2. Kapitel
Wenn du mich fragst, sie spielt Theater«, flüsterte Melba Tiny zu und zwinkerte dann freundlich in Sams Richtung, als diese am Rezeptionspult der WSLJ-Büros, einen Block von der Decatur Street entfernt gelegen, vorüberhumpelte. Wespentaille, mit mokkafarbener, makelloser Haut und einem Tausendwattlächeln, das kalt und missbilligend werden konnte, wenn jemand versuchte, sich an ihr vorbeizumogeln, hütete Melba die Türen von WSJL, als wäre sie ein scharf abgerichteter Rottweiler. Hinter ihr befand sich eine Glasvitrine, von weichem Halogenlicht beleuchtet und angefüllt mit allem Möglichen: von Prominentenfotos und Preisen, die der Sender gewonnen hatte, bis zu einer Voodoo-Puppe und einem ausgestopften Alligator, Erinnerungsstücke, die jeden Besucher darauf hinwiesen, dass man sich eindeutig im Herzen von New Orleans befand.
Sam hatte Melbas Bemerkung gehört und verdrehte die Augen. »Recht hast du. Ich trage das hier«, sie tippte mit der Gummispitze ihrer Krücke gegen ihr Gipsbein, »nur, um mich vor der Arbeit drücken zu können und Mitleid zu erregen. Und aus dem gleichen Grund schlucke ich alle paar Stunden Ibuprofen. Ich neige nun mal zum Masochismus.«
»Psychogequatsche«, schimpfte Melba.
»Was soll ich sonst sagen? Das ist mein Beruf.« Die Anspannung fiel von ihr ab. Es war ein schönes Gefühl, wieder im Sender zu sein, und sie freute sich auf die Arbeit. Nach einer unruhigen Nacht hatte sie erleichtert den neuen Tag begrüßt und sich ermahnt, nicht solch ein Angsthase zu sein. Sie hatte den Garten auf Fußspuren untersucht, keine gefunden und dann das verstümmelte Foto mit den Augen der Expertin betrachtet, mit Distanz. Sie hatte den merkwürdigen Anruf noch einmal abgehört und beschlossen, deswegen nicht auszuflippen.
Melba stützte das Kinn in die Hand. Ein Dutzend Armbänder klimperte und blitzte im Licht. »Weißt du, ich habe so meine eigene Theorie über Seelenklempner – äh, Psychologen.«
»Nur raus damit«, drängte Sam.
»Ich glaube, jeder Psychologe hat sich aufgrund eines Charakterfehlers für diesen Beruf entschieden. Die meisten Seelenklempner, die ich kenne, sind verrückt. Und ihr Radiotypen seid die schlimmsten. Also wirklich, wer sitzt schon gern freiwillig die ganze Nacht im Studio und hört sich die Probleme anderer Menschen an, obwohl er doch weiß, dass er ihnen nicht helfen kann? Die rufen doch nur an, weil sie einsam sind.«
»Oder geil«, steuerte Tiny zu der Unterhaltung bei, der gerade ein Päckchen auf Melbas Pult legte. Leiser Jazz rieselte aus verborgenen Lautsprechern.
»Genau. Lass dir einen abgehen, indem du Dr. Sam anrufst, die private nächtliche Couch für New Orleans. Beichte, und du wirst geheilt.«
Sams Kopf ruckte hoch. Ihr Lächeln gefror. »Was hast du gesagt?«
»Lass dir einen abgehen …«
»Nein, nein, von wegen Beichten?«
»So ist es doch«, beharrte Melba, während das Telefon zu klingeln begann. »Du bist eine Art Priesterin, Predigerin oder was auch immer. Und in deiner Sendung verwandelt sich das ganze Studio in einen Hightech-Beichtstuhl. Schon der Name deiner Sendung, Schätzchen … ›Mitternachtsbeichte‹ … Sagt das nicht alles?« Sie drückte eine Taste und betrachtete ihre glänzenden rosafarbenen Fingernägel. »WSLJ, New Orleans’ Zentrum von Jazz und Radio-Talk. Mit wem darf ich Sie verbinden?«
»Kümmer dich nicht um sie«, sagte Tiny. »Du weißt doch, sie hat immer Hummeln im Hintern. Aber sie liebt dich.«
»Es ist schön, geliebt zu werden«, murmelte Sam, noch immer in Gedanken über Melbas Ausführungen. Vielleicht war sie nur nervös und vermutete überall versteckte Bedeutungen. Sie hatte nicht genug Schlaf bekommen, ihr Bein hatte geschmerzt, und in ihrem Kopf waren die Gedanken an die verflixte Nachricht auf dem Anrufbeantworter und das verhunzte Foto gekreist. Und bisher war der Tag äußerst nervenaufreibend gewesen. Zuerst hatte sie sich mit der Polizei von Cambrai herumgeschlagen, hatte mit einem Beamten telefoniert und dann auf sein Kommen gewartet. Er hatte ihr versichert, seine Kollegen würden jetzt häufiger in dieser Wohngegend Patrouille fahren, und hatte die Kassette des Anrufbeantworters, den Umschlag und das Foto mitgenommen. Später, immer noch nervös, hatte sie die Kreditinstitute angerufen, um sicherzugehen, dass tatsächlich alle Kreditkarten mittlerweile gesperrt waren. Mit einigen Schwierigkeiten hatte sie sich auf den Weg zur Verkehrsbehörde gemacht, um sich einen neuen Führerschein zu besorgen, dann zum Schlüsseldienst mit dem Auftrag, in ihrem Haus sämtliche Schlösser auszutauschen und einen Ersatzschlüssel für ihr Auto anzufertigen. Schließlich war sie noch zu ihrer Versicherung gefahren und hatte dort fast eine Stunde lang in der Schlange stehen müssen, um eine neue Versichertenkarte zu beantragen. Ihre rezeptpflichtige Sonnenbrille hatte sie noch nicht ersetzen können, doch das war der letzte Punkt auf ihrer Liste, und eine Zeit lang würde sie auch mit Kontaktlinsen und gewöhnlicher Sonnenbrille auskommen.
