32. Kapitel
Fast eine Woche später saß Sam an ihrem Schreibtisch im Studio, las ihre stetig wachsende Anzahl von Mails und kämpfte noch immer darum, den Schock zu überwinden, den sie auf der Party erlitten hatte. Die Polizei konnte keine Verdächtigen vorweisen, wenngleich die meisten Beamten annahmen, dass sich jemand als Bauarbeiter ausgegeben hatte und so in das Gebäude eingedrungen war. Eine der Schaufensterpuppen war entwendet und in den Keller geschafft worden, und irgendwer mit rudimentären Elektronikkenntnissen hatte das Tonbandgerät an den Verstärker angeschlossen. Die Polizei hatte sämtliche Anwesenden, das gesamte Hotelpersonal und die Bauarbeiter vernommen. Während Sam seitdem jede wache Minute mit dem Studieren von Texten über Serienmörder und Psychopathen verbrachte, überprüfte Ty die Arbeit der Polizei. Ein paar Mal hatte er sich mit Navarrone zusammengesetzt. Rick Bentz hatte dafür gesorgt, dass die Sicherheitsmaßnahmen rund um Sam verstärkt wurden, sowohl in der Stadt als auch bei ihr zu Hause.
Doch John hatte geschwiegen. Hatte nicht ein einziges Mal beim Sender angerufen. Hatte die Lorbeeren für seine Tat nicht geerntet.
Sam schauderte bei dem Gedanken an die Schaufensterpuppe mit den geschwärzten, blicklosen Augen und dem nackten Körper. Sie war zweifellos eine persönliche Botschaft an Sam.
Eine Drohung.
Und die Einschaltquoten von ›Mitternachtsbeichte‹ stiegen weiter in unermessliche Höhen. George Hannah war außer sich vor Freude, und die Polizei ließ durchscheinen, dass die ganze Sache getürkt sein könnte, ein Trick des Eigentümers von WSLJ zur Steigerung der Hörerzahlen.
Sam glaubte nicht daran, wenngleich sie beinahe sicher war, dass zwei Kräfte am Werk waren. Das Monster, dessen Ziel es war zu morden, und noch jemand, der gern Spielchen mit Menschen trieb – oder steckte ein Einziger mit einer gespaltenen Persönlichkeit dahinter? Wenn ja, wer?
Sie hörte Schritte im Flur. Im nächsten Moment steckte Melanie den Kopf zur Bürotür herein. »Es geht los«, sagte sie, und ihre langen Locken schimmerten im Licht. »Es ist Zeit für …«, Melanie deutete mit zwei Fingern jeder Hand Gänsefüßchen an und senkte zur Untermalung die Stimme, »… die Konferenz.«
»Was treibst du hier um diese Tageszeit?«, fragte Sam und schob die düsteren Gedanken beiseite. »Ich bin hergekommen, weil man mich angefordert hat, aber hast du denn gar kein Privatleben?«
Melanie grinste von einem Ohr zum anderen. Ihre goldenen Augen blitzten. »Ich habe ein tolles Privatleben.«
»Der neue geheimnisvolle Mann?«
»Mmm.« Mit einem katzenhaften Lächeln, das sie sich nicht verkneifen konnte, nickte Melanie. »Ich glaube, er könnte der Richtige sein.«
»Das klingt nach etwas Ernstem«, bemerkte Sam.
»Ich drücke mir die Daumen und die Zehen noch dazu!« Melanie strahlte förmlich, und Sam fiel wieder ein, dass das Mädchen erst knapp fünfundzwanzig war.
»Also, wer ist der Typ? Kenne ich ihn?«, erkundigte sich Sam.
Melanie schüttelte den Kopf, doch ihre Augen glommen frivol. »Nein.«
»Und wann lerne ich ihn kennen?«
»Bald«, antwortete Melanie rasch. »Ich bringe ihn mal mit her. Und jetzt gehst du besser zu dieser Konferenz. Boy George wartet nicht gern.«
»Lass ihn bloß niemals hören, dass du ihn so nennst.«
»Nie im Leben«, versprach Melanie.
Sam freute sich keineswegs auf die Konferenz. Irgendetwas war im Busch, sie spürte die Luft förmlich knistern. Sie hatte den unangenehmen Verdacht, dass die Popularität ihrer Sendung, so ruchlos sie auch war, das Thema sein würde.
Seit der Benefizparty war WSLJ mit Anrufen überschüttet worden, von der Presse, die Interviews wollte, bis zu den Hörern von Sams Sendung, die sich verdoppelt, wenn nicht verdreifacht hatten. New Orleans war ganz wild auf diese Sendung, hunderte von Menschen suchten Sams Rat, andere wollten auf diesem Weg berühmt werden, riefen an und gaben sich als John oder als irgendeinen anderen Spinner aus. Trittbrettfahrer krochen in Scharen aus den engen, dunklen Gassen von New Orleans.
