34. Kapitel

Was soll das heißen, Melanie kommt nicht?«, wollte Sam später am Abend auf dem Weg zu ihrer Kabine wissen. Sie hatte den Tag mit dem Studium von Annie Segers Leben verbracht und keine weiteren Hinweise auf Johns Identität gefunden. Außer der Polizei versuchte auch Tys Kollege, der nie gesehene Andre Navarrone, das Puzzle zusammenzufügen. Bevor der Mörder erneut zuschlug.

»Wie ich schon sagte«, antwortete Tiny mit einem Schulterzucken. »Melanie kommt nicht mehr. Nie mehr. Sie ist heute richtig sauer geworden, ist in Eleanors Büro gestürmt und hat gekündigt. Eleanor schäumt vor Wut, weil sie nicht einmal ihre zwei Wochen Kündigungsfrist eingehalten hat.« Er grinste schmierig. »Überleg dir das mal.«

»Was ist mit der Polizistin?«

»Sie kommt bestimmt noch, aber bis dahin sind wir beide ganz allein, Baby.«

»Baby?«, wiederholte Sam, deren Nerven ohnehin schon zum Zerreißen gespannt waren. Sie fuhr zu Tiny herum und konnte nur mit Mühe verhindern, dass sie ihn anschrie. »Hast du mich gerade Baby genannt? Hör zu, Tiny, tu mir bitte einen Gefallen, ja? Nenne mich nie wieder Baby oder Tussi oder Püppi, und benutze auch nicht irgendeinen anderen so genannten Kosenamen, den Männer sich für Frauen ausdenken.«

»Gottchen, es war doch als Kompliment gemeint.«

»Gottchen, es ist aber keins, okay?«, raunzte sie ihn an, bemerkte dann seinen gekränkten Blick und bereute ihre Heftigkeit sofort wieder. »Puuh, ich bin wohl doch ein bisschen gestresster, als mir selbst klar war. Entschuldige. Du hast einfach einen wunden Punkt berührt.«

»Schon gut. Ich tu’s nie wieder«, versicherte er, offenbar noch immer verletzt. Damit schlüpfte er in die Kabine neben ihrer.

Sam schaute auf die Uhr und stellte fest, dass ihr gerade noch genug Zeit blieb, um Melanie anzurufen und ihr deutlich zu machen, dass sie gebraucht wurde. Statt die technische Anlage in ihrer Kabine durcheinander zu bringen, lief sie zu Melba ins Foyer und bediente sich dort eines freien Apparats. Sie wählte, und während sie versunken die verschiedenen grotesken, von Halogenlicht angestrahlten Kunstgegenstände betrachtete, wartete sie, dass Melanie ranging.

»Mach schon, mach schon«, sagte sie mit einem neuerlichen Blick auf die Uhr.

Melanies Anrufbeantworter meldete sich. »Hi, ich bin nicht zu Hause … Sie kennen das übliche Prozedere, hinterlassen Sie bitte eine Nachricht.« Der Signalton erklang.

»Melanie? Melanie … bist du da? Hier ist Sam. Komm schon, melde dich, ja? Wir könnten hier im Studio ein bisschen Hilfe gebrauchen. Bitte. Melanie? Melanie …«

Der Hörer wurde abgehoben.

»Mel–«

Und wieder auf die Gabel geknallt.

Samantha schrak zusammen und kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn hatte, mit Melanie zu sprechen. Sie war sauer, sie würde es sich nicht anders überlegen. Nicht in dieser Nacht. Anscheinend wollte sie ihren Kollegen etwas beweisen. Sam eilte zurück in ihre Kabine und stieß beinahe mit Dorothy, der Polizistin, zusammen, die, einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand, gerade um die Ecke kam.

»Uuups …« Es gelang Dorothy zu verhindern, dass der Kaffee überschwappte. »Jahrelanges Training«, erklärte sie und fügte hinzu: »Wie ich höre, sind Sie heute Nacht allein.«

»Das habe ich eben erst erfahren.« Sam war vor ihrer Kabine angelangt und warf einen Blick ins benachbarte Studio. Tiny saß an seinem Pult, den Kopfhörer über den Ohren.