»… Ich gebe die Information an Mr. Hannah weiter«, sagte Melba nun, beendete ihr Gespräch und kritzelte eine Notiz auf einen Zettel. »Warum wir hier keine Mailbox haben, ist mir unbegreiflich. Als lebten wir noch im Mittelalter oder so.« Sie warf einen Blick zu Tiny hinüber. »Du bist doch das Computergenie. Kannst du uns nicht so was einrichten?«
»Würde ich ja, aber das verdammte Budget gibt es nicht her.«
»Ja, ja, immer ist es das Budget, die Quote, der Marktanteil.« Melba verdrehte die ausdrucksvollen Augen. Ihr lockiges Haar glänzte unter den Neonröhren, die im Empfangsbereich für die Beleuchtung sorgten. »Nun, ich gebe es äußerst ungern zu«, wandte sie sich an Sam, »aber dem Stapel von Fanpost in deinem Fach nach zu urteilen könnte man meinen, die Leute hätten dich vermisst.«
»Das überrascht mich.«
Wieder klingelte das Telefon und beanspruchte Melbas Aufmerksamkeit. Tiny begleitete Sam durch den Hauptgang, liebevoll als »die Aorta« bezeichnet. Das Gebäude war ein richtiger Kaninchenbau, ein Labyrinth von Büros und willkürlich miteinander verbundenen Fluren, denn man hatte das alte Haus, in dem WSLJ und seine Schwestersender untergebracht waren, in den vergangenen zweihundert Jahren immer und immer wieder umgebaut. Die unzähligen Ecken und Winkel waren jetzt in Abstellkammern, Studios, Büros und Konferenzzimmer integriert.
»Schau dir auch deine E-Mails an«, mahnte Tiny und blieb vor der Tür zu seinem Büro stehen, einem kleinen Raum, der vormals ein begehbarer Schrank inmitten der Büros gewesen war. Darin standen ein einsamer Schreibtischstuhl, ein einfacher Tisch und darauf ein Laptop. Tinys einzige Konzession an Raumgestaltung war ein großes Poster, auf dem ein Alligator abgebildet war und das er, wie Sam aufgrund der zahlreichen Einstiche rund um die Schnauze des Tieres feststellte, als Dartsscheibe benutzte. Wo er seine Pfeile versteckte, war ein Geheimnis, das bisher niemand der Mitarbeiter im Funkhaus hatte lüften können.
Offenbar wusste Tiny zu jeder Zeit, was im Hause vor sich ging. Er war Student der Kommunikationswissenschaften in Loyola, entwarf und wartete die Website des Rundfunksenders und hatte sich als wahrer Zauberer in Sachen Computerprobleme erwiesen. In Sams Augen war Tiny unersetzlich, wenn auch ein bisschen abgehoben vom Rest der Welt. Er war ein schlaksiger Bursche, ein typischer Computerfreak, der dringend eine Zahnspange und Clearasil benötigte, aber ein tüchtiger Arbeiter, der unglücklicherweise in Sam verknallt war. Und sie gab vor, es nicht zu bemerken.
»Sind es viele?«, fragte sie, und der Kleine strahlte geradezu.
»Unmengen. Und in allen geht es so ziemlich nur um eins: Die Hörer wollen dich zurück.«
»Du liest meine E-Mails?«, schnappte sie.
Er bekam rote Ohren. »Einige waren ganz allgemein an den Sender adressiert, und trotzdem ging es nur um dich und wann du endlich zurückkommst. Ich, äh, also, deinen privaten Kram habe ich nicht angeguckt.«
Das würdest du bestimmt niemals tun, dachte sie sarkastisch, doch bevor sie Gelegenheit hatte, ihn ins Gebet zu nehmen, drang die sonore Stimme der Programmmanagerin an ihre Ohren.
»Die verlorene Tochter ist also heimgekehrt!« Eleanors Worte hallten durch den Flur.
Die große Schwarze, die sich aus Messing Golfbälle als Briefbeschwerer hatte anfertigen lassen, zur Zierde ihres Schreibtisches, schritt den Flur entlang und lächelte so breit, dass ein mit Gold überkronter Backenzahn zu erkennen war.
»Und wie du aussiehst …« Sie deutete auf Sams Gipsbein. »Der letzte Schrei, zweifellos. Komm, schlepp dich in mein Büro, da können wir reden.« Sie ging voraus durch die Aorta und bog im rückwärtigen Teil des Gebäudes, gegenüber dem verglasten Studio, in dem Gator Brown gerade ein paar beliebte Jazznummern für seine Sendung aufnahm, rechts ab. Gator, mit Kopfhörern über den Ohren, erblickte Sam, grinste und hob eine sommersprossige Hand, ohne auch nur für eine einzige Sekunde sein Samtstimmen-Geplauder zu unterbrechen. Gleichzeitig schaffte er es, eine andere CD für die Tonbandzusammenstellung einzulegen.
»Also, ich höre«, sagte Eleanor und wies Sam einen Sessel zwischen den mit Akten, Disketten, Tonbändern und Büchern gefüllten Bücherschränken zu. »Wie lange musst du dich mit dem Ding da plagen?« Sie deutete auf Sams linkes Bein und setzte sich hinter ihren unordentlichen Schreibtisch.