Melanie verlor fast den Verstand angesichts ihrer Aufgabe, die Anrufe vorzusortieren, und Detective Bentz hatte weitere Vorsichtsmaßnahmen verordnet. Alle Anrufe, die zwischen einundzwanzig und zwei Uhr eingingen, mussten zweifach gefiltert werden. Melanie siebte die Anrufe, und eine von Bentz abgestellte Polizistin nahm sie an und gab vor, Dr. Sam zu sein. Sämtliche Telefonate wurden aufgezeichnet und konnten zurückverfolgt werden.
Obwohl sich John bisher nicht gemeldet hatte, war die Polizei überzeugt, dass sie ihn stellen würde. Doch selbst die Pressemeldungen und das Phantombild des Verdächtigen hatten bisher zu keiner Verhaftung geführt. John war anscheinend in Deckung gegangen, allerdings musste man zugeben, dass die Zeichnung auch wirklich sehr allgemein gehalten war. Demnach war jeder fünfundzwanzig- bis fünfunddreißigjährige, einsachtzig große Mann mit stabilem Körperbau und dunklem Haar ein potenzieller Tatverdächtiger.
»Also, leg ein gutes Wort für mich ein«, bat Melanie lächelnd. »Du weißt schon, sag George, dass ich überarbeitet, unterbezahlt, hochgebildet und seine absolut loyale Assistentin bin, die bereit ist, für eine eigene Sendung ihre Seele zu verkaufen.«
»Ich werde ihn daran erinnern«, versprach Sam trocken und betrat kurz darauf einen der größeren Räume des Gebäudes, im Grunde genommen die Bibliothek, die George, sein Verkäuferteam und andere leitende Angestellte regelmäßig als Konferenzsaal benutzten.
»Samantha, tritt ein, tritt ein«, sagte George.
Im grauen Businessanzug und weißem Hemd mit bunter Krawatte von Jerry Garcia saß George an einem Ende des Tisches, rechts neben ihm Eleanor mit säuerlicher Miene. Ein paar Akten und Notizbücher lagen auf dem Tisch verstreut. »Ich will gar nicht um den heißen Brei herumreden«, begann George, während sich Sam einen Stuhl zurechtrückte und direkt ihm gegenüber Platz nahm. »Ich habe vor, deine Sendung zu erweitern.«
»Damit ihr es wisst: Ich bin nicht einverstanden«, warf Eleanor ein. »Ich halte das für einen Fehler. George hat nur die Hörerzahlen im Blick, die Einnahmen aus der Werbung, was unter dem Strich rauskommt, aber ich sehe noch etwas anderes.«
»Aber natürlich.« George bedachte Sam mit seinem entwaffnendsten Lächeln. »Mir ist die negative Seite der derzeitigen Vorgänge ja durchaus bewusst, aber ich finde, wir sollten die Lage nutzen.«
»Ausbeuten, meinst du«, verbesserte Eleanor ihn, und ihre dunklen Augen sprühten Feuer. »Das hier ist keine ›Lage‹, das ist ein Albtraum! In Sams Haus wurde eingebrochen, sie erhält Drohbriefe und -anrufe, ganz zu schweigen von der verdammten Torte und der Schaufensterpuppe auf der Party, verdammt noch mal! Und inzwischen wissen wir, dass der Kerl, der dahintersteckt, ein Mörder ist, ein Schlächter, ein Serienkiller! Ich an deiner Stelle würde die Sendung auf Eis legen, zumindest vorübergehend, bis sich diese Sache erledigt hat. Wie kannst du bloß jetzt an eine Expansion denken? Der Kerl, der irgendwo da draußen lauert, meint es bitterernst. Er ruft auf Leitung zwei an – als hätte er eine Liste unserer Geheimnummern, und meldet sich nach Sendeschluss. Er bringt Frauen um, verdammte Scheiße!«
»Prostituierte«, wiegelte George ab.
»Frauen«, beharrte sie. »Vielleicht ist dir schon aufgefallen, dass es hier nur so von Polizisten wimmelt, weil ein Serienmörder irgendwie im Zusammenhang mit dieser Sendung steht. Und du willst Profit daraus schlagen – die Sendung erweitern?« Sie spießte ihn mit diesem für sie typischen Blick auf, der besagte: ›Lass mich mit diesem Quatsch in Ruhe!‹ »Was wir hier vielmehr brauchen, ist eine größere Sicherheit, und ich meine nicht diesen Sicherheitsdienst, den du angeheuert hast. Im Augenblick verfolgt die Polizei die Anrufe zurück, aber wir müssen dafür sorgen, dass einige der Sicherheitsvorkehrungen, die die Polizei hier getroffen hat, nicht nur vorübergehend sind. Ich verlange ein System zur Rückverfolgung von Anrufen, und ich will, dass jedes einzelne Schloss an diesem Gebäude ausgewechselt wird. Wie ich die Sache sehe, ist vor ein paar Wochen jemand über den Balkon in die Küche eingedrungen. Die Polizei ist der gleichen Meinung. Also haben wir das Schloss an der betroffenen Tür ausgetauscht, aber wer sagt, dass er nicht doch wieder reinkommt?« Sie holte tief Luft.