»Keine Sorge«, bemerkte Dorothy, die mit der freien Hand die Tür öffnete. »Ich kenne die Abläufe. Sie, Tiny und ich, wir schaffen das schon.«

»Das hoffe ich«, sagte Sam und wünschte, Melanie wäre nicht so unbeständig und starrsinnig. Trotz ihrer Fehler war Melanie eine bewährte Kollegin, anregend, immer auf dem neuesten Stand, unzählige überspannte Vorhaben im Kopf. Genau das ist ihr Problem, dachte Sam, die Kleine ist ehrgeiziger, als gut für sie ist.

Kaum hatte sie die Kabinentür hinter sich geschlossen, schob Sam alle Gedanken an Melanie zur Seite. Sie hatte zu arbeiten. Und sie hatte einen Plan. Einen Plan, den sie weder Ty noch Eleanor noch der Polizei anvertraut hatte, einen Plan, den sie nur ausführen würde, wenn sie sich ganz sicher fühlte. Doch sie war überzeugt, dass ihr nichts geschehen konnte. Sie wurde zum Sender und zurück nach Cambrai gefahren, das Haus war abgeschlossen, die Alarmanlage eingeschaltet, und hier an ihrem Arbeitsplatz wimmelte es von Sicherheitsdienstleuten und Polizisten.

Sie musste John erreichen, musste der Polizei helfen, ihn zu schnappen, bevor er sich sein nächstes Opfer suchte.

Sie stellte Mikrofon und Headset ein, überprüfte die Lautstärke und vergewisserte sich, dass das Computerdisplay richtig funktionierte. Auf ein Zeichen von Tiny in der Nebenkabine hin hörte sie die Eingangsmusik und wartete, bis die letzten Takte verklungen waren. Dann beugte sie sich übers Mikrofon. »Guten Abend, New Orleans, hier ist Dr. Sam mit ›Mitternachtsbeichte‹, einer Talkshow, die Herz und Seele gut tut. Heute Nacht wollen wir über Opfer sprechen«, sagte sie, überzeugt, dass dieses Thema John am ehesten dazu bewegen würde, sie anzurufen. »Wir alle bringen Opfer. Jeden Tag. Normalerweise für einen Menschen, den wir lieben, für den Chef oder für etwas, das wir uns wünschen. Es ist ein Teil unseres Lebens. Aber manchmal haben wir das Gefühl, dass ein Opfer zu groß ist, dass wir immer nur geben und dass es nicht anerkannt wird.« Schon blinkten die Kontrolllämpchen der Leitungen eins, zwei, drei und vier. Aus den Augenwinkeln sah sie Tiny und die Polizistin, die redeten, nickten, die Anrufe siebten. Der erste Name erschien auf dem Display. Arlene.

Sam drückte die entsprechende Taste. »Hier ist Dr. Sam«, sagte sie. »Mit wem spreche ich?«

»Hi. Hier ist Arlene.«

»Willkommen in unserer Sendung, Arlene. Ich schätze, du rufst an, weil du persönliche Erfahrungen oder Beobachtungen zum Thema Opfer beisteuern willst?«

»Ja, ja. Genau. Ich bin Mutter von drei Kindern …« Arlene ließ sich darüber aus, dass sie alles für ihre Kinder tat und sie bedingungslos liebte. Währenddessen las Sam die übrigen Namen auf dem Display. Mandy war auf Leitung zwei, Alan auf der drei, Jennifer auf der vier.

Nachdem Sam mit den vier Anrufern gesprochen hatte, war die Sendung schon zur Hälfte vorüber. Bis jetzt hatte John den Köder noch nicht genommen.

Sam hoffte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er anbiss.

 

»Ich soll so tun, als wäre ich Dr. Sam?«, fragte Melanie ihren Freund und verdrehte die Augen. Sie war noch immer wütend wegen der Vorfälle im Sender und hatte bereits rasch hintereinander zwei Gläser Wein getrunken. Jetzt stand sie in der Kochnische ihrer Studiowohnung, schnitt Limonen in Scheiben und mixte Drinks. Ihr Freund, in schwarzer Jeans, schwarzem T-Shirt und Lederjacke, durchmaß den Raum von einem Ende bis zum anderen. Er wirkte nervös, und die prickelnde Erregung, die Melanie in seiner Gegenwart stets verspürte, war intensiver als sonst. Sie wusste nicht viel von ihm, schätzte ihn aber als schlimmen Finger ein, als einen Menschen, dem nichts heilig war und der sich nicht um das Gerede der anderen oder um gesellschaftliche Gepflogenheiten scherte.

