen, und sie sind nicht bereit, irgendeinen Ersatz zu akzeptieren, und wenn er auch noch so gut ist. Also komm nicht auf die Idee und bring mir ein Attest von irgendeinem umwerfenden Arzt, hörst du? Wehe … Also, schwing deinen Hintern rüber ins Studio! Okay, genug geredet. Aber ruf mich an, und zwar sofort!«

»Hast du das gehört, Charon? Ich werde also doch geliebt«, sagte sie geistesabwesend zu ihrem Kater. Dann spürte sie plötzlich ein Kribbeln im Nacken. Irgendein Laut, eine Veränderung in der Umgebung, irgendetwas nicht Benennbares zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Die Katze saß, bis auf das kaum merkliche Zucken ihres Schwanzes, völlig reglos auf der Fensterbank. »Siehst du was?«, fragte Sam und versuchte, das unheimliche Gefühl abzuschütteln. Sie legte die restliche Post beiseite, ging zum Fenster hinüber und spähte durch die vom Nieselregen beschlagenen Scheiben hinaus in die Dunkelheit.

Die immergrünen Eichen standen da wie bärtige Wachposten, bewegungslose dunkle Gestalten, die ihr Haus behüteten.

Ein Knirschen.

Sams Herz blieb beinahe stehen.

War das der Wind in den Zweigen oder ein für ein altes Haus typisches Geräusch? Oder schlich jemand über die Veranda? Ihr Gaumen wurde trocken.

Hör auf, Sam, du regst dich auf wegen nichts und wieder nichts. Hier lauert keine Bedrohung. Du bist hier sicher. Doch sie wohnte erst seit drei Monaten in diesem Haus, und nach ihrem Einzug hatte eine klatschsüchtige alte Nachbarin, die gegenüber wohnte, ihr die Geschichte des Hauses unter die Nase gerieben. Laut Mrs. Killingsworth gab es nur einen Grund dafür, dass das Haus so lange zum Verkauf gestanden und Sam es schließlich weit unter dem Marktpreis bekommen hatte: Die Frau, die zuvor hier gewohnt hatte, war in diesem Haus ermordet worden – von einem erzürnten Liebhaber.

»Und was hat das mit dir zu tun?«, fragte sie sich jetzt und rubbelte über ihre Arme, als wäre ihr kalt. Sie glaubte nicht an Gespenster, Flüche oder Übersinnliches.

Der Anrufbeantworter spulte weiter. »Hi, Sam.« Erneut Melanies Stimme. Samantha beruhigte sich ein bisschen. »Hoffe, du hattest einen schönen Urlaub. Ich habe die Banken angerufen, wie angewiesen, und die Post auf deinem Schreibtisch hinterlegt, aber du hast sie inzwischen sicher schon gefunden. Charon war völlig aus dem Häuschen, als du weg warst. Total ausgeflippt. Hat sogar das Klavier markiert, aber ich hab’s sauber gemacht. Und dann überall diese Haare – ekelhaft. Wie auch immer, ich habe einen Liter Milch für dich eingekauft und diese feinen französischen Kaffeebohnen mit Vanillearoma, die du so gern magst. Beides steht im Kühlschrank. Die Sache mit deinem Bein tut mir echt leid. Wie ärgerlich! Ziemlich romantische Reise, wie? Wir sehen uns im Studio. Falls du etwas brauchst, ruf mich an.«

Sam humpelte zurück zu ihrem Schreibtischstuhl. Sie litt eindeutig unter Einbildungen. Nichts hatte sich verändert. Sie warf einen Blick auf das Bild von David auf ihrem Schreibtisch. Groß und athletisch, mit grauen Augen und einem kantigen Kinn. Gut aussehend. Vorstands-Vize und Verkaufsdirektor bei Regal Hotels, hatte man sie mehr als einmal erinnert. Ein Mann mit Zukunft und einem ausgeprägten, wenn auch spitzfindigen Sinn für Humor. Eine gute Partie, wie ihre Mutter gesagt hätte, wäre sie noch am Leben gewesen.

Ach, Mom, du fehlst mir immer noch. Sams Blick wanderte von Davids Bild zu einem verblassten Farbfoto ihrer Familie. Sie stand bei ihrer Abschlussfeier an der UCLA in Talar und Doktorhut zwischen ihren lächelnden Eltern. Der Kopf ihres Bruders, Peter, war hinter der Schulter ihres Vaters zu sehen, er hatte das Gesicht von der Kamera abgewandt, trotzdem erkannte man seine finstere Miene. Er hatte es nicht einmal für nötig gehalten, seine Sonnenbrille abzusetzen, als wollte er damit kundtun, dass er im Grunde gar nicht dabei sein wollte, nicht die Absicht hatte, Sam zu ihrem Erfolg zu beglückwünschen oder sich gar mit ihr zu freuen. Ihre Eltern hingegen strahlten um die Wette. Beth war eine eifrige Verfechterin der Ehe gewesen und hätte ihre Tochter gern mit einem viel versprechenden Mann verheiratet gesehen.

Der erfolgreiche David Ross war solch ein Mann.

Ein Mann mit einer dunklen Seite.

Ähnlich wie Jeremy Leeds. Sams Ex.

Sie öffnete nun einen weiteren Brief und fragte sich, warum sie sich immer so sehr zu Kontrollfanatikern hingezogen fühlte.