George lehnte sich in seinem Stuhl zurück und warf seinen Kuli auf den Tisch. »Das liebe ich so an dir, Eleanor: Du hast immer einen Blick für das Positive.«
»In dieser Sache gibt es nichts Positives.«
»Aber es ist das, was das Publikum will.«
»Scheiß auf das Publikum! Ich rede von der Sicherheit meiner – unserer – Angestellten.«
George fletschte die Zähne und atmete tief durch. »Samantha, vielleicht könntest du mir zu Hilfe kommen. Ich rede vom Zuwachs an Hörern, davon, die Sendung auf die ganze Woche auszudehnen – und das wird sich für dich lohnen. Ich habe vor, von New Orleans aus auf jeden größeren Markt östlich der Rocky Mountains zu expandieren.«
Sam zog eine Braue hoch.
»Okay, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber zumindest gibt es die Möglichkeit.«
»Allmächtiger, weißt du, was du da sagst?«, fragte Eleanor.
»Eleanor, ich bezahle dich nicht dafür, dass du mir widersprichst.«
»Red keinen Unsinn. Genau dafür bezahlst du mich. Damit du auf dem Teppich bleibst. Damit du nicht den Bezug zur Wirklichkeit verlierst.«
»Okay, ich habe verstanden. Ein Punkt für dich. Aber ich bin trotzdem der Meinung, dass wir diese Gelegenheit wahrnehmen müssen. Wir verdoppeln die Sicherheitsmaßnahmen, wechseln die Schlösser aus, lassen Samantha nie ohne Begleitung zu ihrem Auto gehen oder nach Hause fahren … was immer nötig sein sollte. Natürlich steht die Sicherheit unserer Belegschaft an erster Stelle.«
Eleanor ließ sich auf ihrem Stuhl zurücksinken und verschränkte die Arme vor ihrem großen Busen; diesmal widersprach sie nicht, sondern warnte nur: »Ich hoffe sehr, George, dass es dein Ernst ist, dass das nicht nur Lippenbekenntnisse sind.«
»Es ist mein Ernst. Ich schwöre es.«
Dazu sagte sie nichts.
»Hört zu«, wandte sich Sam an die beiden, entschlossen, Georges Plan im Keim zu ersticken. »Ich bin nicht bereit, sieben Tage pro Woche zu arbeiten, falls ihr das geglaubt habt.« Sie war ohnehin schon erschöpft, und die Vorstellung, sämtliche Nächte hinter dem Mikrofon zu verbringen, war entsetzlich – selbst wenn es nur eine vorübergehende Regelung sein sollte. »Ihr müsstet schon jemanden einstellen, der sich die Stelle mit mir teilt.«
»Dafür käme Melanie infrage. Sie braucht nur noch ein bisschen Training, dann schafft sie das, denke ich«, schlug Eleanor vor, obwohl sie offenbar nicht voll dahinterstand.
»Nicht Melanie.« George schüttelte den Kopf. »Wir haben Hörer eingebüßt, als du in Urlaub warst.«
»Na, dann sucht ihr euch eben jemand anderen.« Sam seufzte.
»Niemand kann deinen Platz einnehmen. Das Publikum identifiziert sich mit dir, Sam. Ich weiß, du müsstest sehr viel mehr arbeiten, es wäre eine große Belastung für dich, aber es würde sich für dich lohnen, dafür sorge ich schon – du kriegst eine beträchtliche Gehaltserhöhung und einen Bonus, wenn sich die zusätzlichen Stunden auszahlen, und dann kannst du dir den Job mit jemandem teilen … Vielleicht sogar mit Melanie oder Ramblin’ Rob oder Gator, so lange, bis das Publikum sie annimmt und sie es ein paar Nächte pro Woche allein schaffen.«
»Rob und Gator sind keine Psychologen«, wandte Sam ein. »Die Sendung würde ihre Glaubwürdigkeit verlieren.«
»Okay, und wie wär’s mit Trish LaBelle von WNAB? Man munkelt, dass sie mit ihrem Format nicht glücklich ist. Vielleicht hat sie Interesse.«
»Trish LaBelle«, wiederholte Sam verblüfft. Sie fand deren Moderationsstil entsetzlich. Trish war rücksichtslos. Voreingenommen. Sie nannte es »aus der Hüfte schießen« oder »es sagen, wie es ist«. Doch nach Sams Meinung ging sie zu weit, sie demütigte die Anrufer, zog deren Probleme mit ihrem ätzenden Sinn für Humor ins Lächerliche.
Eleanor schnalzte mit der Zunge. »Trish LaBelle würde unter gar keinen Umständen die zweite Geige spielen. Im Leben nicht! Außerdem ist sie eine Giftschlange. Ich mag ihre Art zu moderieren nicht. Nein, George, darauf möchte ich mich auf gar keinen Fall einlassen.« Sie fixierte George mit einem strengen Blick. »Und komm mir nicht mit ›man munkelt‹. Ich weiß, dass du mit ihr geredet hast, dass du bereits dabei bist, deinen Plan umzusetzen.«
George presste die Lippen zusammen. »Ich muss tun, was in meinen Augen das Beste für den Sender ist.«
»Dann fang am besten damit an, für die Sicherheit deiner Angestellten zu sorgen.«
»Ich sagte bereits, dass ich mich darum kümmere. Ich habe Sam den Job angeboten, aber sie will keine Siebentagewoche, und wir haben gerade überprüft, wer aus unserem Sender infrage käme, aber«, er hob die geöffneten Hände der indirekten Beleuchtung entgegen und spreizte die Finger, »Samantha hält ihre Kollegen nicht für professionell genug, weil sie keinen Doktortitel haben.«
»Haben sie nun mal nicht«, beharrte Sam.