»Nur noch knapp eine Woche, hoffe ich. Der Knöchel ist nur verstaucht, nicht gebrochen. Ich kann natürlich trotzdem arbeiten.«
»Gut. Denn ich will dich wieder in deinem Studio sehen. Deine Hörer schreien nach dir, Sam, und WNAB wirbt immer aggressiver um dein Publikum. Sie haben Trish LaBelle von sieben auf neun Uhr verlegt, so haben sie immer noch einen Vorsprung zu deiner Show und können später Kopf an Kopf gegen dich antreten. Ich überlege, ob ich deine Sendung um eine Stunde nach hinten verschiebe, also auf elf, aber Gator schreit Zeter und Mordio und behauptet, er würde seine Zuhörer verlieren und sein Jazz müsste spät in der Nacht gespielt werden. Ihm wäre es lieber, wenn du weiterhin von zehn bis Mitternacht auf Sendung bleibst.« Sie griff in ihre oberste Schublade und entnahm ihr ein Röhrchen mit Kalziumtabletten. »Und mein Mann versteht nicht, wieso ich hohen Blutdruck habe.«
Sam glaubte nicht an den beschriebenen Konkurrenzkampf. »WNAB hat sein Publikum, wir haben unseres.«
»Die Hörer sind schneller übergelaufen, als du denkst.« Eleanor war ganz Geschäftsfrau. Sie schluckte zwei Tabletten. »Sieh mal, wir alle haben hart gearbeitet, um diesen Sender zum besten zu machen, und wir wollen unser Publikum doch jetzt nicht verlieren. Ich missgönne dir deinen Urlaub nicht, versteh mich nicht falsch«, sagte sie und hob die Hände, Handflächen nach außen gekehrt, »aber ich muss an den Sender denken, das ist mein Job. Ich kann nicht zulassen, dass WNAB oder sonst jemand uns unsere Quoten abspenstig macht.« Sie brachte ein Lächeln zustande, das allerdings nicht echt wirkte, und als das Telefon klingelte, wurde sie auf der Stelle wieder ernst und nahm schnell den Hörer ab. »Hier Eleanor … Ja … ich weiß.« Sie zog an der Schnur, rollte mit ihrem Stuhl rückwärts und kramte in einem Stapel Akten, der auf einer Kredenz abgelegt worden war. »Gut, mal sehen. Hast du mit der Verkaufsabteilung gesprochen?« Ihre Stimme klang gepresst. Angespannt. »Ich verstehe … Wir arbeiten daran. Was? … Ja. Samantha ist zurück, also ist für die späten Nachtstunden gesorgt … Genau. Gib mir eine Minute.« Sie wandte sich wieder dem Schreibtisch zu, schnappte sich mit der freien Hand die Computermaus und gab Sam mit einem Blick zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. »Hör zu, George, warte einfach ab. Ich sagte doch, ich kümmere mich darum.«
Samantha hinkte aus dem Raum und schloss die Tür, doch Eleanors Stimme war weiterhin deutlich zu vernehmen.
»Mir fällt schon was ein … Ja, bald. Du liebe Zeit, jetzt krieg nicht gleich einen Herzinfarkt. Beruhige dich … Ich verstehe.«
Sam bog vorsichtig um zwei Ecken und betrat den Flur, der zu den verglasten Studios und Aufnahmeräumen führte. Sie schaute durch ein Fenster und sah Gator, noch immer übers Mikrofon gebeugt, mit den Tonbändern sprechen, als ob er tatsächlich Hörer vor sich hätte, die allesamt seine engsten Freunde waren. Er würde dieses Tonband in sein reguläres Programm hineinschneiden. Auf Sendung war seine Stimme sanft und gedehnt, einladend, der nette Junge von nebenan. Privat war er entschieden geistreicher und lebhafter. Sam winkte, Gator nickte ihr flüchtig zu, und sie ging weiter an mehreren Studios, der Redaktion und der Bibliothek vorüber, bis sie schließlich im Gemeinschaftsbüro angelangt war, das sie mit den anderen Moderatoren teilte. Ihr Fach quoll tatsächlich über vor Briefen. In Gedanken an das abscheuliche Foto prüfte sie sämtliche Umschläge mit großer Sorgfalt. Sie sagte sich, dass das unangenehme Prickeln, das ihr über den Rücken lief, völlig fehl am Platz sei, und schlitzte dann Umschlag für Umschlag auf und überflog den Inhalt.
Sie fand nichts Außergewöhnliches. Kein Schreiben war auch nur annähernd verdächtig.
Angebote, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen zu sprechen oder als Gastgeberin zu fungieren, Genesungswünsche von Hörern, die von ihrem Unfall erfahren hatten, Werbung, Kreditkarten-Angebote … nichts Beunruhigendes. Sie beschloss, den Brief und den Drohanruf den Kollegen im Sender gegenüber nicht zu erwähnen, aber sie würde sich noch einmal bei der Polizei nach deren Ergebnissen erkundigen. Der Brief und die Stimme auf ihrem Anrufbeantworter waren vermutlich nur Streiche. Von irgendeinem Typen, der sich auf ihre Kosten einen runterholte.
Und was ist mit den Schritten auf der Veranda?
Was ist mit Charons sonderbarer Reaktion?
Was ist mit diesem Gefühl, das dich gestern Nacht beschlichen hat, diesem Gefühl, dass unsichtbare Augen dich bei allem beobachten, was du tust?
Sie biss die Zähne zusammen und ermahnte sich wohl zum hundertsten Mal, sich nicht von ein paar boshaften Dummejungenstreichen einschüchtern zu lassen. Sie hatte schließlich auch früher schon mit anonymen Anrufen zu tun gehabt. Wenn sie die Alarmanlage überprüfen ließ und darauf achtete, dass die Polizei von Cambrai zu ihrem Wort stand und die Patrouillen in ihrem Bezirk verstärkte, würde ihr nichts passieren.
Oder?
Ein paar Stunden später – der Großteil der Belegschaft hatte inzwischen Feierabend gemacht – warf Sam gerade Abfall in den Mülleimer, da hörte sie das Klicken hoher Absätze. Sie drehte sich um und sah Melanie in den Raum fegen. Ihr Haar war vom Wind zerzaust, die Wangen rosig von der Hitze des Sommerabends.
»Willkommen daheim«, begrüßte Melanie sie lächelnd. Im Alter von gerade mal fünfundzwanzig Jahren hatte Melanie als Jahrgangsbeste ihren Abschluss am All Saints gemacht, einem kleinen College in Baton Rouge. Ihr Hauptfach war Kommunikationswissenschaften gewesen, das Nebenfach Psychologie. Sie hatte im College-eigenen Rundfunk mitgearbeitet, dann einen Job in Baton Rouge gefunden und schließlich kurz nach Sams Einstieg die Stelle bei WSLJ angenommen. Melanie war wie Sam eine von Eleanors Entdeckungen.