Der Chardonnay zeigte Wirkung. Melanie war nicht mehr so verkrampft, ihre Muskeln entspannten sich ein wenig, doch ihre sonst so geschickten Finger handhabten das Messer ein bisschen unbeholfen.

»Ich denke, das könnte ein interessantes Spielchen sein«, sagte er, blickte aus dem Fenster und schloss die Fensterläden, offenbar um eine intimere Atmosphäre herzustellen.

»Oh, ich hatte ganz vergessen, dass du auf Spielchen stehst.«

»Tun das nicht alle?«

»Nein … eigentlich nicht.« Sie presste etwas Limonensaft in altmodische Gläser voll Gin und Tonic. »Übrigens kannst du die Sonnenbrille jetzt absetzen. Es ist dunkel.«

»Ich habe wieder Probleme mit den Augen. Deshalb lasse ich sie an.«

»Oh.« Immer wieder vergaß sie, dass er unter irgendeiner Schwäche litt, die verhinderte, dass sich seine Pupillen angemessen weiteten, und dass er deshalb immer bemüht war, sich vor Licht zu schützen. Doch hier in der Wohnung hatte Melanie alle Lampen gelöscht und stattdessen Kerzen angezündet. »Wie du willst.« Sie hatte keine Lust zu streiten. Im Grunde war sie schon wieder milde gestimmt, und sie glaubte, eine ausgedehnte Liebesnacht würde ihr jetzt wirklich gut tun. Mit einem verstohlenen Blick auf ihr Bettsofa stellte sie sich vor, nackt mit ihm dort zu liegen, während er wild in sie hineinstieß, wie er es vor Wochen in Sams Bett getan hatte.

»Wie du willst«, wiederholte er. »Das ist eine interessante Aussage.«

Er bedachte sie mit seinem umwerfenden Lächeln. Ihr Herz begann zu rasen. Eindeutig ein schlimmer Finger. Nicht der Typ, den man Mom und Dad vorstellen kann. Zum Ehemann nicht geeignet, aber das war ihr egal. »Was mich betrifft, können mich alle bei WSLJ einschließlich der hauseigenen Radiopsychologen am Arsch lecken. Mit denen bin ich fertig. In dieser Stadt gibt es genügend Jobs, ich muss mich nicht mit dem Scheiß begnügen, den sie mir da bieten.«

»Natürlich nicht.« Er ging zur Stereoanlage, legte einen Schalter um, und im nächsten Moment ertönte Samanthas Stimme aus dem Kino-Soundsystem, das Melanie selbst installiert hatte.

»Ist ein Opfer also etwas Gutes? Ist es notwendig?«, befragte Dr. Sam das Publikum.

Melanie glaubte, sich übergeben zu müssen. Wie hatte sie das selbstgerechte Weibsstück überhaupt so lange ertragen können? »Sie versucht immer noch, John zu einem Anruf zu reizen«, sagte sie.

»Möchte wetten, er beißt an.« Er ließ die Jalousien herab.

»Würde ihr recht geschehen. Er macht sie zu einem nervlichen Wrack, weißt du?«

»Kann ich mir vorstellen.«

»O ja.« Die Drinks in den Händen, durchquerte sie das kleine Zimmer. »Vielleicht sollte ich anrufen – nein, nein, viel besser noch: Du rufst an. Du kannst den John so wunderbar imitieren. Manchmal glaube ich fast … Ich weiß, das klingt verrückt, aber manchmal frage ich mich, ob du vielleicht John bist.«

»Hättest du dann nicht Angst vor mir?« Er starrte sie eindringlich an.

»Und wie. Der Typ ist total abgedreht, und jetzt … jetzt bringt man ihn mit irgendwelchen Morden in Verbindung. Es ist übrigens ein dummer Zufall, dass er sich zur selben Zeit zum ersten Mal bei Sam gemeldet hat, als wir mit unseren Streichen gegen sie angefangen und diese Annie-Seger-Geschichte hervorgekramt haben.« Sie reichte ihm ein Glas. »Es gibt mir schon zu denken.«

»Hoffentlich sind es keine schlechten Gedanken.«

Er nahm einen Schluck von seinem Drink und musterte Melanie durch diese verdammte Brille, die gleiche Art Brille, wie sie der Mörder auf dem Phantombild trug. War es möglich … Ausgeschlossen. »Manchmal glaube ich, dass du auch ein Spiel mit mir treibst«, bemerkte sie und stürzte ein Viertel des Gin Tonic herunter. »Es macht dir Spaß, mir Angst einzujagen. Das törnt dich an. Du willst, dass ich glaube, du könntest der Spinner sein, der beim Sender anruft.«