»Deshalb habe ich Trish vorgeschlagen.«
»Sie hat auch keinen Doktortitel«, gab Sam zu bedenken. »Sie hat einen Titel in Soziologie; Psychologie hat sie nur im Nebenfach studiert.«
Nun erstarb auch der letzte Rest von Georges Lächeln. »Okay, das reicht für WNAB, also wird es auch für uns reichen. Dafür hat Trish LaBelle ein großes Publikum, das ihr vielleicht folgt und auf ›Mitternachtsbeichte‹ umschaltet. Ich schätze, ihr zwei könntet ein kraftvolles Team werden. Also, entweder du machst es allein oder du akzeptierst Trish als Partnerin.«
»Augenblick mal«, mischte sich Eleanor wieder ein. »Das klingt ja, als wäre es bereits beschlossene Sache, als wäre Trish schon engagiert.«
»Noch nicht, aber ich stehe mit ihr in Verhandlungen. Alles hängt jetzt von Sam ab, aber so oder so: Wir werden aus dem Erfolg von ›Mitternachtsbeichte‹ Kapital schlagen. Du, Samantha, wirst entscheiden müssen, ob dir die Sendung genug am Herzen liegt, um sie allein zu bestreiten, oder ob du dir das Rampenlicht mit Trish teilen willst.«
Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Ganz gleich, was passiert, wir werden die Sendung aufs Wochenende ausdehnen.«
»Also geht es in dieser Konferenz gar nicht um neue Möglichkeiten«, sagte Eleanor aufgebracht. »Es war nur noch eine Formalität.«
»Und die Konferenz ist beendet.« Er klopfte auf die blank polierte Tischplatte, um seine Worte zu unterstreichen. »Lass mich wissen, wie du dich entschieden hast«, wandte er sich an Sam und verließ eilig den Raum.
Eleanor seufzte. »Manchmal frage ich mich, warum ich nicht kündige.«
»Weil du deinen Job liebst.«
»Dann brauche ich wirklich dringend psychologische Hilfe und sollte mich vielleicht bei dir in Behandlung begeben.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Sam. Sie gingen ins Foyer, wo Melba damit beschäftigt war, Anrufe entgegenzunehmen. »Du bist der vernünftigste Mensch, den ich kenne.«
»O Gott, dann haben wir alle Probleme.«
»Bis heute Abend«, sagte Sam mit einem Blick auf die Uhr.
Bis zur Sendung blieben ihr noch ein paar Stunden, und sie hatte noch tausend Dinge zu erledigen. Sie hatte nicht damit gerechnet, Melanie zu begegnen, die in der Eingangshalle auf sie gelauert hatte.
»Und?«, fragte Melanie und heftete sich an ihre Fersen. »Wie war’s?«
Sam eilte an dem Sicherheitsbeamten vorbei und trat hinaus in den grellen Sonnenschein. »Sie wollen die Sendung erweitern.«
Sofort grinste Melanie von einem Ohr zum anderen, ihr ganzes Gesicht strahlte. »Ich wusste es! Das sind ja tolle Neuigkeiten! Und – wie soll das vonstatten gehen? Längere Sendezeit, mehr Tage in der Woche?«
»Mehr Tage, aber es hängt noch alles in der Luft.«
»Aber das könntest du unmöglich allein schaffen.«
»Das habe ich den beiden auch gesagt.« Sam kramte in ihrer Handtasche, fand ihre Sonnenbrille und setzte sie auf.
»Was ist mit mir? Hast du ein gutes Wort für mich eingelegt?«
»Hab ich, aber … na ja, George hat da seine eigenen Vorstellungen.«
»Was für Vorstellungen?«, hakte das Mädchen nach, blieb abrupt stehen und wirkte plötzlich ernüchtert. »Ach, Scheiße, ich habe es geahnt! Er will die Sendung jemand anderem geben, stimmt’s?« Melanie stieß mit dem Fuß ein Steinchen, das auf dem Kopfsteinpflaster lag, gegen eine Mülltonne. »Scheißkerl. Dieser verdammte Scheißkerl!«
»Vielleicht solltest du mit Eleanor reden«, schlug Sam vor, erstaunt über Melanies Ausbruch. Dass ihre Kollegin enttäuscht war, verstand sie ja, aber ganz offenkundig hatte Melanie eine Stinkwut.
»Nach allem, was ich getan habe, die langen Arbeitszeiten, die verdammten Opfer, die ich gebracht habe!«
Sam blieb beinahe das Herz stehen. »Opfer?«, wiederholte sie und sagte sich, dass sie überempfindlich reagierte. »Aber es ist dein Job.«
Melanie hörte gar nicht zu, sie marschierte auf ihren hohen Plateausohlen und in ihrem dünnen Sommerkleidchen bereits zurück ins Gebäude und sagte leise: »Das schlägt dem verdammten Fass den Boden aus. Es reicht!«
Bentz lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte den erbärmlichen Kerl, der vor ihm saß.