»Danke.«
»Ich gehe runter zum Laden an der Ecke und hole Kaffee und irgendwas total Kalorienreiches … vielleicht Schmalzgebäck mit einem Berg Puderzucker. Möchtest du auch?«
»Die Versuchung ist groß, aber ich glaube, ich verzichte lieber.« Sam legte die Post beiseite und stieß sich mit ihrem Stuhl von dem langen Tresen ab, der als Schreibtisch diente. »Und noch einmal vielen Dank dafür, dass du auf den Kater aufgepasst und für Kaffee und Milch gesorgt hast. Du hast mir das Leben gerettet.«
Melanie strahlte angesichts des Kompliments – in mancher Hinsicht war sie noch ein Kind. »Erinnere dich bitte daran, wenn der Zeitpunkt für meine Revision und die Gehaltserhöhung gekommen ist, ja?«
»Oh, verstehe. Du hast mich bestochen.«
»Ganz genau!« Melanie stand in der Tür, je eine Hand in den Türrahmen gestützt. In dem beinahe durchsichtigen violetten Kleidchen und dem dünnen schwarzen Cape, in Schuhen mit Plateau-Absatz und frisch geschminkt sah sie aus, als wollte sie die Stadt unsicher machen, statt zur Arbeit zu gehen.
»Hast du ein heißes Date?«
»Man soll die Hoffnung nie aufgeben.« Melanie lachte und zog eine Schulter hoch. »Vielleicht habe ich ja mal Glück. Und«, sie hob einen Finger, »gib mir bitte nicht den guten mütterlichen Rat, auf mich Acht zu geben. Ich bin schon ein großes Mädchen.«
»Und ich bin keineswegs alt genug, um deine Mutter zu sein.«
»Dann spar dir auch jeden freundschaftlichen oder womöglich sogar professionellen Rat, ja?«
Sam wusste, wann es an der Zeit war, den Mund zu halten. Melanies letzte Beziehungen waren alles andere als erfreulich verlaufen, und das Mädchen war bereit, sich erneut das Herz brechen zu lassen, doch Samantha hütete sich, ihren Senf dazuzugeben. Immerhin hatte sie selbst in Liebesdingen auch nicht gerade großartige Erfolge zu verzeichnen. »Wann hast du Feierabend?«
Melanie blickte auf ihre Uhr. »Nach der Sendung, genau wie du. Also, was kann ich dir mitbringen? Tee? Mineralwasser?«
»Du brauchst mich nicht zu bedienen.«
»Ich weiß. Ich frage nur, weil du doch ein Gipsbein hast. Wenn du wieder richtig laufen kannst, musst du für dich selbst sorgen, also mach mich jetzt ruhig zu deiner Sklavin.«
»Du willst es nicht anders. Gut, bring mir eine Cola light mit.«
»Mach ich.« Melanie warf einen mitleidigen Blick auf Sams Bein. »Juckt es?«
»Wie verrückt.«
»Du Arme! Ich bin gleich zurück.« Genauso schnell, wie sie gekommen war, war sie auch wieder verschwunden.
Sam überprüfte flüchtig ihre E-Mails, wobei sich ihr Puls leicht beschleunigte und ihre Hand schweißfeucht auf der Maus lag. Doch niemand hatte ihr irgendeine bedrohliche Nachricht geschickt, und sie wurde ruhiger. Sie überflog ein paar Anfragen nach dem Zeitpunkt ihrer Rückkehr, zwei Dutzend Witze, die sie unverzüglich löschte, längst überholte interne Memos, ein Angebot, auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in der Stadt zu sprechen, eine weitere Erinnerung vom Boucher Center an ihren nächsten Termin, einige kurze Grüße von Freundinnen und eine Mail von Leanne Jaquillard, einem siebzehnjährigen Mädchen, das sie im Rahmen einer Gruppentherapie im Boucher Center betreute.
Als Melanie zurückkam, ohne ihr Cape, Spuren von Puderzucker auf den Lippen, eine Dose Cola light in der einen, einen Becher Kaffee in der anderen Hand, hatte Sam bereits so viele Mails wie möglich beantwortet, diejenigen, die sie noch brauchte, archiviert und die übrigen gelöscht.
»Danke«, sagte sie, als Melanie ihr das Getränk reichte. »Dafür bin ich dir was schuldig.«
»Nicht nur dafür – schließlich habe ich deinen hinterhältigen Kater versorgt. Aber wer zählt schon die Gefälligkeiten?« Melanie trank einen Schluck von ihrem Kaffee, und die Puderzuckerreste verschwanden von ihren Lippen.
In dem Moment, als Sam ihre Coladose aufriss, steckte Gator den Kopf zur Tür herein. »Du hast noch etwa fünfzehn Minuten«, verkündete er. »Ich habe zwei Stücke auf Band, dann kommt der Wetterbericht und Werbung. Danach gehst du auf Sendung.« Er wollte schon wieder gehen, doch da fiel ihm noch etwas ein. »Hey, schön, dass du wieder da bist.« Es klang nicht so, als wäre es ernst gemeint.
»Danke.«
»Was ist denn überhaupt passiert?« Er wies mit dem Zeigefinger auf ihr Gipsbein.
»Das ist eine lange Geschichte. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass der Kapitän unseres Fischerboots ein Idiot und ich ein Tollpatsch war.«
Gators Grinsen war gekünstelt. »Damit erzählst du mir nichts Neues«, erwiderte er und fügte hinzu: »Muss jetzt los. Irgendwo in dieser Stadt gibt es doch bestimmt eine Frau, die darauf brennt, mich kennen zu lernen.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, flüsterte Melanie, nachdem er gegangen war.
»Erklär mir noch einmal, warum ich so dringend hierher zurückkommen wollte«, bat Sam.