»Habe ich nicht gerade gesagt, dass wir alle unser Spielchen treiben?«

Sie kicherte. Trank noch einen großen Schluck und fühlte sich schon leicht beschwipst. Frei. Ungebunden. Vielleicht war es gut, dass sie WSLJ verließ. Sie fuchtelte scherzhaft mit dem Finger unter seiner Nase herum. »Du drehst den Spieß immer um.«

»Und das gefällt dir.«

»Ja«, antwortete sie, schlang einen Arm um seinen Nacken und blickte zu ihm auf. »Ja, das gefällt mir.«

»Mir auch.« Seine Stimme war so dunkel und sexy, sanft schleppend nach Texas-Art, und das fand sie sehr aufreizend. »Also, dann tu mir den Gefallen … Setz dich einfach hin und tu so, als wärst du Dr. Sam, die ihre Sendung moderiert.« Er deutete auf ihr Bettsofa.

»Und wer bist du?«, erkundigte sie sich, während eine weinerliche Frauenstimme aus den Lautsprechern tönte. Die Anruferin beklagte sich darüber, dass sie ihre alten Eltern pflegen musste. Ach, hör doch auf zu jammern, dachte Melanie.

»Wer ich bin? John, versteht sich.«

»Versteht sich«, wiederholte sie trocken und fügte leise hinzu: »Das hätte ich mir denken können.«

»Also – hat sie bei der Sendung so etwas an?«, fragte er mit einer Handbewegung, die ihre Shorts und das Trägertop umfasste.

»So etwas? Die versnobte Frau Doktor aus L.A.? Nie im Leben.«

»Dann zieh dich um.«

»Wie denn?«

»So, dass es stimmt.«

»Ich habe keine Lust …«

»Komm schon, Melanie. Mach mir die Freude. Mach dir die Freude.«

Die Vorstellung sagte ihr zu, und trotz leise nagender Zweifel ging sie zum Schrank und nahm einen Khaki-Wickelrock und eine weiße ärmellose Bluse heraus – das war typisch Dr. Sam. Sie zog sich in den Ankleidebereich neben dem Bad zurück, riss sich die Kleider vom Leib, zögerte kurz bei der Unterwäsche und streifte sie ebenfalls ab. Wenn sie in dieser Nacht mit ihm schlafen wollte, musste sie ihn schon mit der Nase darauf stoßen. Sie lockerte ihr Haar, trat hinter dem Raumteiler hervor, und sah ihn dort stehen, beide Gläser in den Händen.

»Ich habe deinen Drink aufgefüllt«, erklärte er, reichte ihr das Glas und stieß mit ihr an. »Auf die Vergangenheit, die wir hinter uns lassen.«

»Ganz besonders WSLJ.« Sie nahm einen tiefen Schluck und rümpfte die Nase. Der Drink schmeckte ein bisschen bitter.

»Schmeckt es dir nicht?«, fragte er.

Sie wollte ihn nicht kränken und sagte ausweichend: »Ein bisschen … ein bisschen stark.«

»Ich dachte, du wärst in Partylaune.«

»Bin ich auch«, versicherte sie. Ihr war leicht schwindlig, die Lippen fühlten sich taub an. Sie war bereits betrunken, es war rasend schnell gegangen. Aber sie hatte auch nicht viel gegessen und vor ihrem ersten Drink schon zwei … oder drei … Gläser Wein genossen. »Ich sollte mich vielleicht lieber setzen.«

Er lächelte. »Wenn du möchtest. Und jetzt … wie wär’s, wenn du Dr. Sam spielst?«

Junge, Junge, er war aber hartnäckig heute Abend. Aber das störte sie nicht. Melanie schickte ihm einen anzüglichen Blick, dann ergriff sie ihr schnurloses Telefon und senkte die Stimme zu einem tiefen, vollen Flüstern. »Guten Abend, New Orleans, ihr hört ›Mitternachtsbeichte‹, und ich bin eure Gastgeberin, Dr. Sam. Erzählt mir, was euch auf der Seele liegt, schüttet mir euer Herz aus, beichtet all eure Sünden und –«

»Moment«, fiel er ihr ins Wort.