David Ross hatte Angst. Er zitterte beinahe. »Ich glaube, ich brauche einen Anwalt«, sagte er. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, er hielt die Hände so verkrampft gefaltet, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sein Haar war wirr, sein Hemd zerknittert. Er sah aus, als hätte er seit zwei Wochen nicht mehr geschlafen.
»Sie sind freiwillig hierher gekommen«, erinnerte Bentz ihn.
»Ich weiß, ich weiß.« Ross schluckte heftig. »Ich habe eben nicht erwartet, dass es so weit gehen würde, ich meine …« Er schloss die Augen und sammelte sich. »Ich mache mir Sorgen um Samantha Leeds. Ich bin, hm, war ihr Verlobter. Und … nun, es gab ein Zerwürfnis, wir haben in Mexiko versucht, unsere Beziehung zu flicken, und es hat nicht geklappt.« Er griff in seine Tasche und zog einen Schlüsselbund und eine Brieftasche heraus. »Das hier wurde mir ausgehändigt, als wir noch in Mexiko waren – ich weiß nicht mal, ob alles vollständig ist. Ich habe es Sam nicht zurückgegeben, und als dieser Ärger hier begann, dachte ich mir, dass sie es mit der Angst zu tun kriegen und zu mir zurückkommen würde und … Tja, sie kam nicht zurück, und ich schätze, ich kenne Samantha wohl doch nicht so gut, wie ich gedacht habe.« Er lächelte bitter. »Sie ist ein harter Brocken. Wie auch immer …« Er räusperte sich. »Ich wusste, dass jemand sie belästigte, ich hatte von den Anrufen gehört, und, ich gebe es zu, ich habe selbst daran gedacht, sie in der Sendung anzurufen, habe sogar ein paar Mal die Nummer gewählt, aber nie den Mut aufgebracht, die Sache durchzuziehen. Ich nahm an, dass sie meine Stimme erkennen würde, verstehen Sie?«
»Klar«, antwortete Bentz, der versuchte zu begreifen, was für ein Typ dieser David Ross war. Er kaute langsam auf seinem Kaugummi und wartete. Er wusste: Der Mann war nicht der Mörder – die Blutgruppe stimmte nicht, und Ross sah dem Phantombild auch nicht sonderlich ähnlich. Doch den Kerl plagte ein schlechtes Gewissen, er wollte sich etwas von der Seele reden, und Bentz war bereit, ihm zuzuhören.
»Wie gesagt, ich hatte gehofft, sie würde zu mir zurückkommen, aber der Schuss ging nach hinten los, und jetzt … jetzt läuft hier ein Mörder rum, und ich habe gehört, dass es derselbe Typ sein könnte, der in der Sendung anruft … und dass … dass eine Bekannte von Samantha ermordet wurde. Ich … ich habe Angst.«
»Sie zeigen sich also selbst an, weil Sie vergessen haben, Ihrer Exfreundin ihre Schlüssel zurückzugeben?« Bentz beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch, auf den Stapel von Berichten, deren Inhalt David Ross und seinesgleichen vor Angst in die Hosen machen ließe.
»Ich will jeden Verdacht gegen mich ausräumen.«
»Ist das nötig?«
Ross errötete. »Ich hätte nicht hierher kommen müssen. Im Grunde war es vielleicht sogar ein Fehler«, sagte er mit einem Anflug von Courage. »Aber ich wollte einiges richtig stellen.«
Bentz glaubte ihm. Er überlegte, inwiefern David Ross mit den Morden zu tun haben könnte. Wenn es sich um Auftragsmord handeln würde, könnte er der Kerl sein, der die Fäden zog, ein Mann, der sich des Mörders bediente. Aber sie hatten es eindeutig mit einem Serienkiller zu tun – für diesen war das Töten der Kick. David Ross hingegen hatte es lediglich auf Samantha Leeds abgesehen. Und hätte sich Ross mit Beweismaterial gestellt, wenn er der Täter wäre? Wohl kaum. Er war nicht John, der Rosenkranz-Mörder, wie Bentz ihn bei sich nannte. »Wollen Sie uns sonst noch was sagen?«, fragte er Ross.
»Ja. Stellen Sie ihn!« Ross’ Nasenlöcher blähten sich, als hätte er etwas Übles gerochen. »Verhaften Sie den Schweinehund oder legen Sie ihn um. Bevor er Samantha kriegt.«
»Es reicht endgültig. Ich kündige!«, schnappte Melanie, nicht fähig, das Beben in ihrer Stimme abzustellen. Sie war so sauer, so verdammt sauer, und als sie jetzt vor Eleanor Cavaliers Schreibtisch stand, konnte sie das Zittern, das ihren Körper erfasst hatte, kaum beherrschen.