»Er ist nur sauer, weil man überlegt, seine Sendung zu verkürzen, um deine zu verlängern. Das ist der pure Neid.«
Sam konnte es Gator nicht einmal verübeln. Früher war er der Morgenshow-Moderator gewesen, war dann mit »Unterwegs um fünf« auf den Nachmittag und schließlich auf den frühen Abend geschoben worden. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass er langsam, aber sicher ausgemustert wurde. Im Augenblick bekam sie dank der Beliebtheit ihrer »Mitternachtsbeichte« den größten Teil seines fehlgeleiteten Zorns zu spüren.
»Ich sollte mich wohl lieber wieder an die Arbeit machen.« Sam kam mühselig auf die Füße und spürte einen schmerzhaften Stich in ihrem Knöchel, den sie jedoch ignorierte. »Danke, dass du während meiner Abwesenheit für mich eingesprungen bist!«
»Gern geschehen.« Melanies goldene Augen wurden ein bisschen dunkler. »Es hat mir Spaß gemacht.«
»Du bist ein Naturtalent.«
Das Mädchen seufzte und trat gemeinsam mit Sam hinaus auf den Flur. »Ich wollte, die maßgeblichen Kräfte würden meine Begabungen zu würdigen wissen.«
»Das werden sie schon noch. Hab Geduld. Und mach deinen Doktor. Der Bachelor in Psychologie reicht nicht.«
»Ich weiß, ich weiß. Danke für den guten Rat, Mom«, sagte sie mit einer Spur von Neid.
Melanie war großartig am Mikrofon, sie brauchte nur noch etwas Reife, mehr Lebenserfahrung und die richtigen Ausbildungsnachweise. Urlaubsvertretung war die eine Sache; eine eigene Sendung war etwas anderes.
»Hat sich irgendwas Weltbewegendes ereignet, während ich im Urlaub war?«, fragte Sam, um das heikle Thema zu beenden.
»Nichts. Hier war es stinklangweilig.« Melanie zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck Kaffee.
»In New Orleans ist es niemals langweilig.«
»Aber im Sender. Immer das Gleiche. Man munkelt, dass WSLJ an einen großen Konzern verkauft werden oder mit einem Konkurrenten fusionieren soll.«
»Das munkelt man immer.«
»Dann würde eine große Umstrukturierung stattfinden. Sämtliche DJs flippen bei dem Gedanken aus, weil sie dann durch Computer ersetzt würden oder durch Konsortialprogramme aus Timbuktu oder Gott weiß, woher.«
»Das hört wirklich nie auf«, stellte Sam fest.
»Aber dieses Mal steckt mehr dahinter. George spricht davon, eine gehörige Summe in die Computerausrüstung zu investieren, Arbeitsplätze zu streichen, mehr Sendungen aus der Konserve zu bringen. Melba ist begeistert, ach was, sie kriegt beinahe einen Orgasmus bei der Vorstellung einer Mailbox, und Tiny findet die Idee genial. Je mehr Hightechkram, desto besser.«
»Das ist der Odem der Zukunft«, bemerkte Sam zynisch. Die Aufgaben der Diskjockeys wurden mehr und mehr von Computern übernommen, genauso, wie die CD das Tonband und die Schallplatte verdrängt hatte. Die LP- und Singlesammlungen der Rundfunkstation setzten in einem verschlossenen Glaskasten Staub an und wurden nur von Ramblin’ Rob, dem verknöcherten ältesten DJ im Gebäude, gelegentlich abgespielt. »Damit handle ich mir Riesenärger ein«, sagte er dann immer und lachte, heiser von jahrelangem Zigarettenkonsum. »Aber sie wagen es nicht, mich zu feuern. Die Gewerkschaft, der Gouverneur und Gott selbst würden diesen Laden dichtmachen, wenn sie das wagen sollten.«
Melanie folgte Samantha den Flur entlang. »Die Sendung zu schmeißen, war das einzig Interessante hier.«
»Alles Lüge«, sagte Melba im Vorbeigehen und nahm ihre Jacke von der Garderobe in einer Nische bei den Büros. »Lass dir von ihr keinen Quatsch erzählen.« Sie zog ein wenig die eleganten Augenbrauen hoch. »Unser Küken hat einen neuen Mann an ihrer Seite.«
Melanie wurde rot und verdrehte die Augen.
»Ist das wahr?«, fragte Sam, bog um die Ecke und eilte durch die Tür ins Studio. Die Information über das Liebesleben ihrer Assistentin war nun wirklich keine Schlagzeile wert. Melanie hatte alle vierzehn Tage einen neuen Freund – so kam es ihr zumindest vor.
»Diesmal ist es was Ernstes.« Melba erschien im Türrahmen und klemmte sich ihren Schirm unter den Arm. »Glaub mir, das Mädchen ist verliiiebt.«
»Wir haben uns nur ein paar Mal getroffen, mehr nicht.« Melanie spielte mit dem Kettchen an ihrem Hals. »Nichts Besonderes.«
»Aber du magst ihn?«
»Bis jetzt.«
»Kenne ich ihn?«
»Nein.« Melanie schüttelte den Kopf und schlüpfte in die Kabine neben Sams. »Ich fange an, die Anrufe zu filtern«, sagte sie, während sich Sam auf ihrem Stuhl niederließ und das Mikrofon ausrichtete. Sie überprüfte ihren Computerbildschirm. Mit leichtem Fingerdruck auf den jeweiligen Button auf dem Monitor konnte sie einen vorher aufgenommenen Werbespot, die Titelmusik oder den Wetterbericht aufrufen. Sie stülpte sich die Kopfhörer über die Ohren, und Melanie nickte ihr zu, um ihr zu bedeuten, dass die Telefonleitungen funktionierten und die Verbindung zum Computer hergestellt war.