»Was denn?« Mannomann, in ihrem Kopf drehte es sich gewaltig. »Ist das … ist das nicht so, wie du es wolltest?«

»Ungefähr. Aber es könnte noch besser sein.«

»Besser?«, gab sie zurück, und ihre Zunge fühlte sich zu groß an für ihren Mund. Zu dick. Sie konnte nicht richtig sprechen, konnte nicht einmal mehr klar denken.

»Du brauchst das hier.«

»Wa…?«, fragte sie und sah, wie er in seine Tasche langte und eine langhaarige rote Perücke hervorzog. »Oh …« Sofort stand ihr Samantha Leeds’ dunkelrotes Haar vor Augen. »Muss ich wirklich?«

»Ja, Samantha, du musst.«

»Aber ich heiße Melanie …« Er streckte die Hand aus, hob ihr Haar an und zog es ein wenig zu heftig hoch auf ihren Kopf. »Autsch … Warte … Ich mach es selbst«, rief sie, konnte jedoch ihre Hände nicht dazu bringen, ihrem Verstand zu gehorchen. Das war merkwürdig. Sie war betrunken … nein, mehr als betrunken … Als ob … als ob sie etwas eingenommen hätte … als ob jemand ihr etwas in den Drink geschüttet hätte … als ob …

»So«, sagte er, und sie bemerkte, dass sein Gesicht gerötet war, dass Schweiß unter seiner dunklen Brille hervorrann. »So ist es schon besser.« Er sah sie mit einem kalten, höhnischen Lächeln abschätzend an, und ihr wurde kalt bis ins Mark. »Und jetzt hör zu …« Er wandte den Kopf wie in Trance zu den Lautsprechern um.

»Aber ich dachte, ich sollte –«

»Halt den Mund! Du sollst einfach den Mund halten!«

»Augenblick mal.« Warum war er so gemein zu ihr? Ungewollt schossen ihr Tränen in die Augen.

»Hey … schschsch …«, sagte er entschieden freundlicher, neigte sich ihr zu und küsste sie. Sie fühlte sich gleich besser, obwohl ihr noch immer schwindlig war. »Zieh dich doch aus, Sam.«

»Ich bin nicht –«

»Es ist doch nur ein Spiel.«

Ach ja. Jetzt erinnerte sie sich wieder. Sie nestelte an den Knöpfen der Bluse und spürte, wie seine Hände ihr zu Hilfe kamen.

»Du musst bereuen.«

»Was?«

»Deine Sünden.«

Ihre Bluse stand offen, ihre Brüste waren entblößt.

»Siehst du … Du bist eine Schlampe, Samantha.«

»Aber ich bin nicht …«

Verschwommen nahm sie wahr, dass ihr etwas über den Kopf gestreift wurde, harte, kühle Steine – eine Halskette. Im Hintergrund hörte sie über das Dröhnen in ihrem Kopf hinweg Dr. Sam über Opfer reden und …

Die Halskette war eng, schnitt ihr in die Haut. »Hey!« Sie konnte zwar nicht mehr klar denken, aber sie wusste, dass hier etwas nicht stimmte. »Du tust mir weh.«

Er zog die Schlinge noch fester zu, und sie konnte nicht mehr sprechen, nicht schreien. Das … das ging zu weit. Hör auf! Ich kriege keine Luft!, wollte sie rufen, aber die Worte kamen nicht über ihre Lippen. Ihre Finger fuhren an ihren Hals und versuchten, die grauenhafte Halskette wegzuzerren. Das war kein Spiel, das wurde ihr jetzt bewusst. Sie erblickte flüchtig das Gesicht ihres Freundes, die verzerrten Lippen, die Zähne gefletscht wie die eines wilden Tieres, die Augen verborgen hinter den dunklen Gläsern.

Nicht! Bitte! O Gott! All die Ängste, die in einem Winkel ihres Bewusstseins gehaust hatten, all die Ahnungen, die sie standhaft verdrängt hatte, brachen sich nun Bahn. Er ist John. Der Anrufer. Der Mörder. Er bringt dich um! Er hat es von Anfang an geplant.

Ihre Lungen schmerzten, ihre Haut brannte. Sie rang nach Luft – vergeblich. Sie trat um sich und kratzte und wehrte sich, doch er war stark, so verdammt stark.