»Ich rufe zurück«, sagte Eleanor in den Hörer, legte auf und fixierte Melanie mit ihren dunklen Augen. »Setz dich, lass uns reden. Du kannst nicht einfach so kündigen, du hast zwei Wochen Kündigungsfrist und –«
»Darauf pfeif ich. Wenn man mich so behandelt … Als ich diese Stelle angenommen habe, sagte man mir, mit meinem Abschluss und meinen Psychologiekenntnissen gäbe es Aufstiegsmöglichkeiten, man hat mir eine eigene Sendung in Aussicht gestellt.«
Eleanor deutete noch einmal auf den Sessel vor ihrem Schreibtisch. Als wollte sie Melanie beschwichtigen. »Irgendwann könnte es so weit sein.«
»Könnte«, wiederholte Melanie mit einem Schnauben. »Könnte! Eleanor, ich habe den Bachelor und ich kenne den technischen Kram in- und auswendig, genauso wie Tiny, verdammt noch mal! Und habe ich nicht Samantha vertreten, als sie in Urlaub war? War ich so schlecht?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Und wer springt ein, wenn sie krank ist? Hä? Ich!« Sie wies mit dem Daumen auf ihre eigene Brust. »Ach, was soll’s? Ich verschwinde von hier!«, verkündete sie, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte hinaus. Mitten auf der Aorta wäre sie beinahe mit Ramblin’ Rob zusammengestoßen. Der alte Knilch hatte zweifellos gelauscht. Er verursachte ihr eine Gänsehaut. Aber das tat eigentlich jeder hier. George Hannah war ein alter Lustmolch, und Gator, na ja, er frönte seinem Privatvergnügen. Melanie wollte gar nicht wissen, welcher Art seine Perversionen waren, was er hinter geschlossenen Türen trieb, aber sie ahnte es. Seine Augen … ihr grauste vor seinen Augen. Wenn sie es sich recht überlegte, wusste sie gar nicht, warum sie so lange beim Sender durchgehalten hatte. Wie gut, dass sie mit Trish LaBelle gesprochen hatte. Vielleicht bekam sie ja bei WNAB einen Job. Ja, das wär’s. Dann musste sie sich nicht mehr mit dem transusigen Tiny herumärgern. Himmel, er war so unfähig, und jedes Mal, wenn er Samantha sah, fing er beinahe an zu sabbern.
Sie hastete zur Treppe und polterte die Stufen hinunter. Ihre Wut steigerte sich bei dem Gedanken daran, wie viel Arbeit sie in diesen verdammten Sender investiert hatte, wie viel von sich selbst sie in die ›Mitternachtsbeichte‹ eingebracht hatte. Natürlich wusste niemand, wie kreativ sie insgeheim gewesen war. Sie war nicht nur die pflichtbewusste, stets einsatzbereite, lächelnde Angestellte gewesen, die sich für alle anderen ein Bein ausriss, nein, sie hatte weitaus mehr geleistet und hatte sich zweifellos für Sams Job bewährt. Das dachte sie zumindest.
Mit der Schulter stieß sie die Tür zur Außentreppe auf, flog an dem Fettkloß von Sicherheitsbeamten vorbei und winkte ihm ausnahmsweise nicht zu. Wenn der alte Knacker wüsste, was sie getan hatte, wie sie Dr. Sams Entthronung ausgetüftelt hatte! Und jetzt musste sie erleben, wie der Schuss nach hinten losging!
Als sie auf die Straße kam, wehte ihr heiße Luft ins Gesicht. Sie kramte ihre Sonnenbrille aus der Handtasche. Himmel, war das heiß! Vielleicht sollte sie doch in eine andere Stadt ziehen, wo es kühler war, weniger schwül … Aber das ging natürlich nicht. Noch nicht. Hier in der Stadt hatte sie sich schließlich einen Ruf erarbeitet.
Den du in die Tonne treten kannst, wenn du die Kündigungsfrist nicht einhältst.
Das grelle Sonnenlicht blendete sie, doch sie bemerkte es kaum. Während sie zum Parkhaus ging, in dem ihr Kleinwagen stand, dachte sie ununterbrochen über die ungerechte Behandlung nach, die sie erfahren hatte.
Keiner bei WSLJ verstand, wie viel sie gegeben, wie viel sie geopfert, wie gründlich sie ihre Karriere geplant hatte.
Innerlich wand sie sich ein wenig bei dem Gedanken daran, wie weit sie dabei gegangen war. Aber als Sam Melanie gebeten hatte, ihr Haus und ihren Kater in Cambrai zu hüten, hatte sie einfach nicht widerstehen können. Es war ihr erschienen, als habe man ihr eine Wahnsinnschance auf einem Silbertablett serviert.
Melanie hatte die Gelegenheit beim Schopfe gepackt. Kaum war Sam auf dem Weg nach Mexiko gewesen, hatte sich Melanie in dem gemütlichen Haus am Lake Pontchartrain eingenistet. Einmal dort, hatte sie in den Besitztümern der Frau Doktor geschnüffelt und sogar die Aufzeichnungen über Annie Seger auf diesem unheimlichen, von Ungeziefer verseuchten Dachboden gefunden. Und sie hatte Sams Kleider anprobiert.