Sam wartete bis zum Ende des dreißig Sekunden dauernden Werbespots für einen ortsansässigen Kfz-Händler, dann berührte sie einen Button, und die ersten paar Töne von »A Hard Day’s Night« von den Beatles erklangen und verhallten. Sam beugte sich übers Mikrofon. »Guten Abend, New Orleans, hier ist Dr. Sam. Ich bin zurück. Und ihr hört ›Mitternachtsbeichte‹, hier auf WSLJ. Wie ihr vermutlich wisst, habe ich mir einen kleinen Erholungsurlaub in Mexiko gegönnt. In Mazatlán, genauer gesagt.« Sie stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und behielt den Bildschirm im Auge. »Es war wunderschön dort, sehr romantisch, wenn man in der richtigen Stimmung war, aber statt euch jetzt einen detaillierten Reisebericht vorzulegen, dachte ich mir, wir fangen mit einem leichten Thema an, damit ich mich wieder eingewöhne. Wir könnten die Diskussion heute Abend vielleicht mit dem Thema Urlaub eröffnen: wie stressig Urlaub sein kann, wie erholsam er eigentlich sein sollte, an welchen Orten ihr gern mit eurem Liebsten relaxt. Ruft an und erzählt mir, wo ihr wart und wie es euch gefallen hat. In Mazatlán war es jedenfalls heiß, heiß, heiß; jede Menge heiße Sonne und heißer Sand, viele Pärchen, die am Strand spazieren gingen. Palmen, weißer Sand, Piña Colada, alles, was das Herz begehrt. Und die Sonnenuntergänge waren zum Sterben schön …«
Sie sprach noch ein paar Minuten lang über Urlaub zu zweit, nannte dann die Telefonnummer, bat die Hörer anzurufen und wartete auf eine Meldung. Durch die Trennscheibe hindurch sah sie, wie Melanie, die Kopfhörer auf den Ohren, nickte. Die Kontrolllämpchen der Telefonleitungen begannen zu leuchten. Es ging los.
Der Name des ersten Anrufers, Ned, erschien neben Leitung eins auf dem Bildschirm; auf Leitung zwei war jemand mit dem Namen Luanda. Sam drückte den ersten Button und sagte: »Hi. Hier ist Dr. Sam. Mit wem spreche ich?«
»Hier ist Ned.«
Der Typ wirkte nervös.
»Ich, äh, ich freue mich, dass du wieder da bist. Ich höre mir immer deine Sendung an, und … und ich muss sagen, ich habe dich vermisst.«
»Danke.« Samantha lächelte leicht und versuchte, dem Mann die Scheu zu nehmen. »Tja, Ned, was willst du berichten? Warst du kürzlich in Urlaub?«
»Ja, äh, ich bin mit meiner Frau nach Puerto Rico gefahren, das war vor etwa zwei Monaten, und … na ja, es war so eine Art Wiedergutmachung … du weißt schon.«
»Wiedergutmachung wofür?«, hakte sie nach.
»Na ja, ich war mit einer anderen zusammen, und ich und meine Frau, wir hatten uns für eine Weile getrennt … Und da dachte ich, ich überrasche sie mit einer Reise in die Karibik, weißt du, um vielleicht doch alles wieder ins Lot zu bringen.«
»Und was ist passiert, Ned?«, fragte Sam, und stockend schüttete ihr der Mann sein Herz aus. Ein typischer Midlifecrisis-Seitensprung. Sein zweiter, gestand er, aber er liebe seine Frau, oh, sie sei die Allerbeste, eine warmherzige Frau, mit der er seit zwölf Jahren verheiratet sei. Doch in Puerto Rico hatte sie es ihm heimgezahlt. Hatte sich einen Latinlover gesucht und vor Neds Augen mit ihm herumpoussiert. Ned war gekränkt. Was hatte sie sich dabei gedacht? Der romantische Urlaub war schließlich zur Katastrophe geworden.
»Und was hast du jetzt für ein Gefühl?«, fragte Sam und sah, dass Luandas Name vom Bildschirm verschwunden war. Sie hatte offenbar keine Lust mehr gehabt zu warten und aufgelegt. Doch auf Leitung drei war jetzt jemand mit Namen Bart.
»Ich bin tief verletzt und sauer«, sagte Ned. »Stinksauer sogar. Für den Urlaub habe ich zweitausend Dollar ausgegeben!«
»Also hast du das Geld und deine Frau verloren. Was glaubst du selbst, warum hast du dich überhaupt mit diesen anderen Frauen eingelassen?«, wollte Sam wissen.
Die Kontrolllämpchen der Leitungen begannen zu blinken wie ein Weihnachtsbaum. Die Leute brannten darauf, sich zu Neds Story zu äußern oder ihre eigene zu erzählen und Sams Meinung dazu zu hören. Kay war auf Leitung zwei, Bart auf der drei und, oh, da war Luanda wieder, auf Leitung vier.
Sam redete noch eine Weile lang mit Ned, erklärte ihm die uralte menschliche Gewohnheit, mit zweierlei Maß zu messen, dann wandte sie sich Kay zu, einer boshaften Frau, die Ned und jeden anderen Mann, der seine Frau betrog, in den heißesten Winkel der Hölle wünschte. Sam konnte sich bildlich vorstellen, dass sie vor Wut Schaum vor dem Mund hatte. Danach lauschte sie Bart, dessen Freundin mit ihm nach Tahiti gereist war und nun nicht mehr heimkommen wollte.
Diese und ähnliche Geschichten, Zorn, Gelächter und Verzweiflung knisterten durch den Äther. Sam unterbrach die Anrufe durch das Einblenden von Werbespots und Wettervorhersagen sowie das Versprechen, Nachrichten zwischenzuschalten, falls welche vorlägen. Die Zeit verflog, und mit jeder Minute fühlte sich Sam mehr in ihrem Element. Während sie mit ihren Hörern redete, verblassten die flüchtigen Gedanken an die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter und das verunstaltete Foto.
Sie war schon fast drei Stunden lang auf Sendung, hatte ihre Cola ausgetrunken, bereits die zweite Tasse Kaffee vor sich und stand kurz davor, zum Schluss zu kommen, da nahm sie noch den Anruf eines Mannes entgegen, den der Computerbildschirm als John auswies.
»Hier ist Dr. Sam. Wie geht es dir heute Abend?«
»Gut. Mir geht’s gut«, meldete sich eine glatte Männerstimme.
»Wie heißt du?«, fragte sie um der Hörer willen.