»So ist es recht, New Orleans! Kommt schon, sprecht mit mir, erzählt mir von den Opfern, die ihr gebracht habt …«, sagte Dr. Sam wie von weither, und ihre Stimme entfernte sich immer mehr …

 

Father John zog seine gemeine Waffe zu, knirschte mit den Zähnen, starrte in die goldenen Augen des Mädchens, das ihm vertraut hatte. Dummes, dummes Mädchen, dachte er, als ihr Widerstand erschlaffte und sie still dalag, leblos. Die Seele der Sünderin war von ihrem Körper befreit. Seine Hände schmerzten, die Knöchel waren weiß von der Anstrengung, ihr Leben auszulöschen.

Das Blut rauschte in seinen Ohren, die Erregung des Tötens machte ihn hart. Er lauschte auf das letzte Rasseln in ihrer Brust und auf die melodische Stimme seines nächsten Opfers, der einzigen noch lebenden Frau, die er wollte … Du bist bald an der Reihe, Dr. Sam … Sehr bald schon, und für dich habe ich mir etwas ganz Besonderes ausgedacht.

Er löste den Rosenkranz von Melanies Hals, und begann hastig, der Leiche den Rock auszuziehen. Er war hart, heiß. So sehr, dass es schmerzte. Samanthas Stimme brachte sein Blut zum Kochen, peitschte seine Lust hoch. Er bestieg die tote Frau und schloss die Augen. Er war bei Samantha. Mit Leib und Seele. Er lag in ihrem Bett, in dem prachtvollen Himmelbett, wie damals mit Melanie. Sie hatte sich auf ihn gelegt, ihn mit den Lippen umfangen, dort, in Samanthas privatem Zimmer, in dem es überall nach ihr duftete … Da war er ihr so nahe gewesen. Und bald würde er ihr wieder nahe sein. Noch viel näher. Ihre heutige Botschaft zum Thema Opfer war für ihn bestimmt.

Für ihn allein.

Sie war bereit, er wusste es. Sie würde für ihre Sünden büßen, und dann würde sie sich opfern. Sich ihm opfern.

 

Ty schaute auf seine Uhr. Sams Sendung würde nur noch fünfundvierzig Minuten dauern, und es war Zeit aufzubrechen. Navarrone hatte sich noch nicht blicken lassen. Ty leerte sein Glas und griff nach seinem Schulterhalfter.

»Du glaubst demnach, Opfer zu bringen gehört einfach zum Leben dazu?«, fragte Sam einen Anrufer, was Tys Sorge nur noch erhöhte. Was dachte sie sich dabei, den Mörder so aufzustacheln?

»Ja, richtig. Ich habe es satt, alle Welt darüber jammern zu hören«, sagte ein Mann mit nasaler Stimme.

Durchs offene Fenster vernahm Ty das unverkennbare Kläffen von Mrs. Killingsworths Hund, der mal wieder Radau machte.

Sasquatch hatte auf dem Teppich vor der Tür gelegen. Nun stand er auf und spitzte die Ohren. Ein dumpfes Grollen kam aus seiner Kehle.

»Schon gut«, beruhigte Ty ihn, ging zur Schiebetür hinüber und schlüpfte nach draußen, wo Insekten summten und das Radio nur gedämpft zu hören war. Aber irgendetwas stimmte nicht. Er spürte es so deutlich wie den heißen Atem des Windes. Blinzelnd starrte er in der Dunkelheit zu seinem Boot hinüber. Er glaubte, einen sich bewegenden Schatten zu sehen, sagte sich jedoch, dass es nur Einbildung gewesen sei.

Er durfte nicht länger warten. Nicht, wenn er dafür sorgen wollte, dass Sam sicher nach Hause gelangte. Ihre Stimme im Radio, die noch immer Fragen beantwortete und Ratschläge erteilte, drang an sein Ohr. Er eilte wieder hinein. »Los«, sagte er zu seinem Hund. Als er nach seiner Pistole im Schulterhalfter griff, richteten sich die feinen Härchen auf seinem Arm auf. »Gehen wir.« Er war gerade zur Tür hinaus, da bemerkte er die dunkle Gestalt, die sich aus den Schatten löste.

Tys Finger spannten sich um die Pistole. »Navarrone?«

»Ja.« Andre erwartete ihn bei seinem Volvo.