»Hey, Sam, hier ist noch einmal Dad«, vernahm sie die Stimme ihres Vaters. »Ich mache mir Sorgen um dich. Hab seit deinem Anruf aus Mexiko, als du versucht hast auszureisen, nichts mehr von dir gehört. Hoffentlich ist alles gut gegangen! Aber wie ich dich kenne, hast du es geschafft … Und wie geht es deinem Bein? Ruf mich an.«

»Mach ich, Dad. Versprochen.«

Es folgten noch weitere Anrufe mit guten Wünschen für ihre Genesung. Sie hörte sie alle an und schaute dabei ihre Rechnungen durch. Celia, ihre Freundin, die im Napa Valley als Grundschullehrerin tätig war, Linda, eine Zimmerkollegin aus Collegezeiten, die sich mit ihrem Mann, einem Polizisten, in Oregon niedergelassen hatte, Arla, eine Freundin, mit der sie seit der Grundschule Kontakt hielt – alle schienen irgendwie von ihrer Verletzung erfahren zu haben, und alle wollten gern zurückgerufen werden.

»Toll, so beliebt zu sein«, bemerkte sie an den Kater gewandt, während die Empfangsdame ihres Zahnarztes sie an ihren Termin für die halbjährliche Zahnreinigung erinnerte. Der nächste Anruf kam vom Boucher Center, wo Sam ehrenamtlich mitarbeitete; die Sekretärin wies sie darauf hin, dass am kommenden Montag ihre nächste Sitzung fällig war.

Sam griff nach dem letzten Umschlag – schlicht, weiß, geschäftsmäßig. Kein Absender. Ihr Name auf ein Etikett getippt. Sie schlitzte den Umschlag auf und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus.

Das Blut wollte ihr in den Adern gefrieren.

Sie erblickte sich selbst. Ein PR-Foto, das sie vor mehreren Jahren hatte anfertigen lassen. Es war kopiert und dann entstellt worden. Das dunkelrote Haar umgab ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen, dem spitzen Kinn und dem anzüglichen Lächeln, doch dort, wo vorher grüne Augen mit dichten Wimpern geblitzt hatten, befanden sich jetzt nur unregelmäßige Löcher, als wären sie in aller Eile ausgestochen worden. Über ihre pfirsichfarbenen Lippen hatte jemand mit Rotstift ein einzelnes Wort gekritzelt: BEREUE.

»O Gott.« Angewidert stieß sich Sam vom Schreibtisch ab. Einen Augenblick lang stockte ihr der Atem.

Sie hörte ein scharrendes Geräusch auf der Veranda.

Als hätte jemand sie durchs Fenster beobachtet und liefe jetzt davon. Eilige Schritte.

Sie fuhr in ihrem Stuhl herum und humpelte zum Fenster, konnte in der Schwärze der Nacht jedoch nichts erkennen. Ihr Herz klopfte so heftig, dass das Ticken der Uhr kaum noch zu hören war. Während Sam noch durch die regennasse Scheibe blickte, spielte der Anrufbeantworter die nächste Nachricht ab.

»Ich weiß, was du getan hast«, flüsterte eine leise Männerstimme.

Sam wirbelte herum und starrte entsetzt auf das Gerät mit dem blinkenden roten Lämpchen.

»Und du kommst nicht ungeschoren davon.« Die Stimme klang keineswegs grob, im Gegenteil, sie klang verführerisch, beinahe zärtlich, als würde der Anrufer sie persönlich kennen. »Du wirst für deine Sünden bezahlen müssen.«

»Du Mistkerl!«

Charon fauchte und sprang von der Fensterbank hinab.

Der Anrufbeantworter klickte und schaltete sich aus. Die Wände des Hauses schienen sich ihr zu nähern, die düsteren Ecken wurden noch dunkler. Bildete sie es sich nur ein, oder vernahm sie tatsächlich Schritte im Garten?

Sie atmete ein paar Mal tief durch und überprüfte dann sämtliche Schlösser und Riegel an den Türen und Fenstern. Es ist ein Scherz, beruhigte sie sich, nichts Bedrohliches. Dank ihres Berufs galt sie quasi als Berühmtheit; viele Menschen nahmen Kontakt zu ihr auf, damit sie ihnen half, ihre Probleme zu lösen. Als Rundfunkpsychologin beschäftigte sie sich in ihrer Sendung Nacht für Nacht mit den Schwierigkeiten und Ängsten anderer Leute. Und dies war nicht das erste Mal, dass jemand in ihre Privatsphäre eindrang; es würde auch nicht das letzte Mal sein. Sie erwog, die Polizei oder David oder eine Freundin anzurufen, aber um nichts in der Welt wollte sie den Eindruck einer hysterischen Kuh erwecken, die unter Verfolgungswahn litt. Am allerwenigsten vor sich selbst.

Sie war Profi. Doktorin der Psychologie.

Sie wollte keine öffentliche Missbilligung riskieren. Nicht noch einmal.

Ihr Herz hämmerte; langsam stieß sie den Atem aus. Sie musste die Polizei verständigen, daran führte kein Weg vorbei. Aber jetzt noch nicht. Nicht an diesem Abend. Noch einmal kontrollierte sie sämtliche Schlösser und ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Sie würde jetzt nach oben gehen, in einem Buch schmökern und am nächsten Morgen bei Tageslicht noch einmal Revue passieren lassen, was genau vorgefallen war. Es bestand überhaupt kein Grund zur Panik. Oder doch?

Bereue?

Für deine Sünden bezahlen?

Welche Sünden?

Der Kerl machte sie nervös – was wahrscheinlich genau seine Absicht war. »Komm, Großer«, rief sie dem Kater zu. »Wir gehen nach oben.« Es war ihre erste Nacht zu Hause; sie würde sie sich nicht von irgendeinem anonymen Widerling verderben lassen.