»John.«
»Hi, John, worüber möchtest du reden?« Sie griff nach ihrer Kaffeetasse.
»Beichte.«
»Gut.«
»So heißt deine Sendung.«
»Ja. Nun, John, was beschäftigt dich?«
»Du kennst mich.«
»Ich kenne dich? Woher?«
»Ich bin der John aus deiner Vergangenheit.«
Sie spielte mit. »Ich kenne eine Menge Johns.«
»Darauf möchte ich wetten.«
Schwang etwas wie Missbilligung oder Herablassung in seiner Stimme? Zeit, die Sendung zu Ende zu bringen. »Möchtest du heute Abend über etwas Bestimmtes sprechen, John?«
»Über Sünden.«
Beinahe hätte sie ihre Tasse fallen lassen. Das Blut gefror ihr in den Adern. Die Stimme – es war die gleiche Stimme wie auf ihrem Anrufbeantworter! Die Sicherheit, in der sie sich den ganzen Abend über gewiegt hatte, war dahin. »Über welche Art von Sünden?«, presste sie hervor.
»Über deine.«
»Meine?« Wer war der Kerl? Sie musste ihn aus der Leitung bekommen, und zwar schnell.
»Menschen werden für ihre Sünden bestraft.«
»Wie?«, fragte sie. Ihr Puls raste. Sie warf einen Blick zu Melanie hinüber. Diese schüttelte den Kopf. Als die Anrufe von ihr gefiltert worden waren, hatte John ihr gegenüber offenbar ein anderes Thema angeführt.
»Du wirst es sehen«, sagte er.
Sam gab Melanie ein Zeichen, in der Hoffnung, das Mädchen würde verstehen, dass sie schnellstens das Gespräch beenden musste. Am besten sofort. Sie war jetzt vollkommen überzeugt, dass dieser Kerl derjenige war, der die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatte.
»Vielleicht sollte ich bereuen«, sagte sie mit zum Zerreißen gespannten Nerven, während sie auf Zeit spielte.
»Natürlich musst du bereuen. Beichte, Samantha. Mitternachtsbeichte.«
O Gott, der Typ war vollkommen durchgeknallt. »Ich werde mir den Rat zu Herzen nehmen.«
»Das wäre sehr klug, Sam. Denn Gott weiß, was du getan hast, und ich weiß es auch.«
»Was ich getan habe?«
»Ganz recht, du heißblütige Schlampe. Wir wissen beide …«
Sam unterbrach die Verbindung. Aus den Augenwinkeln sah sie Melanie auf der anderen Seite der Scheibe wild auf die Uhr zeigen. Nur noch zwanzig Sekunden bis zum Ende der Sendung. Die Kontrolllampen blinkten wie wild. »Für heute ist unsere Zeit abgelaufen«, sagte Sam um Fassung bemüht. Als sie den Button drückte, der die Schlussmusik aufrief – die Grass Roots mit dem Stück »Midnight Confessions« –, schlug ihr Herz einen wilden Trommelwirbel. Irgendwie fiel ihr das Abschiedswort noch ein, ihr Markenzeichen. Nachdem die ersten Akkorde verklungen waren, sagte sie: »Hier ist Dr. Sam mit einem letzten Gruß … Gib auf dich Acht, New Orleans. Gute Nacht euch allen, und Gott segne euch. Ganz gleich, was euch heute bedrückt, denkt daran, morgen ist ein neuer Tag … Träumt was Schönes …«
Sie spielte ein paar Werbespots ein, schob das Mikrofon von sich und rollte auf ihrem Stuhl zurück. Dann legte sie die Kopfhörer ab, griff nach ihrer Krücke, stand auf und schleppte sich, kurz vorm Hyperventilieren, aus der Kabine.
»Wie ist der Typ an dir vorbeigekommen?«, wollte Sam wissen, als Melanie aus ihrer Kabine auf den Flur trat.
»Er hat gelogen, wie sonst!« Melanie war hochrot im Gesicht; sie biss kampfbereit die Zähne zusammen. »Also, wo zum Teufel ist Tiny?« Sie stapfte den Flur auf und ab. »Ihm bleiben weniger als fünf Minuten, um ›Licht aus‹ zu starten!« Sie suchte mit den Augen den Flur ab.
»Vergiss Tiny. Wie war das mit dem letzten Anrufer?« Sam zitterte innerlich. Sie war wütend. Und verängstigt.
»Ich weiß es nicht.« Melanie hob gereizt die Hände. »Er … er hat mich reingelegt. Sagte, er wollte übers … Paradies reden … übers verlorene Paradies … Ich habe Mist gebaut, okay? Bitte schön, dann nagle mich doch ans Kreuz!«
Sam wand sich innerlich unter Melanies Wortwahl. »Biblische Anspielungen lässt du bitte bleiben!«
»Es ist ja vorbei! Es wird nicht wieder vorkommen! Ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut!«
»Nein, das hast du nicht. Und du hast wirklich Mist gebaut. Gerade solche Anrufe sollen herausgefiltert werden und …« Samantha sprach den Satz nicht zu Ende, denn ihr wurde klar, dass sie ohne triftigen Grund ihre Assistentin herunterputzte. Sie atmete tief durch und zwang sich, Ruhe zu bewahren. »Typischer Fall von Überreaktion meinerseits.«
»Amen. Ups, entschuldige. Keine biblischen Anspielungen.« Melanie kennzeichnete die letzten zwei Wörter mit in die Luft gemalten Anführungszeichen, und trotz ihrer Angst und ihrer Wut musste Sam lachen.