»Mistkerl, wo hast du gesteckt?«

»Steig ein, dann sag ich’s dir«, erwiderte der andere und marschierte um den Volvo herum zur Beifahrertür. »Ich glaube, ich weiß, wer der Mörder ist.«

 

Sam warf einen Blick auf die Uhr. Die Sendung war gleich vorüber. Sie handelte die Anrufe ab, einen nach dem anderen, hörte zu, gab den Leuten Tipps. Ihre Muskeln waren verkrampft, ihre Nerven zum Zerreißen gespannt.

John hatte nicht angerufen. Das überraschte sie im Grunde nicht sonderlich. Es war gut möglich, dass er sich später meldete, vielleicht sogar erst, wenn sie zu Hause war.

»Du würdest also für niemanden ein Opfer bringen«, sagte Sam zu einer Frau, die sich als Millie vorgestellt hatte, und sah im selben Moment aus den Augenwinkeln, wie Tiny hektisch winkte und auf ihren Computer deutete. Sie schaute auf das Display. Johns Name blinkte auf Leitung drei.

»Ich habe genug Opfer gebracht, als ich verheiratet war«, entgegnete Millie.

Sam musste sie in der Leitung halten, musste sie zum Reden animieren, damit John, falls er die Sendung verfolgte, wusste, dass sie noch beschäftigt war. In der Zwischenzeit konnte sein Standort ermittelt werden.

»Und wenn du noch einmal geheiratet hättest?«

»Eher wäre die Hölle eingefroren«, schnappte Millie und schnaubte verächtlich.

Hör nicht auf, Millie. Erzähl weiter, flehte Sam im Stillen, und während sie Leitung drei blinken sah, brach ihr der Schweiß aus. Bevor er ernüchtert auflegte, musste sie seinen Anruf entgegennehmen. Er wusste zweifellos, dass man versuchen würde, den Anruf zurückzuverfolgen, also achtete er bestimmt darauf, nicht zu lange in der Leitung zu bleiben. »Danke, dass du uns deinen Standpunkt klar gemacht hast«, sagte Sam, als die Polizistin am Fenster zwischen den Kabinen auftauchte und Sam mithilfe von Gesten aufforderte, sich jetzt John zuzuwenden und irgendwie dafür zu sorgen, dass er nicht zu schnell wieder auflegte. Sam drückte die Taste für Leitung drei. »Hallo, hier spricht Dr. Sam. Du bist auf Sendung.«

Niemand meldete sich.

»Hallo? Hier ist Dr. Sam«, sagte sie noch einmal und bekam noch immer keine Antwort.

Sie wartete; das Kontrolllicht für Leitung drei blinkte nach wie vor, was bedeutete, dass der Anrufer noch nicht eingehängt hatte.

»Hörst du mich? Möchtest du über Opfer reden?«, fragte sie in dem Versuch, die Stille zu überbrücken. »Hallo? Ist da jemand?« Sie blickte durch die Scheibe zu der Polizistin hinüber, die einen Finger hob, die Taste der Leitung drei drückte, damit der Anruf nicht verloren ging, und Sam anwies, ein anderes Gespräch anzunehmen.

Sam tat, wie geheißen. Sie unterhielt sich nun mit einem Mädchen namens Amy, immer in dem Bewusstsein, dass Leitung drei noch aktiv war, dass John irgendwo da draußen lauerte, die Sendung anhörte und versuchte, in Kontakt zu ihr zu treten.

Und wenn er in diesem Augenblick jemanden umbringt? Das ist es doch, was ihn antörnt: Er tötet Frauen, während er deine Sendung anhört. So hat er es mit Leanne gemacht und mit den anderen auch. In diesem Augenblick könnte er …

Sie sah Tiny am Fenster stehen und verzweifelt winken, und ihr wurde klar, dass sie etwas verpasst hatte, dass Amy aufgelegt hatte. »Entschuldigt bitte«, sprach Sam ins Mikrofon. »Anscheinend sind hier bei WSLJ technische Probleme aufgetreten. Uns bleiben noch ein paar Minuten, also, ruft bitte an.« Leitung eins blinkte auf. Der Name auf dem Computerbildschirm war John.

Er hatte also eingehängt und noch einmal angerufen. Sie schaltete die Leitung frei. »Hier ist Dr. Sam, du hörst ›Mitternachtsbeichte‹. Mit wem spreche ich?«

»Du weißt, wer ich bin, Samantha. Ich bin John, Father John, und ich weiß alles über Opfer. Ja, und ich habe gerade sogar ein weiteres Opfer gebracht.«