Melanie war sich wild und dekadent vorgekommen und hatte ihren neuen Freund eingeladen, um Samanthas Bett einzuweihen. Sie hatte eins von Samanthas Nachthemden getragen, ein weißes Spitzending mit schmalen Trägern, und überall im Zimmer hatte sie Kerzen angezündet. Was sich dann abgespielt hatte, war einer Orgie gleichgekommen, wie sie noch nie eine erlebt hatte. Als sie jetzt ins Auto stieg, weckte die Erinnerung ein schmerzhaftes Sehnen in ihr. Allein die Tatsache, dass er in Samanthas breitem Bett lag, hatte ihren Freund anscheinend über alle Maßen erregt. Und auch das Gerücht, das Melanie ihm ins Ohr geflüstert hatte, das Gerücht, dass ein eifersüchtiger Liebhaber in diesem Haus seine Freundin ermordet habe, schien ihren Lover total anzutörnen.
Später, als Melanie ihm von Annie Seger berichtet hatte, hatte er einen gewagten, düsteren Plan ausgeheckt – so düster und gefährlich wie er selbst. Er hatte Melanie angestiftet, Sam das Gruseln zu lehren, den Brief in ihrem Auto zu deponieren, die Schaufensterpuppe im Boucher Center auszustatten, sich mit verstellter Stimme als Annie auszugeben und eine Kassette zu besprechen – die Aufzeichnung hatten sie sogar mit Sams Gerät vorgenommen, auf einer ihrer leeren Audiokassetten. Später hatte er beim Sender angerufen und die Kassette abgespielt. Und Sam war ausgeflippt.
O ja, er war gewieft. Er trieb Melanie an, er riet ihr, dass sie, um vorwärts zu kommen, Opfer bringen und alle erdenklichen Mittel und Wege nutzen müsse, um an ihr oberstes Ziel zu gelangen. Wenn seine Anrufe als John ihr auch ein bisschen Angst gemacht hatten, verstand sie doch, dass er es aus Liebe zu ihr getan hatte, damit Sam die Flucht ergriff und das Feld räumte und Melanie zur Moderatorin von ›Mitternachtsbeichte‹ aufsteigen konnte.
Allerdings war es nicht dazu gekommen. Sam war auf ihrem Posten geblieben, und die Hörerzahlen der Sendung waren, größtenteils dank Melanies Bemühungen, gestiegen. Dr. Sams Stern strahlte heller denn je, so sehr, dass die Tonangebenden bei WSLJ von Sam verlangten, die Sendung an allen sieben Tagen zu moderieren. Und Melanie ging leer aus.
Scheiße.
Es war nicht nur unfair, es war dumm. Melanie konnte Sams Job mit geschlossenen Augen bewältigen. Sie war jünger, klüger und bereit, alles zu tun, was ihr und der Sendung förderlich war.
Heftig schwitzend marschierte sie den heißen Gehsteig entlang und überquerte verkehrswidrig die Straße, um zum Parkhaus zu gelangen. Auf dem Weg zu ihrem Auto achtete sie nicht auf den Schmutz und die Ölflecke auf dem Betonboden. Im Inneren des Kleinwagens war es heiß wie in einem Backofen, doch Melanie bemerkte es kaum. Sie kurbelte das Seitenfenster herab und stieß wütend den Atem aus. Sie brauchte Rat, handfesten Rat von jemandem, dem sie, ihre Karriere und ihre Bedürfnisse wichtig waren.
Es gab nur einen Menschen, auf den das zutraf.
Sie griff nach ihrem Handy und gab die Kurzwahl ihres Freundes ein. Sie würde ihm ihr Herz ausschütten, ihm erklären, was beim Sender vor sich ging, und vielleicht gelang es ihm, sie zu beruhigen. Sie könnten sich treffen und ihre neu gewonnene Freiheit feiern.
Vielleicht, wenn sie Glück hatte, ging er sogar mit ihr ins Bett. In dieser Hinsicht war er in letzter Zeit ein bisschen lasch gewesen. Sie vermutete, dass es an seinem Kokskonsum lag, aber an diesem Abend war er vielleicht bereit für ein Schäferstündchen.
Sie wartete darauf, dass er sich meldete, spielte mit ihrem Schlüssel und betrachtete die Imitation eines mit ihrem Namen bedruckten Louisiana-Kennzeichens. Ihr Freund hatte es ihr geschenkt, und zwar nachdem sie ihm einmal, zu Beginn ihrer Beziehung, ihren Wagen geliehen hatte. Sie strich über die erhabenen Buchstaben, und dann ging er endlich ran.
»Hallo?«
Seine Stimme war wie Balsam. »Gott, bin ich froh, dass ich dich erreiche!« Sie kämpfte gegen die Tränen der Enttäuschung und fuhr fort: »Ich hatte einen höllischen Tag – und eben habe ich gekündigt.«
»Warum?«
»WSLJ will die Sendung erweitern. ›Mitternachtsbeichte‹ soll jede verdammte Nacht ausgestrahlt werden, aber ich darf nicht moderieren. O nein, entweder Dr. Sam oder keiner.« Sie lehnte sich im Fahrersitz zurück. »Es ist zum Kotzen.«
»Dann hast du es richtig gemacht.«
»Ich hoffe es. Ich rufe jetzt gleich bei WNAB an.«
»Warte noch ein bisschen damit. Ich hole dich ab, und wir gehen aus. Was hältst du davon?«
»Ich bin heute bestimmt keine angenehme Gesellschaft.«
»Das glaube ich nicht.« Er lachte. »Ich habe genau das Richtige, um dich aus deiner miesen Laune zu reißen.«
»Und was?«
»Eine Überraschung.« Seine Stimme war dunkel. Sexy.