»Vergiss es.«
»Ich will’s versuchen.« Melanie hielt noch immer Ausschau nach Tiny, marschierte den schmalen Flur entlang, steckte den Kopf in die Räume, die nicht verschlossen waren, und rüttelte an den Klinken der verschlossenen Zimmer. »Tiny sollte allmählich antanzen …«
»Paradies«, sagte Sam zu sich selbst, da brach die Bedeutung der Worte, die der Anrufer Melanie gegenüber geäußert hatte, mit voller Wucht über sie herein. Sie lehnte sich schwer gegen die Glaswand, hinter der die alten LPs aufbewahrt wurden, Ramblin’ Robs Heiligtum. »Er hat nicht von einem romantischen Paradies geredet … Er bezog sich auf Miltons ›Das verlorene Paradies‹.«
»Wie?«
»Der Anrufer, er bezog sich auf Miltons Werk. Über die Vertreibung Satans aus dem Himmel.«
Melanie blieb wie vom Donner gerührt stehen. »Meinst du?« Sie zog fragend die Augenbrauen hoch. »Meinst du, er fährt auf alte Literatur ab?« Sie schien nicht daran zu glauben.
»Ja … Ganz sicher. Es geht um Sünde und Buße und Strafe«, erläuterte Sam, nicht gerade erfreut über die düstere Richtung ihrer Gedanken. Sie sah ihre Assistentin an und beschloss, offen zu reden. »Heute war nicht das erste Mal, dass der Typ Kontakt mit mir aufgenommen hat. Als ich im Urlaub war, hat er eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen.«
»Was?« Melanie vergaß auf der Stelle ihre Suche nach Tiny. »Als du in Mexiko warst?«
»Genau.«
»Aber … Moment mal, ich dachte, du hast eine Geheimnummer … Die steht nicht im Telefonbuch.«
»Nein, aber es gibt andere Möglichkeiten, sie herauszukriegen. Wir leben in einer Hightechwelt. Jeder kann in Datenbanken eindringen und Angaben finden, alles von Kreditkarten- bis zu Versicherungs- und Führerscheinnummern. Wenn man sich damit auskennt, ist es bestimmt nicht schwer, an eine Telefonnummer zu kommen.«
»Genauso, wie es nicht sonderlich schwer ist, den Anruffilter hier auszutricksen.« Melanies Augen trübten sich ein wenig. »Es tut mir leid, Sam«, sagte sie schließlich. »Er hat mich reingelegt.« Sie warf sich das Haar über die Schultern und fragte: »Dann hat sich dir also ein Verrückter an die Fersen geheftet? Oh, entschuldige, ich weiß, es ist heutzutage nicht politisch korrekt, so etwas zu sagen, aber dieser Typ scheint mir wirklich völlig neben der Spur zu sein.«
»Meine Spezialität. Weißt du, ich bin nämlich Seelenklempnerin.«
Schritte näherten sich. Tiny bog um die Ecke und wäre um ein Haar mit Melanie zusammengestoßen.
»Hey, pass doch auf«, giftete sie und durchbohrte ihn mit einem für sie typischen bösen Blick. »Uns bleiben nur noch ein paar Minuten bis zum Beginn von ›Licht aus‹. Wo zum Teufel hast du gesteckt?«
»Draußen.«
»Du solltest doch die Bandaufnahmen abspielbereit machen.«
»Keine Angst«, entgegnete Tiny über die Schulter hinweg. Seine Jacke war feucht, und als er zu der Kabine ging, die Sam eben verlassen hatte, zog er den Geruch von Zigarettenrauch hinter sich her. »Ich habe alles im Griff.«
»Deinetwegen kriege ich eines Tages noch einen Herzanfall.«
»Warum? Du bist doch nicht der Chefredakteur.«
»Das nicht, aber …«
»Lass gut sein, Melanie. Ich wiederhole: Ich habe alles im Griff.«
Tiny sah sie scharf an, und Melanie, die leicht aufbrauste, wollte gerade dazu ansetzen, ihm ihre Meinung zu sagen, begnügte sich dann jedoch mit einem: »Na schön, dann fang endlich an.«
Sam betrachtete das als ihr Stichwort zum Aufbruch. Sie war müde, gereizt, und ihr Knöchel begann zu schmerzen. »Wir sehen uns dann morgen«, sagte sie, humpelte zurück in das Gemeinschaftsbüro, holte ihren Regenmantel und die neue Handtasche und machte sich durch das Labyrinth von WSLJ hindurch auf den Weg zu den Aufzügen. Ihre Nerven waren noch immer zum Zerreißen gespannt, und das alte Gebäude mit den schmalen, verwinkelten Gängen, dem muffigen Geruch und den kleinen Bürokabinen erschien ihr unheimlicher, als sie es in Erinnerung hatte. »Reiß dich zusammen«, ermahnte sie sich selbst, als der Aufzug im Erdgeschoss anhielt. »Du bildest dir das alles nur ein.« Am Eingang zog sie ihre Karte durch das automatische Türschloss und trat hinaus in die schwüle Nacht von New Orleans.
Es war stickig und feucht. Ein paar Autos fuhren durch die engen Straßen, der Geruch des Flusses lag schwer in der Luft, und am Jackson Square spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen in den Palmwedeln. Trotz der späten Stunde waren noch Fußgänger unterwegs, und Sam fragte sich unwillkürlich, ob einer von ihnen der Anrufer, der »Verrückte« war, der Mann, dessen weiche Stimme ihr das Blut in den Adern gerinnen ließ.
Statt mit dem Gipsbein die paar Blocks bis zum Parkhaus zu humpeln, hielt Sam ein Taxi an und beobachtete während der kurzen Fahrt die Passanten, die auch zu nachtschlafender Zeit nie vollständig zu verschwinden schienen.
Ein Bürger dieser Stadt führt anscheinend einen ganz persönlichen Rachefeldzug gegen dich. Warum? Was sollst du bereuen? Wer zum Teufel ist er? Und die wichtigste Frage: Wie gefährlich ist er?
Sie lehnte sich im Sitz zurück und hoffte, dass die Sache mit dem Telefonat ausgestanden sei. Der Anrufer, John, hatte Kontakt mit ihr aufgenommen. Vielleicht ließ er sie jetzt in Ruhe.
Und doch musste sie während dieser Fahrt durch die dunklen Straßen der Stadt an das verstümmelte Foto denken, das jemand, wahrscheinlich dieser John, ihr geschickt hatte. Und sie wusste mit lähmender Sicherheit, dass die Geschichte erst ihren Anfang genommen hatte.