Sie war aufgeregt. Seine dunkle Seite sprach sie an. »Wird sie mir gefallen?«
»Sagen wir es mal so: Es wird eine Nacht, die du für den Rest deines Lebens nicht vergessen wirst. Das verspreche ich dir.«
Father John stand vor der Statue Andrew Jacksons und schaltete sein Handy aus. Er lächelte. Die Dinge entwickelten sich perfekt … beinahe, als hätte Gott seine Finger im Spiel.
Durch seine Ray-Ban-Sonnenbrille beobachtete er einen Pantomimen, der die Fußgänger am Eingang zum Park unterhielt. Er hatte beobachtet, wie Melanie aus dem WSLJ-Gebäude stapfte, hatte ihren Anruf erwartet und fest damit gerechnet, dass sie ihn sehen wollte. Aber das wollte sie ja ständig. Trotz ihres frechen, unabhängigen Auftretens war sie im Grunde schwach und bedürftig, ein allein stehendes Mädchen, das sich seiner Familie in Philadelphia entfremdet hatte. Eine leichte Beute.
Geistesabwesend betrachtete er die St.-Louis-Kathedrale. Die weißen Mauern blendeten ihn beinahe im grellen Sonnenschein, die hohen Türme und dunklen Kreuze ragten in den strahlend blauen Himmel hinein. Drinnen hielten sich die Frommen auf. Oder die Neugierigen.
Melanie Davis war mehr als entgegenkommend gewesen, dachte er und schlenderte zu einem der schmiedeeisernen Tore hinüber, die in den Park führten, und jetzt hatte sie ihren Zweck erfüllt. Sie hatte ihm auf dem Weg zu seinem höchsten Ziel geholfen, ohne zu wissen, wer er war. Sie war so willig, so leicht zu manipulieren, eine so übermäßig gefällige Dienerin gewesen. Nachdem er erfahren hatte, dass sie als Dr. Sams Assistentin bei WSLJ arbeitete, war er ihr eine Zeit lang gefolgt. In einer Bar an der Bourbon Street hatte er sie angesprochen und sie umgarnt. Innerhalb weniger Tage hatte er ihre Schwäche und ihren unglaublichen Ehrgeiz entlarvt und beides gegen sie verwandt. Zu seinem Vorteil. Zu Samantha Leeds’ Sturz.
Es war so einfach gewesen.
Aber einfach ist es eigentlich immer, stellte er nun fest, als er an dem offenen Koffer des Mimen mit den paar Dollarscheinen vorüberging. Eine Schar Tauben trippelte und flatterte ihm aus dem Weg.
So leicht es auch gewesen war, Melanies schwachen Punkt zu entdecken, war es doch noch um ein Vielfaches leichter gewesen, das Bedürfnis seines Gefangenen zu erraten. Dieser war beherrscht von der Gier nach jeder Chemikalie, die geschluckt, geschnupft oder in den Körper gespritzt werden konnte, und Father John hatte seinen Hunger bereitwillig gestillt, hatte ihm Substanzen gegeben, die den Körper entkräfteten. Das war das Geheimnis, der Schlüssel zum Erfolg: die Schwäche des Feindes zu erkennen und die gierige Sucht zu befriedigen, alles unter dem Deckmantel der Hilfsbereitschaft.
Er bog von der Decatur auf die North Peters Street ab und schritt schneller aus. Bald würde die Dämmerung anbrechen. Die Dunkelheit war ihm willkommen, er freute sich auf die kommende Nacht, denn dann sollte Melanie Davis für ihre Sünden bezahlen.
Er ging am Französischen Markt vorbei in Richtung Fluss und sog den berauschenden, modrigen Geruch ein. Er griff in seine Tasche, berührte seine heilige Waffe, spürte die scharfe, dehnbare Kraft der Schlinge und wusste, dass sie ihn nicht enttäuschen würde. Als er die Straßenbahnschienen überquerte und die grasbewachsene Böschung hinaufstieg, schlug sein Herz schneller. Von dort oben aus betrachtete er den träge fließenden Mississippi. Der Fluss war so prächtig. Breit. Dunkel. Immer in Bewegung. Verführerisch.
Eine Sekunde lang schloss er die Augen und ließ seine Gedanken wandern. Zu der bevorstehenden Nacht. Zu Melanie Davis und den Plänen, die er mit ihr hatte. Seine Finger spielten mit dem Rosenkranz – süßes, süßes Instrument für die Tötung derer, die gesündigt hatten.
In diesem Augenblick freute sich Melanie auf die angekündigte Überraschung.
Was sie nicht wusste: Es sollte die letzte sein, die sie erlebte.